Lied des einfachen Menschen
Menschen sind wir einst vielleicht gewesenOder werden’s eines Tages sein,Wenn wir gründlich von all dem genesen,Aber sind wir heute Menschen? Nein!Wir sind der Name auf dem Reisepaß,Wir sind das stumme Bild im Spiegelglas,Wir sind das Echo eines PhrasenschwallsUnd Widerhall des toten Widerhalls,Längst ist alle Menschlichkeit zertreten,Wahren wir doch nicht den leeren Schein!Wir, in unsern tiefentmenschten Städten,Sollen uns noch Menschen nennen? Nein!Wir sind der Straßenstaub der großen Stadt,Wir sind die Nummer im Katasterblatt,Wir sind die Schlange vor dem StempelamtUnd unsre eignen Schatten allesamt.Soll der Mensch in uns sich einst befreien,Gibt’s dafür ein Mittel nur allen:Stündlich fragen, ob wir Menschen seien,Stündlich uns die Antwort geben: Nein!Wir sind das schlecht entworfne SkizzenbildDes Menschen, den es erst zu zeichnen gilt.Ein armer Vorklang nur zum großen Lied.Ihr nennt uns Menschen? Wartet noch damit!
Jura Soyfer, der 1912 als Sohn einer bürgerlichen jüdischen Familie in der Ukraine geboren wurde, die 1920 über Istanbul nach Wien geflüchtet war, entwickelte sich Anfang der Dreißigerjahre zu einem der bedeutendsten linkssozialdemokratischen Autoren und Autorinnen Österreichs. Seine kurzen Theaterstücke wurden auf Kleinkunstbühnen in Wien und Budapest aufgeführt, seine Lyrik und Prosa erschien in österreichischen, deutschen und britischen Zeitschriften. Jura Soyfers Werk ist jedoch nicht nur von der ArbeiterInnenbewegung, sondern insbesondere von einem revolutionären Humanismus geprägt, den er Faschismus und Nationalsozialismus entgegenstellte. Dieser Humanismus Soyfers war nicht nur eine moralische Kategorie, sondern eng mit einer marxistischen Analyse verbunden. Nach seinem Bruch mit der österreichischen Sozialdemokratie wurde Soyfer nicht zum Parteisoldaten einer neuen Partei, sondern zum unabhängig denkenden Kommunisten, dessen Überzeugung auch in seinen Werken nach dem gescheiterten Februaraufstand der österreichischen ArbeiterInnen ihren Niederschlag findet. Seine Werke sind damit nicht nur literarische Dokumente ihrer Zeit, sondern darüber hinaus literarische Verarbeitungen eines antifaschistischen Kommunismus, der nichts an seiner Aktualität eingebüßt hat. Seinen persönlichen Kampf gegen den Nationalsozialismus sollte Jura Soyfer nicht überleben. Er wurde am 13. März 1938 bei seiner Flucht in die Schweiz widerrechtlich von österreichischen Zöllnern verhaftet. Im Konzentrationslager Dachau schrieb Soyfer seinen heute bekanntesten Text, das Dachaulied. In der neuen vierbändigen Werkausgabe sind neben seiner Prosa, Lyrik und Dramatik auch seine Briefe von 1931 bis zu seinem Tod am 16. Februar 1939 im Konzentrationslager Buchenwald vereint.
Jura Soyfer: Werkausgabe Wien / Frankfurt am Main, Deuticke 2002, ISBN 3-216-30658-5 bis 3-216-30661-5, EUR 74,90