MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 48
Helmut Weihsmann
Kornhäuselturm

Junggesellenmaschine im Wiener Nutzstil

Josef Kornhäusel (1782-1860), berühmter Architekt des Wiener Biedermeier, leitete mit kubischer, zweckorientierter Nüchternheit die Wiener Avantgarde ein. Ohne ihn wäre das Phänomen der „Wiener Moderne“ von Otto Wagner, Josef Hoffmannn bis zu Adolf Loos undenkbar gewesen.

Josef Kornhäusel: Turmatelier 1824, Fleischmarkt 1b

Wien um die Jahrhundertwende. Im ältesten Stadtteil werden Abbrucharbeiten durchgeführt, ein eigenartiges Bauwerk rückt ins Blickfeld. Kahl, kubisch und nur mit kleinen Fensteröffnungen versehen, zog der „Wartturm“ des Architekten Josef Kornhäusel sofort das öffentliche Interesse auf sich.

Nicht nur sein völlig andersartiges Aussehen — er ähnelt einem gotischen Geschlechterturm oder einem Golem-Motiv aus der mittelalterlichen Sage des jüdischen Ghettos —, auch die vielen geheimnisvollen Legenden um seinen Erbauer, diesen versponnenen, im Gedächtnis der Nachwelt als schwierig geltenden Menschen, machen dieses eigenwillige Bauwerk einerseits zum Symbol der „Fluchtburg“ und geben ihm andererseits den Status des Mysteriösen, zumindest eine Sonderstellung innerhalb der Wiener Architektur des Klassizismus. Zudem steht das Bauwerk tatsächlich auf dem alten Boden des Wiener Judenviertels, was seine Bedeutung unterstreicht.

Wurzeln von Loos und Wagner

Den romantischen Neigungen des Stileklektizismus abgeneigt, schuf Josef Kornhäusel eine klassizistische Variante zu den späteren überladenen Bauten der Ringstraßenarchitektur, in der bereits die Vorahnung einer modernen Baukunst keimte.

Besonders der schmucklose „Kornhäuselturm“ spielt hinsichtlich der Stilgenese des Jugendstils und der Wiener Moderne um 1900 eine bescheidene, aber doch sehr bestimmende Rolle als Vorbote der Avantgarde. Seine schlichte Bauweise erscheint heute weit moderner als die auf den Klassizismus folgenden Bauten des Romantischen Historismus. Im 19. Jahrhundert bald vergessen, wirkt Kornhäusel am Beginn des 20. Jahrhunderts umso virulenter.

Die kubische und extrem nüchterne Zweckarchitektur seiner Zinsbauten bildet hier das Paradigma zur theoretischen und philosophischen Konzeption der Schulen Wagners und Loos’. Anknüpfend an Kornhäusels funktionalistischem Bestreben nach Wirtschaftlichkeit und puristischen Ausdruck, schuf Adolf Loos das umstrittene Wohn- und Geschäftshaus „Goldmann & Salatsch“ am Michaelerplatz.

Kornhäusels Schicksal ist eng mit seinem Turmbau verbunden. Hoch oben über dem vierten Geschoß beginnt der fünfstöckige „Kornhäuselturm“, letzte Zufluchtsstätte des Sonderlings, in der er am 31. Oktober 1860 — unbeachtet von der Mitwelt — starb. Zurückgezogen, sich selbst zum Einzelgänger erklärend, brach er jeglichen Kontakt mit der Aussenwelt ab. Dadurch provozierte er, wurde zum sozialen „Aussteiger“ und Fremdling. Eigenbrötlerisch und arm an aufsehenerregenden Erlebnissen verlief sein Leben.

Kornhäusel vertritt mit seinem Atelierturm eine bürgerliche Richtung der Askese, der geistigen wie ökonomischen Enthaltsamkeit. Der Gesamteindruck der Architektur ist äußerste Kargheit, ja sogar eine gewisse Rohheit, Knappheit und Kantigkeit.

Kornhäusels rücksichtslose Ehrlichkeit im Ausdruck zeigt sich in der Radikalität, mit der er Elemente entkleidet. Er drückt bereits jene ernüchternde Kälte und Geradheit aus, der man spätestens in der Modernen Architektur begegnet. Sicherlich trug ein Anflug von puritanischer Gesinnung und Form-Extremismus zu der Entscheidung für einen schlichten, glatt verputzten Turmbau um den wenig frequentierten Lichthof des Miethauses der verschwägerten Familien Kornhäusel und Jäger bei.

Ordnung statt Ornament

Trotz bescheidener Gestaltungsqualitäten am Objekt selbst vermitteln die vorhandenen Pläne, worum es Kornhäusel offensichtlich ging: um klare Ordnungsprinzipien bei der Grundrißgestaltung (halbrund und Dreieck) und um Vereinheitlichung des Baukörpers. In diesem Sinne fällt die starke Zurückhaltung in der Gliederung ebenso auf wie die Detailausbildung der einzelnen Fassadenteile. An der Hofseite ist das untere Atelierfenster stark abgemauert. Kornhäusel — so wird überliefert — führte es in der Absicht durch, „damit die Zeichner nicht durch die Ausblicke auf die Stadt von ihrer Arbeit abgelenkt wurden“. Das Bauwerk ist auch ohne Gesimsabschluß geblieben. Offensichtlich ging es ihm um die reine Form.

Einen zeitlichen Vorgriff auf die Moderne Architektur bildet das „begehbare“ Dach. Kein Flachdach, wie anzunehmen wäre, sondern ein Satteldach mit einem bemerkenswerten Lattenrost. Im Zuge der Renovierung wurde es durch eine moderne Flachdachausbildung ersetzt. Kornhäusel widersetzte sich ausdrücklich der „unnötigen“ Verwendung von Ornamenten und sah die klassische Ordnung als ein Mittel zur Zurückweisung des Historismus.

Konstruktionsprinzip bzw. -logik waren für ihn Maxime, er suchte keine „malerischen“ Lösungen. Josef Kornhäusels Anliegen oder (gescheiterter) Versuch war es, die gleichen konstruktiven Prinzipien und moralischen Imperative in seiner Architektur durchzusetzen, die anderswo — z.B. parallel in der sog. „Ingenieursbaukunst“ des früheren 19. Jhdts. — bereits existierten, aber noch keinen (akademischen) Eingang in die Architektur gefunden hatten. Sichtbare Eisenkonstruktion mit Eisengelenken als Zugbrücke im Stiegenaufgang zur Aussichtsterrasse oder freigelegte Eisenträger an der Fassade (unterhalb der Lichthoffenster), die wohl einen hölzernen Umgang trugen, sind nur Symptome dieser Bestrebungen.

Die Verwendung von nacktem Eisen in einem eleganten Wohnhaus war weder von der Funktion her unbedingt „notwendig“ noch entsprach die sehr primitive Ausführung dem damaligen Stand der technischen Methoden (z.B. Vorfertigung), die aus bestimmten Verhältnissen und Notwendigkeiten der industriellen Revolution heraus entwickelt worden waren. Die geistige Haltung war jedoch von strengen Prinzipien und Forderungen einer rationalen Zweckarchitektur bestimmt.

Es verblüffen nicht nur die schematischen Aspekte eines frühausgeprägten technischen Funktionalismus, auch die mechanische Herstellung eines Kleinaufzuges vom Erdgeschoß des Hauses bis zum 4. Turmgeschoß enthält Avantgardistisches.

Der Kornhäuselturm,
vom Fleischmarkt gesehen, z.Zt. des Abbruchs vom „Dreifaltigkeitshof“ 1910
Bild: Österr. Nationalbibliothek, Bildarchiv

Alchemistisches Laboratorium

Wissenschaft und Okkultismus scheinen bei Kornhäusel, einem erklärten Romantik-Gegner, überraschend eng zusammenzuhängen. War er Mystiker und Sternengucker? Oder bloß verrückt? Die Höhe der Baustruktur und die großartige Aussicht mitten in der Inneren Stadt lassen auf ein Observatorium schließen. Ist es blinder Zufall, daß Adalbert Stifter die totale Sonnenfinsternis anno 1842 von dieser Warte aus beschrieb?

Selten ist das Werk eines der bekannteren Architekten Wiens in der Beurteilung so schwierig und rätselhaft wie der „Kornhäuselturm“, da er sich den gebräuchlichen Methoden (Stilanalyse) der formalen Kunstwissenschaft entzieht. Die übliche Reduzierung auf einen „kubischen“ Stil innerhalb der Biedermeierarchitektur — und damit Kornhäusel als einen „Revolutionsklassizisten“ abzustempeln — macht den jeweiligen Stellenwert von Werk und Person allzuleicht einorden- und festlegbar.

Diese reduzierte Betrachtungsweise sollte vielmehr entzerrt und das Unikum in seiner völligen Originalität betrachtet werden, selbstverständlich in seinem jeweiligen bau- und kulturhistorischen Kontext.

Auf der Spur des Verschlossenen, des Geheimnisses, erweist es sich als notwendig, das begrenzte Feld der Kunst- und Architekturtheorie zu verlassen und den Blick auf eine entsprechende Geisteswissenschaft — wie etwa auf Strukturalismus oder Psychologie — zu erweitern. Gerade diese Disziplinen könnten Einblick in die Struktur der eigenen Forschung über Phänomene der Architektur geben. In diesem Sinne kann dieses Baudenkmal Schweigen brechen und innere Vorgänge offenlegen, die sich bislang hinter glatten Ziegelwänden versteckten.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1990
, Seite 56
Autor/inn/en:

Helmut Weihsmann:

Architekturhistoriker und Lehrbeauftragter an der Wiener Hochschule für Angewandte Kunst.

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Geographie