Context XXI » Print » Jahrgang 2006 » Sondernummer 1/2006
Danny Leder

Juden und Moslems in Frankreich: eine gefährliche Nachbarschaft?

Die meisten antijüdischen Vorfälle, die in den Jahren 2000 bis 2005 in Europa, parallel zur zweiten palästinensischen Intifada, registriert wurden, ereigneten sich in Frankreich. Kein anderes Land Europas zählt auch derartig viele Moslems/Muslima (annähernd fünf Millionen) und Juden/Jüdinnen (rund 600.000). Beide Bevölkerungsgruppen stammen mehrheitlich aus Frankreichs Ex-Kolonien im Maghreb, dem arabischen Nordwestafrika, und leben auch heute noch, oft Tür an Tür, in den Migrantenvierteln und städtischen Randzonen Frankreichs.

Der überwiegende Teil der Übergriffe gegen Juden/Jüdinnen wurde von Jugendlichen aus moslemischen Einwandererfamilien aus Nord- und Schwarzafrika verübt. Diese Taten ereigneten sich in einer Grauzone zwischen emotionaler Strahlwirkung des Nahost-Konflikts, radikal-islamischer Propaganda, archaischer, aus dem Maghreb herrührender Stigmatisierung der Juden/Jüdinnen, sozial-familiärer Verwahrlosung und Jugendgewalt in sozialen Krisenzonen.

Nach einer anfänglichen Phase des Zögerns und der Hilflosigkeit reagierten Frankreichs Staatsführung und Behörden besonders energisch auf antijüdische Übergriffe, woraufhin 2005 ein merklicher Rückgang dieser Taten verzeichnet wurde. Dabei dürfte allerdings auch die zeitweilige und bruchstückhafte Entspannung im Nahost-Konflikt rund um den israelischen Rückzug aus Gaza eine Rolle gespielt haben.

Die Geschehnisse in Frankreich, dem bedeutendsten europäischen Schmelztiegel der Juden/Jüdinnen aus Ost/Mitteleuropa und dem islamischen Raum, werfen auch ein neues Schlaglicht auf das Schicksal des maghrebinischen Judentums. Dieses stellt mit seiner Jahrtausende alten Geschichte und massiven Folgepräsenz in Israel und Frankreich den zweiten, großen Strang der jüdischen Weltbevölkerung der Neuzeit dar – ein oft kulturell unterschätzter Quasi-Zwilling des osteuropäischen Judentums. Während die wenigen, noch in Tunesien, Marokko und Algerien verbliebenen Juden/Jüdinnen kaum über Zukunftsperspektiven verfügen, haben die jüdischen Einwanderer aus dem Maghreb dem französischen Judentum neue Vitalität verliehen. Neuerdings aber fühlen sich viele dieser jüdischen Familien, inmitten der moslemischen Einwanderer, als eine bedrängte Minderheit in der Minderheit.

Die meisten Bedrohungsszenarien an der Schnittstelle zwischen moslemischem Judenhass und immer frenetischerer Jugendgewalt, die sich Juden ausgemalt hatten, wurden freilich jetzt, im Februar 2006, mit der dreiwöchigen Entführung und qualvollen Ermordung des 24jährigen Ilan Halimi durch eine Bande junger Vorstädter noch übertroffen.

Die vorangegangene Entwicklung wird hier aus der Sicht des Frankreich-Korrespondenten der österreichischen Zeitung KURIER, Danny Leder, beleuchtet, der seit 1982 in Paris lebt und aus einer Wiener jüdischen Familie stammt. Der folgende Text ist die aktualisierte und ergänzte Version eines Vortrags, den Danny Leder im Vorjahr im Wiener Jüdischen Museum gehalten hatte.

Die maghrebinischen Juden in Frankreich – eine domestizierte Arabität

In den ersten Jahren, die ich in Paris zubrachte, hatte ich eine gewisse Erleichterung verspürt. Einer der Gründe war die beachtliche, scheinbar ungenierte Präsenz von Juden im Alltag. Da gab es eine Form von jüdischer Unbeschwertheit und Selbstverständlichkeit, die ich zuvor, während meiner Jugend in Österreich, nie gekannt hatte.

In den Pariser Vierteln, in denen ich verkehrte, gab es etliche jüdische Wirtshäuser und Kneipen, die demonstrativ den Davidstern auf der Fassade hatten. Mezuzzen, also der jüdische Haussegen, hingen an den Eingängen vieler Straßenlokale, seien das nun Zeitungsläden, Schlosserbetriebe, Reisebüros oder Klempner. In Sozialsiedlungen stieß man meistens auf einen deutlich gekennzeichneten koscheren Metzgerladen, Kinder mit Käppchen oder Davidstern liefen einem häufig über den Weg. Die Hausparteien hatten meistens auch Mezzuzen an ihren Eingangstüren im Stiegenhaus.

Schrittweise entdeckte ich, dass die überwiegende Zahl dieser Juden aus Nordafrika stammte. Es gab damals so etwas wie einen kleinen Modetrend in Frankreich, der sich in Medien, in Filmen oder im Repertoire von Pariser Kleinbühnen manifestierte und den vorgeblichen Humor, die Lebensfreude, die pittoresken Eigenarten der jüdischen Familien aus dem Maghreb zelebrierte. Da wurden Klischees bedient und ein gehöriges Maß an Kitsch produziert, das war zum Teil peinlich, zum Teil aber wiederum für Menschen aus jüdischen Familien auch schmeichelhaft.

Das Bild des maghrebinischen Judentums, das man damals verbreitete, verstrahlte anheimelnde Exotik. Namentlich die Juden aus Tunesien wurden als draufgängerisch und findig dargestellt und mit einem Schuss vorgeblich mediterraner Schlitzohrigkeit ausgestattet. Höhepunkt dieser Welle war ein Film, der unter den jüdischen Grossisten im Pariser Textil-Viertel Sentier spielte. Der Streifen („La Vérité si je mens“, Regie Thomas Gilou) von dem auch eine Fortsetzung produziert wurde, erwies sich Ende der Neunziger Jahre als Kassenschlager. Es war einer der erfolgreichsten jemals in Frankreich gedrehten Filme.

Vor allem hatte der Traditionalismus dieser Juden aus Tunesien etwas Augenzwinkerndes an sich, er schien ohne Entsagung und Trübsal auszukommen. Ihre Religiosität wirkte undogmatisch und trotzdem demonstrativ. Man hatte auch nicht den Eindruck einer gekünstelten Spurensuche, das konfessionelle Brauchtum floss geradezu aus der Lebensgeschichte dieser Familien heraus.

Der nahe liegende Grund: es handelte sich meistens um Einwanderer der ersten Generation, also Leute, die noch ihre Ursprungskultur mitbrachten, was ja bei den Kindeskindern der aus Osteuropa eingewanderten Juden nicht mehr der Fall sein konnte. Auch waren die Juden des Maghrebs meistens nicht direkt oder zumindest nicht in vollem Ausmaß mit der Vernichtungsmaschinerie der Nazis in Berührung gekommen.

Es gab da ein gegenseitiges Verschaukeln zwischen Juden europäischer Provenienz und denen aus Nordafrika. Für die maghrebinischen Juden waren die Europäer höchst respektable Persönlichkeiten, aber auch wiederum tragische Figuren, dauertraurig und mit Komplexen beladen. Für diese Trauerminen der Juden aus Europa hatten die Juden aus Nordafrika natürlich vollstes Verständnis – siehe Holocaust, aber unterschwellig kam dann doch heraus, dass wenn man unter der strahlenden Sonne Afrikas aufgewachsen war, wie eben die Juden des Maghreb, wenn man in seiner Kindheit an den Stränden des Mittelmeers gebadet hatte, also wenn man feuchtkalte Schtetln nur vom Hörensagen kannte, dass man dann das Leben auch ungenierter und lustvoller, eben von seiner Sonnenseite her anging. Den Juden aus Europa wurde zugestanden, dass sie viel gelitten und Großes geleistet hatten, aber die Juden aus dem Maghreb hielten sich doch zugute, dass sie den glücklicheren Menschenschlag beziehungsweise Juden-Schlag verkörperten.

Ältere Europäer revanchierten sich, indem sie über die angeblich südländische Unzuverlässigkeit, den Akzent und die Lautstärke ihrer maghrebinischen Glaubensbrüder die Nase rümpften. Diese Form der gegenseitigen Klassifizierung ist heute freilich kaum mehr spürbar. Die Situation, die man bruchstückhaft aus Israel kennt, also wo die Juden aus dem Orient eine zweite Kategorie von Israelis bildeten zwischen den europäischen Einwanderern und den arabischen Einheimischen, dieses Bild vertrug sich nie mit der Realität in Frankreich.

Auch unter den Juden aus Nordafrika wirkten, versimpelt ausgedrückt, ein kollektives Bildungsethos und eine berufliche Dynamik, die sich unter ähnlichen Vorraussetzungen wie in Osteuropa entwickelt hatten – also im Wechselspiel von äußerem Druck und Diskriminierung, Suche nach ökonomischen Überlebensnischen und religiös-kultureller Selbstdefinition der jüdischen Gemeinschaften.

Die Juden Nordafrikas waren zum überwiegenden Teil bereits mit ihrer frankophonen und französischen Kultur nach Frankreich eingewandert. All diese Faktoren bewirkten, dass man heute, auch beim schlechtesten Willen, kein relevantes soziales oder bildungsmäßiges Gefälle zwischen jüdischen Familien aus Europa und aus Nordafrika konstatieren kann, ja dass diese Familien vielfach problemlos untereinander verschmolzen sind.

Juden aus nordafrikanischen Familien haben auch längst mit „europäisch-stämmigen“ Juden in prestigeträchtigen Berufen gleichgezogen, ob als TV-Stars, Schauspieler, Regisseure, Schriftsteller, Wissenschaftler, Ärzte, Politiker. Also unter den Promis aus jüdischen Familien, auf die man auch mal gerne verweist, die man zur Selbstspiegelung heranzieht, mit denen man, leihweise, sein Selbstwertgefühl aufzumöbeln sucht – ein Vorgang, den andere wiederum den Juden zum Vorwurf machen.

Eine Anekdote illustriert diese Entwicklung: das Amt des französischen Oberrabbiners wird jetzt schon seit längerem von Persönlichkeiten aus Nordafrika ausgeübt. Den „europäisch-stämmigen“ Juden blieb als Revanche nicht anderes übrig, als auf den vormaligen katholischen Erzbischof von Paris, Jean-Marie Lustiger, zu verweisen. Lustiger stammt aus einer jüdischen Familie aus Osteuropa und er soll, so lautete das Gerücht, Jiddisch sprechen.

Aber die Juden aus Nordafrika verkörperten bei aller erfolgreichen Integration auch eine Form von Arabität, wenn auch eine gemilderte, domestizierte Version, aber noch genügend urig und exotisch, um im französischen Alltag die Phantasie zu beflügeln. Und es stimmte auch, dass in den Migrantenvierteln jüdische Restaurants, Kneipen und Imbissstuben sowohl von Juden als auch Moslems besucht wurden und noch immer besucht werden. Bis in die Neunziger Jahre war es auch für Moslems durchaus üblich, in koscheren Restaurants zu speisen, weil es ursprünglich viel weniger Lokale in Paris und Umgebung gab, die Hallal-Fleisch führten, das von Schächtungen unter islamischer Kontrolle stammte. Auch beim Einkauf in Supermärkten mussten fromme Moslems oft mit koscheren Erzeugnissen Vorlieb nehmen, weil ja die Nahrungsregeln der jüdischen Religion den Speisevorschriften des Islams weitgehend entsprechen. Bei älteren Juden aus Tunesien erhielt sich Arabisch als Umgangsprache. Da lauschte man derselben orientalischen Musik, auf Barmizwen und jüdischen Hochzeiten spielte und spielt man arabische Evergreens. Das nordafrikanische Basis-Gericht aus Hirse, das Couscous, wurde anfänglich vor allem durch die jüdischen Restaurants in Paris verbreitet. Das Couscous hat auch als Symbolgericht der jüdischen Mutter am Schabbat-Abend in der heutigen Wahrnehmung in Frankreich die gefillten Fisch osteuropäischer Prägung längst abgelöst.

Islamisten orten „jüdische“ Regierungen in Frankreich und Algerien

Es schien also bis weit in die zweite Hälfte der neunziger Jahre hinein noch eine heile jüdisch-arabische Welt zu existieren. Das stimmte freilich nur zum Teil. Hinter der Fassade begann es zu brodeln, vielleicht hatte es auch immer schon gebrodelt.

Erstens hatte es bereits Zusammenstöße in Paris zwischen Juden und Arabern gegeben, etwa 1967, während des Sechstagekriegs. Aber das waren damals Zusammenstöße zwischen etwa gleich starken Gruppen junger Männer in Belleville, einem Pariser Einwanderer-Viertel. Es gab damals gegenseitige Straßensperren, aber beide Seiten wussten, wie weit sie gehen konnten. Die Araber in Belleville riskierten damals ebensoviel wie die Juden. Geschlichtet wurden diese Konflikte durch den Pariser Oberrabbiner und den tunesischen Botschafter, die gemeinsam herbeigeeilt waren.

Obige Vorfälle kannte ich vom Hörensagen. Später machte ich selber Erfahrungen, die das zuvor geschilderte idyllische Bild nachhaltig relativierten. Neben etlichen anderen Erlebnissen hatten drei, im Folgenden geschilderte Beispiele für mich Signalwirkung.

1995 wurden in Paris und Lyon Anschläge in Kaufhäusern, in der U-Bahn und in Ämtern verübt. Die Bombenleger entpuppten sich als Angehörige einer algerischen Islamistengruppe. Einer der Anschläge, bei dem 32 Menschen verletzt wurden, zielte auf eine jüdische Schule in einem Vorort von Lyon. Ich machte damals Reportagen unter franko-arabischen Jugendlichen in den Vorstädten. Der Tenor der Reaktionen unter den Jugendlichen war: diese Anschläge sind schrecklich, wir verurteilen sie – mit EINER Ausnahme: die Bombe vor der jüdischen Schule fanden etliche Gesprächspartner gar nicht so übel.

Bei einer Reportage im Pariser Einwanderer-Viertel Barbes geriet ich in ein Gespräch in einer moslemischen Metzgerei. Es ging um den damals (1993) in Algerien tobenden Bürgerkrieg zwischen Militärs und Islamisten. Plötzlich driftete die Diskussion zur Situation in Frankreich ab, und da erklärte mir einer der Metzger sinngemäß: arabische Kinder hätten in Frankreich schlechte Schulnoten, weil sie von jüdischen Lehrern diskriminiert würden. Ja die gesamte französische Regierung bestünde aus Juden, behauptete der Mann. Ich fragte ihn nach den Namen der angeblich jüdischen Regierungsmitglieder, und er verwies auf den damaligen Regierungschef Edouard Balladur, einen bekennenden Katholiken. Ich klärte ihn über seinen Irrtum auf, das machte ihn zwar stutzig, aber unterdessen zogen die übrigen Anwesenden wieder heftig über „die Juden“ her.

Einen nachhaltigen Eindruck hinterließen bei mir auch Reportagen in Algerien. Ich war 1992, vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen den Islamisten und den Militärs, mehrmals nach Algerien gereist. Wenn man mit Passanten länger redete, kam man häufig an einen Punkt, an dem die Anhänger der jeweiligen Seite ihre Gegner zu Juden erklärten. Teilweise ist der Begriff Jude in Algerien schlicht ein Schimpfwort, teilweise meinten die Menschen, die diese Behauptung in den Raum stellten, dass ihre jeweiligen Gegner wirklich Juden seien. In ganz Algerien lebten damals, hoch geschätzt, aber nur noch ein paar dutzend Juden. Der bekannteste unter ihnen, ein beliebter Optiker, der im Zentrum Algiers ein kleines Geschäft betrieb, wurde später von Islamisten, während einer gegen Nicht-Moslems gerichteten Mordkampagne, umgebracht.

Junge islamistische Demonstranten hatten es sich in Algerien angewöhnt, bei Zusammenstößen mit staatlichen Sicherheitskräften den Polizisten als Provokation zuzurufen: „Juden“ – so wie man andernorts „Scheißbullen“ rief. Ich traf Jugendliche, die mir aber auch allen Ernstes erklärten, die algerische Regierung bestünde aus Juden.

Umgekehrt beteuerten Anhänger der algerischen Militärs, ihre Gegner, also die Islamisten, würden von Israel finanziert und mit Waffen versorgt. In der algerischen Presse, die durchwegs gegen die Islamisten eingestellt war, kam es auch vor, dass man auf ausländische Kritik an den Militärs damit reagierte, dass man behauptete, „jüdische Journalisten“ hätten sich gegen Algerien und seine Armee verschworen.

All diese Erfahrungen hatten mich zwar innerlich stark geprägt, ad hoc erwähnte ich sie aber in keiner meiner Reportagen. Ich ging damals davon aus, dass diese Art von Judenhass zumindest in Frankreich keine sonderliche Relevanz mehr erlangen würde. Ich kann also nicht behaupten, dass ich die Welle antijüdischer Übergriffe, die ab 2000 in Frankreich hochkam, in dieser Form vorausgesehen hätte, gewundert hat mich diese Entwicklung freilich nicht.

Alltags-Mobbing und Gewaltakte in Randvierteln: „jugendliches Rowdytum“ und/oder „antisemitische Welle“?

Zum genaueren Verständnis der Vorfälle, die in Frankreich serienweise registriert wurden, muss man vorweg betonen, worum es sich zumindest bisher (Anfang 2006) nicht handelte: Es gab bisher in Frankreich keinen antijüdischen Terror, also etwa planmäßig ausgeführte Bombenanschläge und Aktionen von strukturierten Untergrundorganisationen (gemeint ist hier allerdings ausschließlich die jüngste anti-jüdischen Welle, ab 2000. Nicht dazu zählen weiter zurückliegende Attentate, wie etwa der bereits erwähnte Anschlag vor einer jüdischen Schule in einem Vorort von Lyon, 1995, oder das Bombenattentat gegen eine Pariser Synagoge, 1980, bei dem vier Menschen starben. Damals waren tatsächlich straff organisierte Terrorgruppen am Werk gewesen).

Allerdings kam es ab 2000 wiederholt zu Brandstiftungen in jüdischen Einrichtungen. Jugendliche warfen immer wieder selbst gebastelte Sprengsätze auf jüdische Objekte. Die Attacken richteten sich gegen Synagogen in Vorstädten, jüdische Restaurants, jüdische Schulen, jüdische Schulbusse, vereinzelt auch gegen Wohnungen jüdischer Familien. Die meisten dieser Angriffe erfolgten, während diese Räumlichkeiten oder Fahrzeuge leer standen, manchmal war es aber reiner Zufall, dass dabei keine Opfer zu beklagen waren. Gleichzeitig häuften sich die Würfe von diversen Gegenständen oder Steinen auf jüdische Gläubige vor Synagogen und auf Kinder vor jüdischen Schulen. Jüdische Passanten wurden angepöbelt, manchmal angespuckt und geschlagen. In vereinzelten Fällen wurden diese Attacken von größeren Gruppen von Jugendlichen nach vorheriger Absprache untereinander durchgeführt. Im Juni 2004 erlitt ein 17jähriger Schüler vor einer Talmud-Studienstätte in einem Pariser Vorort einen lebensgefährlichen Lungendurchstich bei einer Messerattacke durch einen 30jährigen Franko-Tunesier.

Die Vorgänge sind bereits übel, es handelt sich aber nur um einen Teil der Problematik. Was vielleicht schwerer wiegt und schwerer zu fassen ist, sind die Vorgänge, die sich unterhalb dieser Wahrnehmungsschwelle zutragen. Dazu zählt ein ständiger Druck im Alltag, ein Mobbing, manchmal mit Tätlichkeiten verbunden, manchmal auch „nur“ auf Beschimpfungen und Drohungen beschränkt.

Jüdische Familien wurden solange gemobbt, bis sie ihre Wohnung in einem Sozialbau oder ihr Einfamilienhaus in einer Reihensiedlung aufgaben. Ältere, vereinzelte Menschen wagen sich aus Furcht vor antijüdischer Anmache kaum mehr aus ihren Wohnungen. Jüdische Gläubige machen einen langen Umweg, wenn sie zum Gottesdienst in ihre kleine örtliche Synagoge gehen wollen, weil sie sonst damit rechnen müssen, von aggressiven Kinder- und Jugendgruppen abgepasst zu werden. Die Juden bleiben auch kaum mehr vor Synagogen entspannt stehen um miteinander zu reden, so wie das früher an Feiertagen üblich gewesen war. In so manchem Vorort haben die Gläubigen damit in den letzten Jahren schlechte Erfahrungen gemacht. Mal gab es Anpöbelungen, mal wurden Leute von Autos angefahren. Die Unbeschwertheit ist weg.

Unter der Fülle dieser Fälle verbergen sich einzelne, besonders erschütternde Vorkommnisse wie etwa der Fall einer allein stehenden Mutter und ihrer behinderten Tochter, die mit Hilfe jüdischer Wohltätigkeitsvereine aus ihrer Wohnung ausziehen mussten, weil sie von moslemischen Nachbarn systematisch eingeschüchtert wurden.

Für jüdische Kinder wird der Weg in die Schule nur zu oft zum Spießrutenlauf. Eltern lassen ihre Kinder nicht mehr draußen spielen. Und die Kinder haben das verinnerlicht und wagen sich manchmal selber nicht mehr zu den nahen Spielplätzen, Gartenanlagen oder Sporteinrichtungen.

Die Zwischenfälle an den Schulen, das Mobbing gegen jüdische Schüler und stellenweise auch Lehrer haben dazu geführt, dass die jüdischen Privatschulen hoffnungslos überlaufen sind. Eltern aber auch Lehrer, die sich ursprünglich nie vorstellen hätten können, einer konfessionellen Schule den Vorzug zu geben, suchten genau dort Zuflucht.

Allerdings: Gewalt und Disziplinlosigkeit an etlichen öffentlichen Schulen in sozialen Krisenvierteln treibt auch sehr viele nicht-jüdische Eltern und natürlich auch viele Moslems dazu, ihre Kinder katholischen Privatschulen anzuvertrauen.

Tatsächlich finden die meisten Taten, die gegen Juden verübt werden, in Vierteln, Siedlungen und Schulen statt, in denen Vandalismus, Einschüchterungen und Tätlichkeiten zwar nicht alltäglich sind, aber doch verhältnismäßig häufig vorkommen. Jugendbanden üben Druck auf ihre Umgebung aus. Es gibt immer wieder Drohungen und Gewalt gegen Briefträger, Apotheker, Krankenpfleger, Ärzte, Lehrer, Schalterbeamte, wer auch immer sich in greifbarer Nähe befindet, von dem man etwas will, oder den man für wehrlos hält. Ebenso nehmen Gewaltakte gegenüber jungen Frauen zu.

Es fiel also auch sensiblen und wohlmeinenden Beobachtern schwer, die Angriffe gegen Juden auf den ersten Blick als Spezifikum herauszuschälen. Von daher auch die Bandbreite der Einstufungen. Beispielsweise bezeichnete der prominente jüdische Essayist Alain Finkielkraut das Jahr 2002 mit seinen vielen antijüdischen Übergriffen glatt als „Kristalljahr“. Während der vormalige Vorsitzende des Repräsentativrats der jüdischen Institutionen Frankreichs, Theo Klein, sich bis heute weigert von „antisemitischen“ Vorfällen zu reden, und, sinngemäß, nur von einem generellen Rowdytum sozial verwahrloster und benachteiligter Jugendlicher in den Vororten spricht.

Viele Vorfälle ereigneten sich also in einer Grauzone zwischen „allgemeiner“ Jugendgewalt und dem unter Moslems grassierenden Judenhass. Gegen so eine Art von Mobbing sind auch die wohlmeinendsten Behörden nicht unbedingt hilflos, aber in ihren Eingriffsmöglichkeiten beschränkt.

Dazu kommt, dass die Übergriffe in sehr unterschiedlichem Ausmaß auftreten. Man muss sich vor der Vorstellung hüten, dass all die soeben beschriebenen Phänomene die Regel in den Vororten darstellen würden. Es können sich schwerwiegende Zwischenfälle in einem Häuserblock abspielen, während im gegenüberliegenden Viertel das beste Einvernehmen zwischen Juden und Moslems herrscht.

Die Behörden reagieren heute, im Allgemeinen, sehr energisch auf antijüdische Taten. In einer ersten Phase hatte es manchmal eine Unterschätzung des Phänomens gegeben. Inzwischen sind die bürgerliche Staatsführung, die Spitzen der sozialistischen Opposition, die Bürgermeister der Vororte, die tonangebenden Medien, inklusive der Massenblätter, stets zur Stelle, wenn Übergriffe gegen Juden konstatiert werden. Justiz und Polizei haben Anweisung erhalten, antijüdische Akte schnell und streng zu ahnden. Das hat zuletzt zu einem merklichen Nachlassen der statistisch registrierten antijüdischen Vorfälle beigetragen. [1]

Von Präsident Jacques Chirac stammt der Leitspruch: „Wer einen Juden angreift, greift Frankreich an“. Kein vernünftiger Mensch kann heute den französischen Meinungsträgern und Politikern in Sachen Bekämpfung des Judenhass Versäumnisse vorwerfen.

Außerdem gab es in den letzten Jahren eine erneuerte, ganz besonders gründliche Beschäftigung mit dem Holocaust und der französischen Beteiligung an der Judenverfolgung unter dem Kollaborationsregime von Philippe Pétain. Diese Aufarbeitung fand breiten Niederschlag an den Schulen und in den Medien. Auch da gab Chirac stets den Ton an: hatte er doch, unmittelbar nach seinem Amtsantritt als Staatschef, im Juli 1995, die aktive Mithilfe des französischen Behördenapparats bei der Deportation der Juden aus Frankreich in die Vernichtungslager der deutschen NS-Okkupanten gegeißelt (wozu sich sein Vorgänger, der Sozialist François Mitterrand, niemals durchringen konnte). Chirac sprach diesbezüglich von einer „untilgbaren Schuld“ Frankreichs.

Holocaust-Gedenken statt Aufarbeitung von Kolonialismus und Sklaverei?

Endlich, kann man nur sagen. Endlich haben zumindest in Westeuropa die Meinungsträger und Regierenden den Holocaust in seiner vollen Dimension zur Kenntnis genommen und zum Angelpunkt eines neuen europäischen Selbstverständnisses gemacht. Aber genau diese Wucht und Gründlichkeit, mit der etwa in Frankreich der sechzigste Jahrestag der Befreiung von Auschwitz begangen wurde, haben Reaktionen bei Bevölkerungsteilen hervorgerufen, die mit diesem historischen Kapitel in keiner Weise direkt verbunden sind. Ein Teil der Jugendlichen aus Familien, die aus Frankreichs ehemaligen Kolonien in Nord- und Schwarzafrika oder aus den französischen Karibik-Inseln stammen, also ein Teil der franko-afrikanischen und franko-arabischen Jugendlichen reagieren auf die öffentliche Erörterung des Holocausts mit Fragen nach der Verfolgungsgeschichte der eigenen Familien, was als höchst legitim erscheint, teilweise aber auch mit Neid und Hass auf die jüdische Minderheit zu tun hat.

Die verstärkte Beschäftigung der französischen Öffentlichkeit mit der Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei erhält zusätzliche Brisanz durch die häufige Diskriminierung, die Jugendliche aus arabischen oder schwarzafrikanischen Familien gegenwärtig erleiden, sei es auf dem Arbeitsmarkt, bei den beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, bei der Wohnungssuche oder im Freizeitbereich, etwa bei Diskobesuchen.

Gegen diese Diskriminierungen haben sich Präsident Chirac, etliche weitere Entscheidungsträger und ein beträchtlicher Teil der Medien immer wieder engagiert. Es gibt strenge Gesetze gegen Diskriminierung und gezielte Kampagnen gegen Ausgrenzung und Rassismus. Dieser öffentliche Diskurs greift aber in der gesellschaftlichen Realität nur ansatzweise und viel zu langsam. Die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen sind denkbar ungünstig: insgesamt ein Viertel der (in keinem Ausbildungsverhältnis stehenden) Jugendlichen sind auf Jobsuche. Damit hat Frankreich eine der höchsten Jugendarbeitslosenraten der EU. Bei Jugendlichen aus Migrantenfamilien liegt diese Rate noch um ein Drittel höher.

Was aber hat das alles im Besonderen mit den Juden zu tun? Wohl nichts.

Bei Teilen der Jugendlichen aus Migrantenfamilien hat sich aber trotzdem, wider alle Vernunft, die Vorstellung verbreitet, ihre Probleme und das Unrecht, das ihren Vorfahren widerfahren ist, würde man nicht genügend zur Kenntnis nehmen, weil die Juden eine „Monopolstellung“ als Opfer erlangt hätten. Alain Finkielkraut hat treffend formuliert: „Der Vorwurf des Neo-Antisemitismus an die Juden lautet, sie wären in allem Kapitalisten und jetzt auch besonders in Bezug auf das menschliche Leid.“

Die Juden, so lautet der aktualisierte Mythos, hätten alle Macht in ihren Händen und würden diese gezielt nützen, um Arabern und Afrikanern den Weg nach oben zu versperren, und um sie an ihrer eigenen Geschichtsaufarbeitung zu hindern.

Das klingt abstrus. Aber genau diese Vorstellung verbreitet in Frankreich ein farbiger Komiker und Bühnenautor, Dieudonné M’bala. Der Sohn eines kamerunischen Vaters und einer französischen Mutter, der für einen Teil der franko-afrikanischen Bevölkerung zu einer Art Bannerträger geworden ist, suggeriert dies bei seinen gut besuchten One-Man-Shows: Die Juden würden den Schwarzafrikanern den Weg zur Anerkennung ihrer Leidensgeschichte und Erlangung ihrer Gleichberechtigung verstellen. Das kommt, unter anderem, in vorgeblichen Witzen über die Bühne, also wenn er etwa den zuvor erwähnten Essayisten Alain Finkielkraut als durchgedrehten jüdischen Professor persifliert, der so nebenher die Sklaverei wieder herbeiwünschen würde.

Das ist besonders infam, weil die meisten Intellektuellen und Persönlichkeiten im Kulturbereich, die aus jüdischen Familien stammen, sich seit Jahrzehnten gegen rassistische Diskriminierung engagiert hatten. Die Antirassismus-Vereine, die vielfach von Juden mitgegründet worden waren, widmeten sich in den Siebziger und Achtziger Jahren fast ausschließlich der Bekämpfung des anti-arabischen und anti-schwarzen Rassismus. Holocaust und Antisemitismus spielten im Auftreten dieser Bewegungen eine eher untergeordnete Rolle. Im Gegensatz zu heute waren ja damals antijüdische Übergriffe eine Seltenheit, während sie heute zwei Drittel aller Taten ausmachen, die von den französischen Behörden als „rassistisch“ eingestuft werden.

Der Verweis auf den Holocaust diente in den Achtziger Jahren allenfalls dazu, die damals aufstrebende „Front national“ des Rechtsaußen-Tribuns Jean-Marie Le Pen, etwas versimpelt, als Erbin der französischen Nazi-Kollaboration zu ächten und ihr die Aufnahme in das Spektrum der demokratisch akzeptablen Parteien zu verwehren. Le Pen hatte zu Beginn seiner ersten Erfolgsphase um einen (anti-arabischen) Schulterschluss mit den Vertretern jüdischer Gemeinden gebuhlt, war aber stets abgewiesen worden. Daraufhin und genau in dem zuvor geschilderten Argumentations-Zusammenhang („Front national“ = Nazi-Kollaborateure) richtete Le Pen eine Zeit lang seine namentlichen Attacken hauptsächlich gegen jüdische Persönlichkeiten.

Die Beschäftigung mit dem Holocaust versperrte also nicht die Sicht auf die Probleme der arabischen oder schwarzen Bevölkerung. Im Gegenteil: die meisten Personen, die sich mit dem Holocaust auseinandersetzten, waren oder wurden zu Gegnern des Rassismus. Und es ist wohl nie vorgekommen, dass Juden, in Gedenken an den Holocaust, die Erforschung und Anprangerung etwa der Sklaverei behindert hätten, wie das Dieudonné M’bala explizit behauptet.

Besonderes Aufsehen errang Dieudonné M’bala im Januar 2004 als Stargast einer populären TV-Talkshow: während die Zahl der antijüdischen Übergriffe in Frankreich einen neuen Höhepunkt erreichte, trat er verkleidet als orthodoxer Jude auf, der eine Maschinenpistole umgeschnallt hatte und „Heil Israel“ rief. In der Folge unternahm er intensive Bemühungen um einen Schulterschluss mit dem radikalsten Flügel des arabischen Nationalismus. Im Februar 2004 hatte er bejubelte Auftritte in Algier, ein Großteil der algerischen Presse feierte ihn als ein „Opfer der Zionisten“. Vor Ort verglich er sich bei seinen Bühnenauftritten indirekt mit Jesus, weil doch dieser von der „selben Lobby“ verfolgt worden sei (eine Anspielung auf die Vertreter der jüdischen Gemeinden Frankreichs, die sich mit gerichtlichen Klagen gegen die Attacken von Dieudonné M’bala gewehrt hatten). Auf einer abschließenden Pressekonferenz in Algier bezeichnete er die öffentliche Beschäftigung mit dem Holocaust in Frankreich als „memorielle Pornographie“. Später erklärte er, er habe die Seiten, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, aus den Schulbüchern seiner Kinder „herausgerissen“.

Daraufhin artikulierten erstmals prominente afrikanisch-stämmige Intellektuelle deutliche Ablehnung gegenüber Dieudonné M’bala. Die meisten französischen Medien traten ihm vehement entgegen. Er hat aber zweifellos etwas geortet und weitervermittelt, das bei einem Teil der Jugendlichen in den Vorstädten durchaus Schule macht: Man kann enormes mediales Aufsehen erregen und heftigste politische Reaktionen auslösen, wenn man auf Juden losgeht, weil man da einen höchst sensiblen Nerv der französischen Mehrheitsgesellschaft trifft.

Die Vorstellung ist nun mal verlockend, jemanden, einen Gegner, eine Gruppe, einen Klan dingfest zu machen, dem man einerseits eine großartige Macht unterstellen kann, von dem man aber insgeheim weiß, dass er sich in einer potenziellen Schwächeposition befindet.

Juden in Migrantenvierteln: eine Minderheit in der Minderheit

Der erste Faktor für diese Schwächeposition ist rein statistischer Natur: Verhältnismäßig viele Juden wohnen und arbeiten zwar noch immer in Randvierteln und Vorstädten, sie sind also direkt greifbar, sie befinden sich aber gleichzeitig in einer hoffnungslosen Unterlegenheit, weil sie heute, im Gegensatz etwa zu den Siebziger Jahren, in diesen Vierteln eine isolierte Minderheit darstellen. Ein Teil der jüngeren jüdischen Generationen (ebenso wie ein Teil der jüngeren Moslems) sind beruflich aufgestiegen und weggezogen. Diejenigen, die in den städtischen Randzonen übrig geblieben sind, fallen also quantitativ kaum mehr ins Gewicht angesichts der sie umgebenden, zum Teil neu eingewanderten Mehrheit moslemischer Familien. An diesen Mehrheitsverhältnissen wird sich auch kaum mehr etwas ändern, zumal der allergrößte Teil der Juden aus dem Maghreb bereits ausgewandert sind.

Neben diesem ersten, direkten Grund für die Hilflosigkeit dieser Juden, der Handgreiflichkeiten gegen sie so verlockend macht, gibt es noch einen zweiten, unterschwelligeren und diffuseren Faktor: Auch zu einem Teil der Migrantenjugend ist durchgesickert, dass in den christlichen Gesellschaften eine lange Tradition des Judenhasses vor nicht allzu langer Zeit erst, auf öffentlicher Ebene, abgelegt wurde, dass aber dieser Hass noch bei so manchem Europäer, zumindest auf Sparflamme, weiterschwelt. Dass also die Duldung der Juden auf doch nicht so festem Fundament fußt. Das lässt die Hoffnung keimen, man könnte da gegen einen jüdischen Sündenbock einen Schulterschluss mit der französischen Mehrheitsgesellschaft zustande bringen.

Daraus ergibt sich ein perverses Dreiecks-Verhältnis, in dessen Verlauf auf den dritten, vermutlich schwächeren eingeschlagen wird. Ich habe öfters erlebt, dass moslemische Migranten, die mit einem europäischen Gesprächspartner ein unterschwelliges Einverständnis herstellen wollen, einer dritten, abwesenden und negativ in Erscheinung getreten Person nachsagen: „Er ist halt Jude“. Allerdings erlebte ich auch die umgekehrte Konstellation: das heißt, ein Jude versuchte eine Brücke zu einem vermeintlich nicht-jüdischen Gesprächspartner auf Kosten eines abwesenden und entsprechend abqualifizierten Moslems zu bauen.

Vor allem aber hat in der informellen Parallelkultur der Vorstadtjugend der Slangbegriff für Juden, das Wort „Feuj“, das ursprünglich eher als wertfreie Bezeichnung galt, in den allerletzten Jahren eine tendenziell negative Bedeutungsaufladung erfahren. Wenn in einer Schulklasse jemand seinen Stift oder sein Heft nicht herleihen möchte, oder wenn er angibt, sagen Kinder: „Der führt sich auf wie Feuj“. Die Juden werden also wieder als geizig, egoistisch, machtgierig, anmaßend etikettiert.

Diese Vorwürfe an eine Minderheit, der man den Ausbruch aus ihrer untergeordneten Position nicht gestatten möchte, diese Klischees, die gleichermaßen aus dem christlichen und islamischen Fundus stammen, sind in der Subkultur eines Teils der Vorstadtjugend in Frankreich wieder aufgetaucht und untereinander verschmolzen.

Klarerweise wurden diese altneuen Klischees im Rahmen des Nahost-Konflikts massiv aktiviert. Arabische Fernsehstationen, darunter auch jene Sender, die in ihrer Berichterstattung den Staat Israel im Besonderen und die Juden im Allgemeinen als Grundübel der Menschheit darstellen, erreichen auch in Frankreich ein breites Publikum unter den Migrantenfamilien. Da werden die hirnrissigsten antijüdischen Verleumdungen aufgetischt, die man in Europa sonst wohl kaum noch hört: Israelische Soldaten würden arabische Kinder töten, um ihr Blut für jüdische Festtags-Rituale zu verwenden. Jüdische Ärzte hätten AIDS erfunden, um die arabischen Völker damit zu infizieren. Israelische Atomversuche hätten den Tsunami ausgelöst. Religiöse Prediger bezeichnen Juden (und gelegentlich auch Christen) als Abkömmlinge von Schweinen und Affen …

Meistens laufen die blutrünstigsten antijüdischen Serien während des Fastenmonats Ramadan. Also während die religiöse Inbrunst ihren Höhepunkt erreicht, und die moslemischen Familien oft vollzählig vor den TV-Schirmen versammelt sind. Das erinnert an die christlichen Osterzeremonien, also das Gedenken an die Kreuzigung von Jesus, die in Europa immer wieder Anlass für Gewalttaten gegen Juden boten. Der Zusammenhang ist auch insofern gegeben, als diese Filme der arabischen TV-Sender fast immer auch Elemente aus dem christlichen Antijudaismus verarbeiten.

Das klingt oft viel zu absurd um ernst genommen zu werden. Man muss freilich berücksichtigen, dass sich die Verteufelung der jüdischen Minderheit oder zumindest die Verachtung der Juden als nicht rechtgläubige Außenseiter auf eine lange und tief verankerte Tradition im islamischen Raum stützt. Genauso wie im Fall des christlichen Antijudaismus, der ja erst nach dem Holocaust in Europa von der öffentlichen Bühne abtrat. Im moslemischen Raum konnte diese Tradition hingegen ungebrochen fortbestehen, ja sie erfuhr durch den Konflikt mit dem Zionismus um Palästina eine ungeahnte Bedeutungsaufladung und ständig neuen Auftrieb.

Dass heißt nicht, dass der Islam ausschließlich Feindschaft gegenüber dem Judentum predigt. Der Koran und die übrigen islamischen Grundtexte bieten verschiedene Formen der Auslegung: es gibt Passagen und Regeln, die zu einer toleranten Haltung gegenüber Juden und Christen drängen. Und es gibt Passagen, die Christen und Juden in einem extrem negativen Licht erscheinen lassen und jede Form der Freundschaft mit ihnen ausschließen. Wie bei den meisten religiösen Überlieferungen kann sich jeder Prediger oder Politiker, oft sind sie ja beides, die Zitate und Interpretationen aussuchen, die ihm bei seiner jeweiligen Orientierung zupass kommen.

Moslemische Familien, die aus dem Maghreb nach Frankreich eingewandert sind, haben judenfeindliche Überlieferungen an ihre Kinder weitergereicht. Dazu kommt nunmehr der wachsende Einfluss fundamentalistischer Prediger und Gruppen, die die antijüdische Schlagseite des Islam betonen und mit dem aktuellen Nahost-Konflikt, ja sogar mit den sozialen Spannungen in Europa geschickt vermengen. Dabei werden wiederum aus der Mottenkiste des christlich inspirierten und europäischen Antijudaismus Schlagwörter wie „jüdischer Kapitalismus“ oder „jüdische Finanzmacht“ hervorgeholt.

Die Verschärfung der Kluft zwischen den sozialen Schichten, das zunehmend prekäre Jobangebot und die damit einhergehende Ausgrenzung der Jugendlichen aus Migrantenfamilien haben generell in Westeuropa das Terrain für eine religiös inspirierte, ethno-soziale Abkapselung bereitet. Das gilt im Besonderen für Frankreich, das jetzt schon seit fast drei Jahrzehnten an einer Arbeitslosenrate von – offiziell – zehn Prozent krankt, und wo inzwischen etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung in sub-urbanen Armutsgürteln festsitzt.

Dass Jugendliche aus Migrantenfamilien angesichts ihrer existenziellen Perspektivlosigkeit und ihrer anhaltenden Diskriminierung in religiösen Gruppen Halt suchen, liegt auf der Hand. Und dass ein beträchtlicher, um nicht zu sagen der überwiegende Teil der moslemischen Prediger, die auf europäischem Boden tätig sind, die durchwegs fundamentalistischen Kaderschmieden Saudi-Arabiens und Pakistans absolviert haben, kann ebenfalls als ein inzwischen weitgehend bekanntes Faktum betrachtet werden. Mit dieser Feststellung soll freilich nicht unterschlagen werden, dass verschiedenste moslemische Strömungen, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß, zu einer aufgeklärten Form von Religiosität neigen und eine Verbindung zwischen demokratischer Toleranz und einem erneuerten Euro-Islam suchen. Bei diesen moslemischen Kräften ist ein mehr oder weniger artikuliertes Unbehagen angesichts antijüdischer Hetze durchaus vorhanden.

Teilweise reagieren liberale moslemische Kreise aber auch mit Unbehagen auf die zuvor beschriebene, sehr gründliche Auseinandersetzung der französischen Öffentlichkeit mit der Verfolgung der Juden unter dem Kollaborationsregime und dem Holocaust. Befürchten sie doch, dass das damit einhergehende Mitgefühl für das Schicksal der Juden letztlich das Verständnis für Israel wieder erhöhen könnte – eine moralische Zwickmühle, die die meisten Franko-Araber tendenziell überfordert. Bei jenen Moslems, die keine ausreichenden historischen Kenntnisse und/oder Skrupel haben, finden die gängigen Bestrebungen arabischer Medien, das Ausmaß oder gar die Realität der NS-Vernichtungspolitik zu negieren, umso dankbarere Aufnahme. Eben weil auch sie erkannt haben, wie sehr die Legitimität des jüdischen Staates in der Erfahrung des Holocausts begründet liegt.

Die Vorgeschichte im Maghreb: eine Geschichte der Gegensätze

Die heutigen Beziehungen zwischen Juden und Moslems in Frankreich werden auch durch deren gemeinsame und gleichzeitig konträre Vorgeschichte in Nordafrika mitbestimmt. Um die Problematik vereinfacht auszudrücken (trotz etlicher Ausnahmen): Die Moslems aus Nordafrika, die Frankreichs Kolonialherrschaft erlitten haben, betrachten die Palästinenser unter israelischer Herrschaft als Schicksalsgenossen. Das Los der Palästinenser erscheint den moslemischen Maghrebinern als Wiederholung ihrer eigenen Geschichte. Die Juden aus Nordafrika empfinden die heutigen Spannungen und das Mobbing, das sie in Frankreich teilweise erleiden, auch als eine schmerzhafte Erinnerung an eine Situation, der sie entkommen wollten.

Viele Juden verließen ihre Heimatländer unter dramatischen Umständen, in den Fünfziger und Sechziger Jahren, als diese französischen Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten und sich als islamische Staaten definierten. Manchmal kam es zu Gewaltakten gegen Juden, manchmal war es eher ein Klima latenten Hasses und gelegentlicher Drohungen. Aber den meisten Juden wurde früher oder später klar, dass sie weg mussten, wenn sie in Sicherheit leben wollten, wenn sie auf Gleichberechtigung und religiöse Toleranz Wert legten.

Juden gab es im Maghreb seit etwa 2500 Jahren, also noch vor der Ankunft des Islams. Erste jüdische Migrationsströme gelangten aus dem Nahen Osten nach Nordwestafrika. Ein Teil der autochthonen Berberbevölkerung konvertierte zum Judentum, schließlich kamen Juden aus der iberischen Halbinsel hinzu, die vor der katholischen Inquisition flüchteten.

Während der tausendjährigen islamischen Ära bis zur Ankunft der europäischen Kolonialmächte standen die Juden zwar zeitweilig unter dem Schutz von örtlichen Herrschern, wenn diese ihnen wohl gesinnt waren, sie konnten aber genauso der Willkür und dem Hass zum Opfer fallen.

Zieht man die grundsätzlichen islamischen Rechtsregeln in Betracht, war der Status der Juden (und der übrigen tolerierten religiösen Minderheiten) demütigend und gefährlich: [2] Wurde ein Jude von einem Moslem tätlich angegriffen, durfte er sich nicht wehren, sondern nur um Nachsicht flehen. Die Ermordung eines Juden (durch einen Moslem) wog unvergleichlich geringer als die Ermordung eines Moslems (durch einen Moslem). Vor Gericht konnte ein Jude einer Beschuldigung durch einen Moslem theoretisch nichts entgegenhalten, zumal die Aussage des Juden durch die Aussage des Moslems formalrechtlich annulliert wurde. Auf Geschlechtsverkehr mit einer Moslemin oder Blasphemie gegen den Islam stand die Todesstrafe. Bei jedem Streit mit einem Moslem konnte dieser behaupten, der betreffende Jude hätte über Gott oder seinen Propheten gelästert, oder einer Moslemin nachgestellt. Unter diesem Vorwurf wurden auch immer wieder Juden hingerichtet oder von der Menge erschlagen.

Sie durften keine Waffen tragen und weder zu Pferde noch auf Kamelen reiten. Das bedeutete weitgehende Hilflosigkeit in jenen Regionen, in denen die Blutrache als Abschreckung wirkte. Dazu kam, je nach politischer Phase und Region, die mehr oder weniger scharfe Anwendung von detaillierten Ächtungsmaßnahmen. So durften Juden zwar Eseln oder Maultiere satteln, aber, beispielsweise in Marokko, nur seitlich, so wie es Frauen taten. Trafen sie auf einem Moslem, mussten sie absteigen und zu Fuß gehen. Kam ihnen einen Moslem zu Fuß entgegen, mussten sie ihm unverzüglich den Weg freimachen. Sie hatten schnell zu gehen, auf der linken Straßenseite, die als unrein galt. Sie waren aufgefordert, in Anwesenheit von Moslems eine bescheidene Haltung einzunehmen und die Augen zu senken. Sie mussten den Moslems etwaige Sitzplätze überlassen.

Sie mussten häufig ein kreisförmiges gelbes Stoffstückchen und spezifische – blaue oder gelbe – Kleider tragen, die sie von den Moslems unterschieden und, so wie in Europa, auch meistens der Lächerlichkeit preisgaben. Wiederum in Marokko (und im Jemen) mussten sie außerhalb des ihnen zugewiesenen Viertels barfuß gehen. Sie hatten bei städtischen Bauarbeiten Frondienst zu leisten, sie waren zur Reinigung der städtischen Latrinen verpflichtet, sie mussten als Totengräber und Henker fungieren.

Sie hatten eine hohe Kopfsteuer zu zahlen und wurden stellenweise, so wie im christlichen Europa, in den Geldverleih abgedrängt, der den Moslems verboten war. Die Juden, die unter den Berberstämmen in den ländlichen Gegenden Marokkos und Libyens lebten, waren Leibeigene der Stammesfürsten. Sie mussten die als unrein geltenden Handwerke wie etwa das Schmiedewesen ausüben. In der islamischen Stammesgesellschaft des Jemen war es noch in den Fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stellenweise üblich, dass ein Stamm die Ermordung eines ihm „gehörenden“ Juden durch einen Moslem aus einem anderen Stamm damit ahndete, dass er seinerseits einen Juden aus dem Besitzstand des anderen Stammes tötete. So eine Vendetta zwischen zwei Stämmen, bei der jeweils nur Juden ermordet wurden, konnte über Generationen andauern.

Auch wenn so manches aus einer spezifischen Mischung zwischen örtlichen, tribalen Traditionen und Islam entsprang, kommt man doch nicht umhin, die meisten der oben beschriebenen Gängelungsmaßnahmen gegenüber den Juden auf jene Rechtsgrundsätze zurückzuführen, die von den Gründervätern der wichtigsten moslemischen Glaubensschulen im achten und neunten Jahrhundert festgeschrieben worden waren. Rechtsgrundsätze, die auch noch heute für etliche moslemische Gelehrte zumindest theoretische Gültigkeit haben.

Diese Grundsätze waren Ausfluss der islamisch-arabischen Expansion des siebenten Jahrhunderts. Sie regelten den Status der eroberten ethnischen und religiösen Gruppen. Für Juden und Christen sowie weitere vereinzelte religiöse Gruppen galt die Einstufung als „Leute der Schrift“ (also Anhänger des ersten, alt- und neutestamentarischen Teils der göttlichen Offenbarung, auch wenn, aus der Sicht des Islams, Juden und Christen diesen ersten Teil missverstanden beziehungsweise entstellt hätten). Im Gegensatz zu den übrigen, hauptsächlich polytheistischen Religionsgruppen wurde den „Leuten der Schrift“ („Ahl al Kitab“) das Recht auf Leben und auf ihren Kult zugestanden, was in diesem historischen Kontext ein durchaus bedeutsamer Akt der Toleranz war. Aber in den Genuss dieses Status als „Schutzbefohlener“ („Dhimmi“) des herrschenden Islams gelangten nur jene, die sich in eine untergeordnete und demütigende Stellung fügten. Dazu gehörte zuvorderst die Entrichtung einer Kopfsteuer, die als eine Art institutionalisierte Fortschreibung des ursprünglichen Kriegstributs der Besiegten verstanden werden muss. Wer gegen diese Diskriminierung aufbegehrte, hatte theoretisch das Recht auf Schutz und Leben verwirkt – auch wenn, wie bereits angesprochen, in der vielseitigen, breitest gestreuten und Jahrhunderte langen vorkolonialen islamischen Ära dieser Rechtskorpus immer wieder auch zugunsten der religiösen Minderheiten faktisch unterlaufen wurde.

In der Praxis der islamischen Gesellschaften gab es also verschiedenste Anwendungsformen obiger Rechtsgrundsätze. Wie in den christlich-europäischen Gesellschaften wurde die jüdische Minderheit phasen- und stellenweise nicht nur toleriert, sondern auch gefördert. Die jeweiligen Fürsten konnten Juden schützen und favorisieren – aus Toleranz, Sympathie, weil sie ihm wertvolle Dienste leisteten, etwa als Verwalter, Händler, Financiers, Diplomaten, Ärzte, spezialisierte Handwerker, ja in frühen Phasen auch als militärische Schutztruppe. Der Fürst konnte sich ihrer vollständigen Loyalität gewiss sein, eben weil sie als eine grundsätzlich entrechtete Minderheit auf sein Wohlwollen in besonderer Weise angewiesen waren. Und dann gab es wiederum Phasen grausamster Verfolgung, wenn sich etwa die Wut der Mehrheitsbevölkerung gegen den betreffenden Fürsten und seine Schützlinge richtete, oder wenn der Fürst seine Politik änderte und sich entschloss, die Minderheit zu opfern und/oder zu plündern – das Schema ist ja hinlänglich bekannt.

Grob betrachtet, folgte im Maghreb auf eine Periode der Toleranz unter dem „klassischen Islam“, die sich im Wesentlichen vom 9. bis ins 11. Jahrhundert erstreckte, ein stetes Auf und Ab mehr oder weniger heftiger Verfolgungen und Ausgrenzungsmaßnahmen. Diese erreichten in den letzten 300 Jahren vor der Unterwerfung des Maghreb durch Frankreich (Algerien 1830, Tunesien 1881 und Marokko 1912) einen abermaligen Höhepunkt durch die Häufung von Pogromen und eine stete Verschärfung der Gängelungen im Alltag. Dies galt vornehmlich für Marokko, das am häufigsten von Machtkämpfen und Unruhen heimgesucht wurde, und traf in geringerem Ausmaß auf Algerien, Tunesien und Libyen zu, die im – eher losen – Rahmen des ottomanischen Reichs standen. Gleichzeitig begann sich aber auch die formalrechtliche Diskriminierung der Juden zu lockern, allerdings meistens in Folge des diesbezüglichen Drucks der europäischen Mächte auf die maghrebinischen und ottomanischen Herrscher, was wiederum, stellenweise, den Hass der moslemischen Mehrheit gegen die jüdische Minderheit schürte.

Europas expandierende Mächte weckten Emanzipationshoffnungen – eine Parallele zwischen den Juden Nordafrikas und Osteuropas

Logischerweise und ungeachtet obiger Reaktionen der Moslems weckten der zunehmende Einfluss der europäischen Mächte und schließlich die französische Kolonialherrschaft bei vielen Juden Nordafrikas die Hoffnung auf eine Befreiung aus ihrer Bedrückung. Das schlug sich auch darin nieder, dass sich allenthalben Juden aus ihrer gewohnten Unterwürfigkeit zu lösen und auf die üblichen Beleidigungen und Angriffe in völlig überraschender Weise (für die europäischen und maghrebinischen Zeitgenossen) zu reagieren begannen. Genau diese Haltungsänderung der unterworfenen Juden empfanden und empfinden etliche gläubige Moslems als eine „skandalöse Umkehr der gottbefohlenen Ordnung“, wie der Historiker Jacques Taieb, einer der versiertesten Kenner der Geschichte der maghrebinischen Juden, schreibt.

Wie sehr die Mentalitätsänderung unter den Juden zu greifen begann, zeigte sich wohl am deutlichsten in den von Pogromen heimgesuchten jüdischen Vierteln Marokkos: zwischen 1894 und 1911 gelang es den Juden in vier Fällen, teilweise mit Schusswaffen ausgerüstet, die angreifenden Pogromisten erfolgreich abzuwehren und ihnen schwere Verluste zuzufügen. 1911 widerstand das Ghetto von Meknes einer dreimonatigen Belagerung durch den Mob und marodierende marokkanische Truppen. Schließlich wurde der Belagerungsring von französischen Truppen unter Anleitung jüdischer Verbindungsmänner gesprengt. In Fez, wo die Juden auf Anweisung französischer Offiziere ihre Gewehre abgegeben hatten, fiel das Ghetto 1912 hingegen einem Massaker zum Opfer. Die Überlebenden verdankten ihr Heil nur dem Erbarmen des Sultans, der den Flüchtenden Schutz im königlichen Zoo bot, während das jüdische Viertel in Flammen aufging.

Bezüglich der Hoffnungen auf den befreienden Einfluss der europäischen Metropolen, die die Juden des Maghreb zum Teil hegten, besteht eine deutliche Parallele zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Mittel- und Osteuropa. Die Juden in Osteuropa, namentlich jene, die im russischen Zarenreich unter zahllosen Beschränkungen und periodischen Gewaltwellen zu leiden hatten, schauten bekanntlich nach Westen, vornehmlich nach Berlin und Wien. Von daher erwarteten sie die Erlösung, die Ankunft der europäischen Aufklärung und Zivilisation.

Diese Hoffnung in den Vormarsch der deutschen Kultur und der deutschen oder österreichischen Verwaltung hielt sich unter den Juden Osteuropas, bis dann der Deutschnationalismus einen immer rabiateren Antisemitismus entfaltete. Der Holocaust begrub diese spezifische Form der jüdisch-deutschen oder jüdisch-österreichischen Symbiose.

Bei den Juden Nordafrikas konnte sich der Glaube an die Emanzipationsversprechen durch Frankreich erhalten. Auch wenn die europäischen Siedler, die vielfach einem vehementen christlich geprägten Judenhass anhingen, und später, während des zweiten Weltkriegs, das Kollaborationsregime von Philippe Pétain, die jüdische Minderheit ihrerseits zeitweilig erniedrigten und sogar verfolgten. Aber diese punktuellen Rückschläge verblassten angesichts der positiven Gesamtbilanz der französischen Präsenz für die jüdische Minderheit in Nordafrika und ihrer anschließenden erfolgreichen Integration in Frankreich.

Die Dankbarkeit der meisten Angehörigen der jüdischen Minderheit gegenüber der französischen Republik vergrößerte die Kluft zur moslemischen Mehrheitsbevölkerung, sofern dies überhaupt noch möglich war. Als dann, ab den Zwanziger und Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, die Bestrebungen zur Errichtung eines jüdischen Staats in Palästina deutlicher wurden, kam auch noch der Zionismus als Vorwurf von moslemischer Seite hinzu und wurde zu einem zusätzlichen Auslöser antijüdischer Gewalttaten. Im Gegenzug betrachteten viele Juden auch in Nordafrika die zionistische Bewegung mit Sympathie. Nach der Staatsgründung Israels spitzte sich dieser Gegensatz noch mehr zu. Den Juden Nordafrikas wurden also von der moslemischen Mehrheit sowohl Sympathien für Frankreich als auch für Israel vorgeworfen.

Für die Juden des Maghreb, von denen annähernd 400.000 nach Israel zogen (insgesamt fanden 650.000 Juden aus arabischen Ländern in Israel eine neue Heimat), bedeutete die Gründung eines jüdischen Staates sowohl die Erfüllung einer religiös inspirierten Hoffnung als auch eine Revanche für die Demütigungen, Diskriminierungen, Massaker und Vertreibungen, die sie in der islamischen Welt erlitten hatten. Die Entstehung Israels hatte für sie also durchaus eine ähnliche Bedeutung wie für die Mehrheit der überlebenden europäischen Juden nach dem Holocaust.

Man muss diese Darstellung insofern relativieren, als es in Tunesien und in Marokko, bis in die Sechziger Jahre hinein, etliche jüdische Intellektuelle gab, die sich auf Seiten der linken arabischen Nationalisten engagierten und sehr konsequent bestrebt waren, am Aufbau unabhängiger arabischer Staaten mit all ihrem Wissen und Können voll teilzunehmen. Aber die meisten von ihnen wurden dann ebenfalls ins Exil getrieben.

All die komplexen Erfahrungen der jüdischen Einwanderer aus Nordafrika resümiert, stellvertretend für viele, der aus Marrakesch stammende Rabbiner Michel Serfaty, der eine kleine Gemeinde in der Trabantenstadt Ris-Orangis östlich von Paris leitet.

Serfaty war im Oktober 2003 von einem jungen Franko-Araber auf offener Straße beschimpft worden, er hatte daraufhin den Burschen zur Rede gestellt. Dieser versetzte ihm einen Faustschlag, rannte aber dann schnell davon. Serfaty ist etwa zwei Meter groß und ziemlich breit gebaut, also eine stattliche Erscheinung. Als Spätfolge dieses Vorfalls rief Serfaty, gemeinsam mit moslemischen Persönlichkeiten, eine jüdisch-moslemische Freundschaftsvereinigung ins Leben. Im November 2004 beteiligten sich über 1000 Personen aus beiden konfessionellen Milieus an einer ersten Tagung dieser Vereinigung in Paris.

Der heute 64jährige Serfaty kam erst im Alter von 22 Jahren nach Frankreich. „Ich bin in einer Atmosphäre des ständigen Auf-der-Hut-seins, ja auch der begründeten Angst aufgewachsen,“ erinnert sich Serfaty: „Wir trauten uns kaum aus unserem jüdischen Viertel in Marrakesch. Wir wussten, dass es Gegenden gab, wo Juden Gefahr liefen, getötet zu werden. Man kann zwar nicht sagen, dass wir direkt vertrieben wurden. Aber als mein kleiner Bruder eines Tages mit blutigem Gesicht heimkam, haben unsere Eltern beschlossen, alles liegen und stehen zu lassen und nach Frankreich zu ziehen. 30 Jahre haben wir an diese Dinge kaum mehr gedacht. Und jetzt ist es wieder soweit, dass ich hier, in Frankreich, bestimmte Viertel meiden muss, dass jüdische Kinder auf der Hut sein müssen. Es ist so, als wären wir um eine Generation zurückgefallen. So, als hätte uns Marokko wieder eingeholt.“

[1Zwischen Januar und Juli 2005 meldeten die französischen Behörden eine Halbierung der registrierten antijüdischen Taten. Jüdische Organisationen bestätigten den Rückgang der Übergriffe, der bereits im zweiten Semester 2004 begonnen hatte. Die zeitweilige Entspannung im israelisch-palästinensischen Konflikt dürfte dabei zwar eine Rolle gespielt haben, zweifelsfrei ist dieser Rückgang aber auch das Resultat der schärferen Vorgangsweise der französischen Behörden: „Polizei und Justiz wurden angewiesen, antisemitische Taten mit der selben Konsequenz wie etwa bewaffnete Raubüberfälle zu behandeln“, zitiert das Magazin Paris-Match einen Beamten des französischen Innenministeriums. Allerdings erfolgte der Rückgang von einem besonders hohen Niveau antijüdischer Übergriffe im ersten Semester 2004: In dieser Periode waren insgesamt 1513 als „rassistisch“ eingestufte Akte registriert worden. 950 davon richteten sich gegen Juden, bei 199 dieser Taten kam Gewalt zur Anwendung.

[2Siehe dazu: Bat Ye’or: Le facteur dhimmi dans l’exode des Juifs des pays arabes. In : L’exclusion des Juifs des pays arabes, Pardès 34, Paris 2003.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
2006
, Seite 5
Autor/inn/en:

Danny Leder:

Journalist, stammt aus Wien und lebt seit 1981 in Paris. Er veröffentlicht in Deutsch und Französisch.

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