Wurzelwerk » Jahrgang 1984 » Wurzelwerk 32
Roman Schweidlenka

Indianische Reflexionen

Die Verwirrung über »Führer«-Vorstellungen

Aus der Erfahrung in der Unterstützungsarbeit für traditionelle Indianer im Allgemeinen und die Hopi im Speziellen ergab sich die Notwendigkeit, den nachfolgenden Artikel zur Klärung einer wichtigen Thematik zu schreiben. Der Kontext der Thematik geht eigentlich über den Rahmen des »Indianischen« weit hinaus: Es handelt sich darum, daß Begriffe emanzipativer, lebensbejahender und humanitärer Bewegungen von reaktionären Kräften vereinnahmt und mißbraucht werden.

Dieser Mechanismus wird in unserer Geschichte deutlich: Die Romantik (1789-1830/48) war anfänglich eine gegenkulturelle und revolutionäre Bewegung, welche sich gegen die bestehende repressive politische »Ordnung« und die Verflachung des Lebens richtete. Ab 1815 führte der Sieg der Reaktion zu einer Welle von Verzweiflung — das romantische Gedankengut wurde von der revolutionären Verbindung gelöst und mit reaktionären Inhalten angreichert.

Ab 1830 verband sich der aus der Romantik stammende nationale Gedanke mit revolutionärer Hoffnung. Die Befreiung der »Nation« sollte auch das Ende der Machtpositionen der alten repressiven weltlichen und kirchlichen Autoritäten bedeuten. Im Verlauf der historischen Entwicklung wurde »national« dann in Deutschland immer mehr reaktionär besetzt und mit der Vorstellung der Überlegenheit der Germanen allen anderen Völkern gegenüber verbunden. Die Auswirkungen dieses Denkens im Dritten Reich sind hinlänglich bekannt. Auch die heutige Friedens-, Ökologie- und Alternativbewegung, in deren Umfeld die für reaktionäre Usurpation stark anfällige, meist naiv apolitische New-Age-Welle verstärkt auflebt, sieht sich mit dieser Gefahr konfrontiert: Daß emanzipative, lebensbejahende, auf ganzheitliche Befreiung und Frieden ausgerichtete Kräfte von lebensfeindlichen, reaktionären Bestrebungen »umgepolt« werden. Diese »Umpolung« erfolgt durch die Besetzung von Begriffen und »Reizwörtern«, welche dann in einem anderen Kontext verwendet werden. Dieser Beitrag soll etwas Licht in das Dunkel um den »Führer« bringen: Ich will hier der manchmal vertretenen Ansicht entgegenwirken, daß indianischer Traditionalismus und die »Blut- und Boden«-Ideologie so etwas wie wesensverwandte Brüder wären.

Der Impuls zu diesem Artikel geht von Wolfgang Bieder, Mitarbeiter des AK Hopi/Österreich zurück. Er machte bei der Unterschriftensammlung für die UNO-Resolution, welche den Hopi die Möglichkeit geben soll, vor der UNO-Generalversammlung eine globale spirituelle Überlebensbotschaft vorzutragen, die Erfahrung, daß einige Menschen am Begriff »spiritueller Führer« Anstoß nehmen. Diese Reaktion ist durchaus verständlich, da dabei die Assoziation an eine blutgetränkte Zeit unserer eigenen Geschichte wach wird. Allerdings ist ein traditioneller spiritueller »Führer« der nordamerikanischen Indianer eher das ungefähre Gegenteil zum nationalsozialistischen Führertypus. Im Nationalsozialismus wurde der Wille des Führers durch Zwang, Uniformierung, tiefenpsychologisch-manipulative Konditionierung und Angst vor harter Strafe durchgesetzt. Andersdenkenden wurde kein legitimer Platz in der Gesellschaft zugewiesen. Der dominierende Geist der Füher-Gefolgschaftsbeziehung war ein extrem militaristischer Disziplinierungsdrill.

Dem Führer Hitler hafteten auch starke mystische Züge an, er war der Übervater, der Gottmensch, der Guru, der mit den Seinen in der unio mystica verschmolzen war. Sein Wille war Gesetz Gottes, die aufopfernde Hingebung an ihn bedeutete Befreiung und Anheimstellen an die göttliche Führung. Die Paralellen zum autoritären Guru- und Sektenwesen werden hier überdeutlich. Das Ich des Menschen öffnet sich nicht in Freiheit einer ganzheitlichen Seinserfahrung, sondern opfert sich dem Führer/Guru, der statt der emanzipativen Befreiung eine seinen Interessen dienende Konditionierung dem gebrochenen Eigenwillen des Individuums einsuggeriert. Daß für dieses Vorhaben die allerschönsten »Reizwörter« verwendet werden ist für den Menschenfang natürlich notwendig.

Der aus einer ungarischen Künstlerfamilie stammende Richard Erdoes, welcher vor dem Nationalsozialismus nach Amerika fliehen mußte und heute einer der besten weißen Indianerkenner und Vertrauter der Lakota-Sioux ist, sieht im »Führerprinzip« sogar den wesentlichen Unterschied zwischen indianischem Traditionalismus und dem Nationalsozialismus. In einem Interview mit dem Journalisten Alexander Buschenreiter erklärte er: »Ja, ich glaube, der größte Unterschied besteht in dem, was die Indianer Demut nennen — du sollst demütig sein. Das bedeutet, nicht den Meister spielen, sondern — im Gegenteil — kein »Führerprinzip«. Selbst die größten Häuptlinge wie Sitting Bull oder Crazy Horse hatten keine Gewalt oder Macht in diesem Sinn. Jeder Indianer war so gut wie der andere, ein »Führerprinzip«, wie es die Nazis nannten, wäre für die Indianer gar nicht verständlich.

Ein Indianer konnte aus einem Kampf weggehen und sagen: »Meine Medizin ist schlecht« oder »Ich habe geträumt«, und niemand hätte das in Frage gestellt. Ein großer Häuptling — man ist ihm freiwillig gefolgt, weil es einem angenehm war, nicht, weil man mußte. Der Eindruck, den ein großer indianischer Führer machte, war gänzlich moralisch. Es gab keine Strafe, es gab kein Gefängnis, lediglich eine freiwillige Einordnung in eine Zelt- oder Jägerkultur«. (Buschenreiter, Alexander, Unser Ende ist Euer Untergang. Die Botschaft der Hopi und anderer US-Indianer an die Welt, S. 23)

Die meisten indianischen Gesellschaften sind nicht hierarchisch strukturiert, sondern können einigermaßen mit unserem Begriff »egalitär« bezeichnet werden, soferne man diesen Begriff auf die Gleichheit der materiellen und politischen Rechte bezieht; dazu kam freilich auch das »Recht anders zu sein«, d.h. der Respekt vor individueller Eigenart. Selbst unser Mehrheitswahlrecht war vielen Indianernationen, so auch den Hopi, noch zu unfrei. — sie vertraten die »Konsensusdemokratie«, um benachteiligte Minderheiten von vornherein zu vermeiden. Diese Praxis benötigte allerdings einige Voraussetzungen, mit welchen die moderne Industriegesellschaft gegenwärtig nicht gerade gesegnet ist: Ein hohes Maß an Geduld, um eine Problematik so lange besprechen zu können, bis der Konsensus geglückt war, die nicht nur als Lippenbekenntnis geübte Toleranz, andere Standpunkte ernst zu nehmen, und zusätzlich zu den Frauen auch die Kinder in den Entscheidungsfindungsprozeß zu integrieren und eine überschaubare, dezentrale Gesellschaftsform, deren tragendes Element verwandtschaftliche und persönliche Beziehungen waren, sowie der gemeinsame »background« in einem ganzheitlichen spirituellen Weltbild.

Gerade die Hopigesellschaft wird gerne als hierarchisch und autoritär beschrieben, primär von Ethnologen, welche die »höhere Kulturstufe« unserer Zivilisation vielfach unreflektiert vertreten; auch als »Theokratie« wurde sie bezeichnet, in Anlehnung an das tibetisch-buddhistische Modell. Der feine Unterschied ist jedoch der: Während die tibetanische Mönchskultur von den Bauern ernährt werden mußte, machen in der traditionellen Hopigesellschaft auch die »spirituellen Führer« genau das, was das ganze Volk tut: Sie bauen Mais, Kürbis, Bohnen, Chili etc. an. Und diese Tradition pflegen die »spirituellen Führer« heute noch — im Gegensatz zum demokratischen »Stammesrat«, der seinen Lebensunterhalt durch den illegitimen Ausverkauf des Landes an multinationale Konzerne verdient.

»Die ›Macht‹-Verhältnisse sind eher ausbalanciert und halten sich durch ein überaus kunstvolles Netz von Beziehungen im Gleichgewicht« (Neitsch, Mathias, Die Hopi.
Prophezeiungen, Traditionalismus, gewaltfreier Widerstand und unsere Chance zu überleben. In: Kelly, Richard (Hrsg.), Informationsdienst Indianer Heute, Nr. 3/84)

Die Aufgabe der »höchsten spirituellen Führer« der Hopi, der Kikmongwi, ist es, die Harmonie von Land und Leben zu sichern. »Spirituelle Führung« bedeutet die Anleitung zu einem Leben, welches Fruchtbarkeit und Frieden bewahren soll. Da der Kikmongwi durch seine Schulung, spezielle Einweihungsvorgänge, darüber das umfangreichste Wissen (nicht auf die rationale Ebene beschränkt) hat, »folgen« ihm die traditionellen Hopi, d.h. sie helfen ihm bei seiner Aufgabe, Land und Leben zu behüten. Der Kikmongwi kann auch eine Frau sein. Wenn Hopi, wie heute die sogenannten »Progressiven«, diesen »Anweisungen« nicht folgen, so steht es ihnen frei, einen anderen Weg zu gehen. Die alten Traditionalisten schmerzt es, wenn ihre Kinder den Weg des »weißen Mannes« wählen — die versuchte Eingliederung in eine entfremdende, anonymisierende, abhängig machende, ausbeuterische Zivilisation, welche den Indianer als Untermenschen betrachtet und einer rassistischen Gesetzgebung unterwirft.

Aber jeder Hopi hat das Recht, freiwillig zu wählen. Das Ausüben von Zwang lehnen die Hopi rigoros — auch in ihrem politischen Widerstand — ab. Diese Haltung ist sicherlich durch ihr praktiziertes Bekenntnis zur Gewaltlosikgeit mitbedingt. Viele traditionellen Hopi saßen während des zweiten Weltkrieges, unter Mißachtung ihrer Rechte auf religiöse Selbstbestimmung, als Kriegsdienstverweigerer im Gefängnis.

Diese tolerante, nicht mit repressiver Machtfunktion verbundene Aufgabe des »Häuptlings« ist bei vielen nordamerikanischen Indianerstämmen belegt. Der Häuptling war vielmehr Ratgeber ohne ausführende Polizei, war oft absetzbar und mußte bei manchen Stämmen sogar der materiell Ärmste im Volk sein. Natürlich genoß er großes gesellschaftliches Ansehen, aber die »Ehre« machte sich nicht durch Kapitalakkumulation oder eine dominierende Machtposition bezahlt, sondern erforderte eine gesteigerte Verantwortungs- und Liebesfähigkeit.

Die Diskriminierung vieler Ethnologen, welche die »Häuptlinge« als Despoten bezeichneten, ist oft eine Projektion der ungeschminkten Wirklichkeit der eigenen Herrschenden auf eine als rückständig und barbarisch abgeurteilte Kultur — allerdings soll das Beispiel vieler nordamerikanischen Indianernationen nicht zu einer Idealisierung der Naturvölker führen, welche sich in ihrer Gesellschaftsstruktur oft sehr wesentlich voneinander unterschieden.

Der »spirituelle Führer« ist kein Guru; er hat eine große Verantwortung gegenüber dem Gedeihen aller Lebensformen, aber er ist nicht jene Autorität, jener »einzig wahre«, auf eine Person konzentrierte Monopol-Heilbringer, der anderen die Befreiung bringt. Die Idee des elitären Gottmenschen, die durch die europäische und östliche Esoterik geistert, ist traditionellen Indianern unbekannt. Die Gesellschaft und die »spirituellen Führer« können inspirieren und anregen, auf Möglichkeiten und Gefahren hinweisen, die Kommunikation zwischen den Menschen und der spirituellen Welt erfolgt aber ohne Vermittler, ohne eine Autorität, die vorgibt, die höchste Wahrheit als Monopo! gepachtet zu haben, um so das »einfache Volk« in angsterfüllter Knechtschaft zu halten.

Daher ist es verständlich, daß der traditionelle indianische »Elders Circle«, welchem der Dolmetsch der traditionellen Hopi, Thomas Banyacya sen. angehört, so eindringlich vor dem guruähnlichen Auftreten der geschäftstüchtigen, entpolitisierten Plastikmedizinmänner warnt, welche auf Grund der Nachfrage durch exotik- und mystikhungrige Weiße wie Schwammerln aus dem Boden schießen und bei den Stämmen, von denen sie angeblich kommen, unbekannt sind.

Dieser Versuch einer Beschreibung der »spirituellen Führer« der Hopi ist natürlich durch meine »weiße Brille« gesehen und trifft sicherlich nicht das Empfinden und Verständnis, das traditionelle Indianer ihren »Führern« entgegenbringen. Ich hoffe aber damit doch deutlich gezeigt zu haben, daß man die »Führer« nicht in einen Topf werfen kann — daß vielmehr der »spirituelle Führer« der Indianer eher das Gegenteil zum Führertypus im Nationalsozialismus ist.

Das Wissen um diese Differenzierung ist heute sehr wichtig, da auch ariosophische Gruppen, welche die Überlegenheit der Germanen und Arier betonen, durch die stärker werdenden neuheidnischen Strömungen in unserem Kulturkreis motiviert, nun gerne als »traditionelle Germanen« auftreten und sich teilweise als bodenständige, legitime »Erben« der europäischen Indianerbewegung betrachten. Dieser Anspruch ist durch eine seriöse Analyse nicht haltbar, kann bei der gegenwärtigen Popularität der Indianer jedoch große Verwirrung und »Verführung« mit sich bringen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1984
, Seite 22
Autor/inn/en:

Roman Schweidlenka:

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