MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 54
Franz Schandl

Gorbat-Show

Als eifrigem Leser der in Wien herausgegebenen Zeitschrift „SOWJETUNION HEUTE“ mußte es einem schon früher auffallen. Dieser Gorbatschow hat eigentlich wenig zu sagen. Seine Ausführungen zum Sozialismus erinnern an die alten Einführungen in diesen, sein Neues Denken frappant an westliche Stehsätze und Nullaussagen. Eigenständiges oder Neues suchen wir vergebens. Ideologisch geben sich da stalinistische Konfusion und westliche Infusion die Hand. Wobei die bürgerliche Phrase zusehends über die sozialistische Phrase obsiegt.

Die herrschende Begrifflichkeit des Westens — neuerdings spricht man sogar von offener Gesellschaft, von totalitären Systemen, von ideologiefreien Beziehungen auf internationaler Ebene etc. findet sich zunehmend in offiziellen Publikationen aus der Sowjetunion. Denunzierte man vor wenigen Jahren noch alles nichtstalinistische linke Denken als kleinbürgerlich oder gar objektiv konterrevolutionär, so betet das Neue Denken westliche Formeln nach. Das Neue ist somit älter als das Alte.

Mit Sozialismus haben Gorbatschows Überlegungen zweifelsohne wenig zu tun, eher schon mit gesundem Menschenverstand, der da verkleidet hinter allgemeinmenschlichen Werten und unter dem Primat der Gattungsfrage auf uns zukommt.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Gorbatschows geplante Marktwirtschaft über die soziale zur freien wird. Detto die Demokratie, die von einer Wiederbelebung der Räte wohl schnurstracks zum obligaten Parlamentarismus fortschreitet. Detto alle anderen Fragen. Auch wenn er es (noch) nicht zugibt, ist es offensichtlich: Gorbatschow hat keine Alternativen zum Westen.

Die Sowjetunion steht vor dem Zerfall, der Aufbruch wird im Umbruch, der Restauration bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse enden.

Was vor Jahren hoffnungsvoll begann und gar oft mit einem neuen Aufbruch des Sozialismus verwechselt wurde, endet im Fiasko. Heute übt Gorbatschow sich in hinterhereilendem Gehorsam, er tut das, was die Bush und Kohl für ihn und für sein ehemaliges Reich vorgesehen haben. Er ist schön langsam dort angelangt, wo er außer den Interessen des Westens eigentlich nichts und niemanden mehr vertritt. Zumindest keine Klasse oder Schicht oder auch bloß Nationalität in der Sowjetunion. Die Applaudoren sind woanders. „Gorbi, Gorbi“ rufen jene, die sich einst vor dem russischen Bären (zu Unrecht) fürchteten.

Da wird in der Weltpolitik einer aufgeführt und vorgeführt, der schon längst nichts mehr anführt, sondern nur noch ausführt. Ein kategorisches Nein seiner Person ist meistens der sichere Garant dafür, daß etwas einige Monate später Realität wird. Sprach er vor Jahren noch gegen das Mehrparteiensystem in der Sowjetunion, so steht es jetzt vor der Einführung, sprach er von der Unverletzlichkeit des Sozialismus und des Warschauer Vertrages, so ist erster in Auflösung und letzter faktisch schon beseitigt.

Nur Schlitzohren können dies leugnen oder folgeunrichtig uminterpretieren. Wie etwa Vitali Tretjakow in der „Moskowskije Nowosti“. Der scheibt, man lese und staune: „In dieser Beziehung verhalten sich diejenigen unvernünftig, die Gorbatschow darauf festnageln wollen, daß seine Aussagen von gestern und besonders von vorgestern nicht mit dem heute Gesagten übereinstimmen. Warum wollen sie denn das Offensichtliche nicht sehen, die Eigenentwicklung des Anführers, der sich 1985 eine politische Aufgabe gestellt hat und nun gezwungen ist, die Anforderungen immer höher zu schrauben?“

Solche Hochschrauber nennt man für gewöhnlich Hochstapler.

Trotz aller Worte und Beteuerungen: auch in der Deutschlandfrage wie in den Nationalitätenkonflikten innerhalb der Sowjetunion wird Gorbatschow nachgeben, weil nachgeben müssen. Denn Gorbatschow ist international wie national — im Vergleich zu seinen Vorgängern — völlig macht- und hilflos. Darüber sollten auch seine Drohgebärden nicht hinwegtäuschen.

Die Früchte des Sieges im Zweiten Weltkrieg sind verspielt, die Sowjetunion ein zerbröselndes Reich, der Rest eine Macht zweiter Größe, so wie vor Peter I. Der Sozialismus ist trotz aller falschen Bekenntnisse auf Jahrzehnte kaputt. Gorbatschow ist ein doppelter Bankrotteur.

Er hat seine Schuldigkeit getan und wird daher bald gehen müssen. Der letzte (ergebnislose) Gipfel mit Bush wird wirklich der letzte der beiden gewesen sein. Dem Übergangspräsidenten Gorbatschow wird schon bald der Untergangspräsident Jelzin folgen.

Das ist wirklich so gemeint. Die Sowjetunion geht unter. Da wird auch Gorbatschows neuester Vorschlag von einem Bund souveräner Staaten nichts aufhalten. Der Osten ist dem Westen zur Neuaufteilung freigegeben. Das Gleichgewicht des Schreckens ist einem schrecklichen Ungleichgewicht gewichen.

Wir erleben das Ende nicht nur der Nachkriegsordnung, sondern auch der Nachkriegszeit. Entgegen allen Beteuerungen vom Rückgang der Kriegsgefahren, glauben wir, davon ausgehen zu müssen, daß diese erstmals auch in den bürgerlich-kapitalistischen Demokratien auf Grund innerimperialistischer Konflikte wieder ansteigen werden, eben weil die ehemalige Gegenmacht vernichtend geschlagen werden konnte. Die Sowjetunion mag zwar nie sozialistisch oder gar kommunistisch gewesen sein, eines war sie aber: ein Garant des Friedens auf internationaler Ebene und weltweit der bedeutendste antiimperialistische Faktor. Beides ist heute bereits Geschichte.

Im Westen war Gorbatschow vor allem deshalb so beliebt, da er diesen Einbruch der anderen Weltmacht mit einer — wie sich heute herausstellt — relativ unüberlegten und unkoordinierten Politik erst ermöglichte. Seitdem hat der Westen die Gorbat-Show nicht mehr von seinem Spielplan abgesetzt.

Doch nun läuft sie aus. Vorher werden wir noch einiges erleben: ein Aufnahmeansuchen in die II. Internationale und in die NATO, eine Relativierung und schlußendlich Verdammung des Staatsgründers Lenin und eine umfangreiche Entschuldigung für die Oktoberrevolution.

Gänzlich lächerlich wirkt Gorbatschow als Möchtegern-Bonaparte der Sowjetunion. Einführung und Übernahme der Präsidentschaft sind bloß weitere aussichtslose Versuche. Tempo, Richtung und Rollen bestimmen schon länger die westlichen Kalten-Kriegsgewinner, die eigentlichen Profiteure dieser Entwicklung. Gorbatschow selbst hält nur noch auf, was nicht mehr aufzuhalten ist. Es ist sein letzter Sommer.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1990
, Seite 18
Autor/inn/en:

Franz Schandl:

Geboren 1960 in Eberweis/Niederösterreich. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Wien. Lebt dortselbst als Historiker und Publizist und verdient seine Brötchen als Journalist wider Willen. Redakteur der Zeitschrift Streifzüge. Diverse Veröffentlichungen, gem. mit Gerhard Schattauer Verfasser der Studie „Die Grünen in Österreich. Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft“, Wien 1996. Aktuell: Nikolaus Dimmel/Karl A. Immervoll/Franz Schandl (Hg.), „Sinnvoll tätig sein, Wirkungen eines Grundeinkommens“, Wien 2019.

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