Context XXI » Print » Jahrgang 1999 » Heft 6/1999
Ludmilla Krenz
Tschetschenien

Föderalisten contra Sezessionisten

In den Darstellungen zum Krieg in der Kaukasusrepublik bleibt die aktive Rolle Tschetscheniens weitgehend ausgeblendet.

Der Tschetschenienkrieg hat die Schlagzeilen der letzten Wochen beherrscht. Kaum jemand scheint sich jedoch die Mühe zu machen, unter die Oberfläche des Konflikts vorzudringen. So entsteht der Eindruck von einem passiven Westen, der unter Hinweis auf Atomwaffen und die nach wie vor vorhandene Machtstellung Rußlands jede Art von Intervention von sich weist, und eines unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung brutal einen Teil des eigenen Landes angreifenden Rußlands. Die Rolle Tschetscheniens kommt kaum zur Sprache — es ist auf ein Opfer reduziert und wird als Akteur ausgeblendet. Allenfalls kennt man noch den Präsidenten und eben Bilder von vielen anonymen Flüchtlingen — die wenigen, die die Zensur passieren.

All diese Eindrücke sind nicht aus der Luft gegriffen: Der Westen ist untätig und hat wohl seine Gründe dafür. Rußland ist aggressiv und führt einen erbarmungslosen Zerstörungskrieg, der wenig Rücksicht auf Zivilisten nimmt, und verhält sich auch Flüchtlingen gegenüber äußerst unzivil. Tschetschenien wird bekämpft und kann (zumindest vorläufig) der militärischen Vormacht wenig entgegensetzen. Aber ist der Konflikt damit hinreichend analysiert?

Gerade im Hinblick auf die wiederkehrende Kaukasusproblematik wird immer wieder deutlich, wie träge der internationale Diskurs selbst auf einschneidende Veränderungen reagiert. Die Vorstellung von einem konsistenten, homogen strukturierten Rußland, undemokratisch bis auf die Knochen, weitgehend unverständlich, aber mächtig, ist nach wie vor dominant. Es erscheint imperialistisch wie eh und jeh. Veränderungen werden kaum wahrgenommen.

Im Zusammenhang mit dem Tschetschenienkrieg kommt es vor allem auf eine Verschiebung an — die Föderalisierung Rußlands. Ohne Wissen um diese Föderalisierung und ihre Vorgeschichte bleibt jede Debatte über das heutige Rußland, letztlich auch über Tschetschenien hohl. Gewiß kann man im Falle Rußland nicht von Demokratie sprechen — ich gehe davon aus, daß sie das ursprünglich angestrebte Ziel war - das heißt aber andererseits nicht, daß alles beim Alten geblieben ist. Im Gegenteil: eine reale Dezentralisierung der Macht hat stattgefunden. Während die Regionen früher verlängerte Arme des Regimes waren, nehmen sie nun teil am politischen Leben. Die Vorstellung von Rußland als minderheitenfeindlichen Staat mit imperialen Gelüsten wieder und wieder zu reproduzieren greift zu kurz und wird der veränderten Realität nicht gerecht. Ein sowjetisches Vermächtnis unter vielen anderen ist die föderale Struktur, früher ausschließlich nominal, die sich im Laufe der letzten zehn Jahre aufgeladen, mit realen Autonomien „gefüllt“ hat. Die Ausgangslage war gekennzeichnet von der Präsenz zahlreicher nichtrussischer Ethnien (heute noch ca. 200). Um deren Loyalität zu erlangen, schufen die Bolschewiken als Gegengewicht zu den bourgeoisen Zentralstaaten in den zwanziger und dreißiger Jahren eine komplizierte föderale Ordnung, die den größeren nicht-russischen Gruppen ein Territorium zuteilte, das sich dann „autonome Republik“ nannte. Die an diese verschiedenen Typen von föderalen Einheiten gebundenen Rechte waren ursprünglich rein formale, doch erlangten sie im Laufe der Zeit symbolische Bedeutung. In gewissen Perioden wurden „indigene“ Eliten ausdrücklich gefördert und positiv diskriminiert, sodaß die ethnische Herkunft als Bezugspunkt forciert, ihr gleichzeitig aber wenig Ausdrucksmöglichkeit eingeräumt wurde. In der turbulenten Zeit des Übergangs von der Sowjetunion zum neuen russischen Staat kam es zu Verschiebungen, die zu der heutigen Struktur führten. Die Russische Föderation umfaßt 89 sogenannte Föderationssubjekte (Pendants zu den österreichischen Bundesländern), davon 21 ethnisch definierte autonome Republiken. Etliche dieser 21 Republiken nahmen von Anfang an am Verteilungsspiel um die Macht sehr engagiert — und mit viel Erfolg — teil. Das berühmteste und immer wieder bemühte Beispiel ist Tatarstan, eine muslimische Republik an der Wolga, also mitten in Rußland. Tatarstan erklärte sich 1990 für unabhängig und verfolgte diesen Kurs, bis es sich 1994, dem Jahr, in dem der erste Tschetschenienkrieg ausbrach, dazu entschloß, einen Vertrag mit dem föderalen Zentrum zu unterzeichnen, der ihm weitgehende politische, aber auch wirtschaftliche Autonomie zugestand. Das Ausmaß der Autonomie übersteigt die sonst in einer Föderation üblichen Arrangements. In politischen und akademischen Kreisen begann gar das Wort „Konföderation“ herumzugeistern. Diese Lösung wurde von den einen als Erfolg gefeiert, da der Fall Tschetscheniens bereits gezeigt hatte, wohin Nichtverhandeln führen kann. Andere wiesen auf die inhärenten Gefahren hin: Was würden andere Republiken sagen, wenn Tatarstan plötzlich das Recht hat, einen wesentlich größeren Steueranteil einzubehalten oder direkt außenpolitische Beziehungen zuetablieren? Beide Positionen sind gerechtfertigt. Die ad-hoc Verhandlungslösung war imstande, eine bewaffnete Eskalation zu verhindern. Es bleibt aber fraglich, ob sie eine auf Dauer praktizierbare Variante darstellt. Würden nicht permanente Neuverhandlungen die Existenz der Föderation ebenso bedrohen, nur eben später? Wie auch immer, seither ist Rußland eine „Verhandlungsföderation“ mit Tatarstan als fixem Bestandteil. Tatarstan seinerseits hat sich im neuen Machtgefüge einen Platz als wachsendes Machtzentrum erobert. Sein Präsident Schajmiev ist praktisch täglich Gast in den staatlichen und nichtstaatlichen allrussischen Fersehkanälen sowie auf den Seiten der Printmedien. Der Einfluß dehnt sich auch auf Institutionen aus. Schajmiev gibt im Föderationsrat, der zweiten Parlamentskammer, die den „Bundesländervertretern“ Einfluß auf die föderale Politik sichert, den Ton an.

Sonderfall Tschetschenien?

Rußland ist es mit anderen Föderationssubjekten also weitgehend gelungen, Souveränitätsbestrebungen und Sezessionsgelüste auf dem Verhandlungsweg einzudämmen. Warum nicht mit Tschetschenien? Klare Antworten sind hier schwierig. Es ist zu wenig bekannt über die wahren Absichten der Kriegstreiber auf beiden Seiten. Man muß sich also mit vorsichtigen Einschätzungen begnügen.

Die Feindschaft zwischen Russen und Tschetschenen reicht bis weit in die Geschichte zurück. Schon im letzten Jahrhundert tobten Kämpfe. Die russischen Kämpfer stießen während ihres Unterwerfungsversuchs auf erbitterten Widerstand, was sie wiederum mit zunehmender Brutalität quittierten. Letztlich wurde Tschetschenien unterworfen, doch der Unabhängigkeitswunsch blieb bestehen und äußerte sich bei jeder Gelegenheit bis hin zur Revolution. Wie oben beschrieben, erlangten die verschiedenen Ethnien, darunter auch die Tschetschenen, nach der Revolution verbriefte Rechte, die aber durch die Allmacht der Partei real relativ bedeutungslos waren. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Tschetschenen kollektiv nach Sibirien und Zentralasien deportiert.

Als sie nach dem Zerfall der Sowjetunion einen neuen Unabhängigkeitsversuch starteten (indem sie einfach die Zugehörigkeit zur Russischen Föderation ignorierten), kam es zum ersten Tschetschenienkrieg, der von 1994 bis 1996 dauerte und mit einem Vergleich endete. Rußland versprach, Reparationen zu zahlen und nach einigen Jahren ein Unabhängigkeitsreferendum abhalten zu lassen. Damit schien die Sache erledigt. Tschetschenien schien als Teil Rußlands abgeschrieben; für das berühmte Pipelineproblem würde man eine andere Lösung finden; so wiegte man sich in Sicherheit. Gleichzeitig kamen die russischen Reparationen nie bei den Empfängern an. Ob sie nie abgeschickt wurden oder am Weg verschwanden, ist unklar. Die wirtschaftliche Lage war verheerend, die Arbeitslosenzahlen horrend (beides allerdings keine Phänome, die in Restrußland unbekannt wären). Auch das politische Leben Tschetscheniens blieb fragmentiert. Der gewählte Präsident verfügte nie über wirkliche Kontrolle über sein nominelles Wahlvolk. Gleichzeitig wurde das Leben mehr und mehr islamisiert. Die Scharia wurde eingeführt. Und dann bricht 1999 plötzlich ein neuer Krieg aus. Ein Krieg an vier Fronten, wie das Journal Vlast in seiner Septemberausgabe schrieb: an der geopolitischen, an der Ölfront, an der Vorwahl- und an der Informationsfront. Was sind die Gründe für den Krieg? Bezüglich der Geopolitik und des Öls wird in Rußland davon ausgegangen, daß es hauptsächlich um amerikanische Interessen in der Kaukasusregion gehe. Es gehe wie immer ums Öl. Die Islamisten mit ihrer Idee von einem großen muslimischen Staat unter tschetschenischer Führung hätten sowohl dem Westen als auch Rußland einen Strich durch die Kaukasus-Spaltungs- und Befriedungsrechnung gemacht. Deshalb sei eine Destabilisierung und im Gefolge eine Restabilisierung mit mehr Westeinfluß im amerikanischen Interesse. Die Vorwahlfront ist ein beliebtes Erklärungsmuster in westlichen Medien. Ein erneuter Kriegsausbruch sei im Interesse des Kreml gewesen, um Putin die für eine erfolgreiche Wahlschlacht nötige Plattform zur Demonstration von Stärke und Durchsetzungsfähigkeit zu verschaffen. In diesem Szenario spielen auch andere Akteure eine Rolle: Die Oligarchen versuchten auf diesem Wege ihr Überleben zu sichern, die Armee räche sich für die im ersten Tschetschenienkrieg erlittene Niederlage und mache sich mehr und mehr selbständig.

Bleibt noch die Informationsfront. Putins größter Erfolg ist es wohl, daß er eine überaus erfolgreiche Informationsschlacht schlägt. Noch gelangen keine Bilder von Gräbern nach Rußland, wie während des Afghanistan- und des ersten Tschetschenienkrieges, die über kurz oder lang Widerstand hervorrufen würden. Ein vermeintlich „sauberer“ Krieg à la Kosovo wird geführt, der zwar Zivilisten tötet, aber die eigenen Soldaten möglichst ungeschoren läßt. Falls sie nicht ungeschoren bleiben (was wahrscheinlich ist), bleibt das undokumentiert. Die Ergebnisse können sich sehen lassen: Putins Popularitätswerte steigen stetig, was nicht zuletzt auch ein Resultat der russischen „Tschetschenenphobie“ ist. Schon seit Jahrhunderten verkörpern die Tschetschenen das Fremde, das Unberechenbare. Alte Feindbildmuster können leicht mobilisiert werden, um ein Bedrohungsgefühl hervorzurufen. Alarmierend ist dabei, daß die Gegenstimmen (im Gegensatz zu 1994) fast verstummt sind. Der antitschetschenische Konsens gilt praktisch landesweit.

Wo ist nun der Platz Tschetscheniens in alldem? Ist es vorrangig Opfer? Wer ist überhaupt Tschetschenien: Maschadov? Die Flüchtlinge? Die Freischärler? Ich stelle diese Fragen keineswegs, um Rußland von seiner Verantwortung zu entbinden. Im Gegenteil: Rußlands Vorgehen scheint mir inhuman und unentschuldbar. Trotzdem bleibt die Frage: warum Tschetschenien. Man hätte schließlich auch andere Opfer finden können.

Einerseits existieren objektive Gründe, unter anderem geographischer und demographischer Natur. Tschetschenien liegt an Außengrenzen und es liegt in einer Öltransitregion. Weiters ist Tschetschenien, im Unterschied zu den meisten anderen Republiken, ethnisch relativ homogen (nachdem sich Inguschetien abgespalten hat und zu einer separaten Republik geworden ist und Anfang der neunziger Jahre der Großteil der russischen und ukrainischen Einwohner abgewandert ist). Zweitens gibt es auf tschetschenischer Seite die Absicht, unabhängig zu werden, koste es, was es wolle. Von Beginn der postsowjetischen Ära an hat Tschetschenien jede Art von Zusammenarbeit konsequent verweigert. Es ist allerdings unklar, wie sehr die Bevölkerung diese Politik unterstützte. Dieses Vorgehen fand weitgehend unter religiösen Vorzeichen statt, die wenig Platz ließen für Demokratie. Im Gegenteil, ein patriarchaler Kriegerstaat wurde forciert, der auch innerlich nicht unfragmentiert war.

Die russischen Gründe wurden bereits diskutiert — vom Ablenkmanöver bis zur Destabilisierungsthese ist alles letztendlich plausibel — zumal vor dem Hintergrund weit verbreiteter Sündenbock- und Verschwörungstheorien.

Und eine Lösung? Allzu reflexartig fällt einem die Unabhängigkeit als erster Ausweg ein. Damit landen wir bei einem Grunddilemma der internationalen Politik. In welchen Grenzen findet ein politisches System statt? Der Formierung einer politischen Einheit muß eine Entscheidung über die Grenzen vorausgehen, getroffen von irgendjemandem, dessen Legitimation niemand festlegen kann - also unausweichlich eine Form von Zwang. Systeme immer weiter zu parzellieren löst das Grundproblem nicht. In den Subsystemen finden sich auch Subminderheiten und neue Ausschlußgründe. Ausverhandelte Föderationen, zumal solche mit verschiedenen Graden von Autonomie, können eine Lösung darstellen. Im russisch-tschetschenischen Fall hat sie jedoch nicht gegriffen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1999
, Seite 17
Autor/inn/en:

Ludmilla Krenz: Ludmilla Krenz arbeitet an einer Dissertation über die Russische Föderation und hielt sich mehrfach zu Forschungszwecken in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf.

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