MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 57
Erica Fischer

Es wäre doch mal schön ...

Anläßlich des Anschlusses von Deutschland Ost an Deutschland West nach Artikel 23 des bundesdeutschen Grundgesetzes fand Ende September in Frankfurt ein Frauenforum für eine neue Verfassung statt.

Die Entweihung der mit lila Blumen geschmückten Paulskirche durch Professorinnen im kleinen Schwarzen und Studentinnen in Jeans und Lederjacke wirkt wie eine späte Wiedergutmachung. Denn das ebendort 1848 verabschiedete „Gesetz über die Grundrechte“ des Deutschen Volkes dachte nicht im Traum daran, besagtes Volk auch weiblich zu denken. Die durch „allgemein und gleich“ genanntes Wahlrecht zustandegekommene Frankfurter Nationalversammlung wurde von Männern gewählt, setzte sich aus Männern zusammen, vertrat männliche Interessen.

Hundert Jahre später sind die Westdeutschen einen Schritt weiter. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, heißt es in Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes verheissungsvoll. Ein bescheidenes Sätzlein, das den uneinsichtigen Vätern der frischen Bundesrepublik in zähen Verhandlungen abgerungen werden mußte. Die aus dem mörderischen Männlichkeitswahn entstiegenen deutschen Männer waren zur Stelle, um ihr Machtwerk fortzusetzen.

Heide Hering von der Initiative „Frauen in bester Verfassung“ beschreibt zwei Fotos, die die Machtverteilung im Jahre 1990 symbolisieren: Bild Nummer 1, Juni 1990, der Deutsche Zentralbankrat berät über die Währungsunion, ein Riesentisch: 30 Personen, keine weiblich. Bild Nummer 2, September 1990, die Unterzeichnung des Abschlußdokuments der 2 plus 4 Verhandlungen: im Vordergrund sechs unterschreibende Personen, männlich; im Hintergrund etwa 60 Personen — die einzelnen Regierungsstäbe, alle männlich; nein, drei oder vier Frauen sind auszumachen, aber wir sind sicher, es handelt sich um die Übersetzerinnen. Das autoritäre Männerregime des SED-Staates ist zusammengebrochen, sein kapitalistisches Gegenstück ist nur scheinbar bei besten Kräften, doch die Männer sind erneut zur Stelle. Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Rechtsprechung, Wissenschaft, Kultur, Medien — Sie wissen es genauso wie ich — nirgends sind die Frauen beider deutscher Staaten so vertreten, wie es dem in ihren Verfassungen verankerten Gleichheitsgrundsatz entspräche. Und Hering hat einen Traum: Ein zur Hälfte mit Frauen besetzter Verfassungsrat arbeitet eine neue deutsche Verfassung aus, die dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird. Das gab es noch nie. Es wäre zum ersten Mal in der Welt, daß eine Verfassung von Frauen gleichberechtigt mitgestaltet würde. „Es wäre doch mal schön, wenn Deutschland in der Weltgeschichte einmal positiv auffiele“, spinnt Heide Hering.

Auch die grüne Rechtsanwältin Birgit Laubach hat eine Utopie: Der Gleichheitsgrundsatz wird in seiner Auswirkung so lange sexistisch bleiben, als der männliche Mensch die Norm bildet, an die das Weibliche anzugleichen ist. Demokratie wird mit Einheitlichkeit verwechselt, doch Demokratie setzt Unterschiedlichkeit voraus. Gerade bei den Geschlechtern ist die konkrete Umsetzung der Differenz quantitativ unproblematisch. Laubach träumt von einen Zwei-Kammern-Parlament, in dem Männer und Frauen getrennt beraten und in einem Einigungsverfahren gehalten sind, ihre jeweils anderen Erfahrungen und Bedürfnisse gegeneinander abzuwägen. Eine strikte Quote allüberall bis hin zu Wahlen nach Geschlecht würde die Interessenkonflikte zwischen Frauen und Männern sichtbar machen.

Die — so die Frankfurter Professorin Ute Gerhard — wie ein Schneeball in die Landschaft geworfenen Vorschläge zu einem neuen „Gesellschaftsvertrag“ haben sich als diskussions- und verbesserungsbedürftig erwiesen. Der Versuch, einen Demokratiebegriff, der die Freiheitsrechte des deutschen Mannmenschen zugunsten von Frauen, Ausländerinnen und Ausländern, Kindern und der Natur begrenzt, auf ein patriarchales, dem Eigentum verpflichtetes Gesetzeswerk zu übertragen, ist kein simples Unterfangen. Die Kluft zwischen dem Denkbaren und von Frauen mit Selbstverständlichkeit Gedachten und den realen Umsetzungsmöglichkeiten wird in der Paulskirche immer dann spürbar, wenn sich die Disputantinnen in rührender Selbstvergessenheit anschicken, imaginären Kontrahenten realpolitische Konzessionen einzuräumen, als stünde der Traum von der Gleichheit zwischen Männern und Frauen mit geringfügigen Abstrichen vor seiner baldigen Verabschiedung. „Jede Frau hat das Recht, nach ihrem Gewissen zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht“, steht also in Artikel 4 Absatz 4 als Kotau an Rita Süßmuth. Doch den meisten Frauen ist dieses Gewissen fremd, in dessen Namen überwiegend Schindluder getrieben wird.

„Um alle diese wunderbaren Vorschläge durchzusetzen, brauchen wir Mehrheiten“, holt eine junge Frau die hochfliegenden Pläne auf den Boden der repräsentativen Demokratie zurück. Den nötigen Druck zu erzeugen, um diese zu erreichen, wird schwer sein. Die Weiber von Paris, die 1789 in der Nationalversammlung zu Versailles ihr Jausenbrot auspackten, und die Suffragetten von England, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts massenhaft in die Gefängnisse drängten, hatten noch Grund, ihre Hoffnungen an Gesetze zu heften. Im Deutschland von heute gibt es zwischen der Paulskirche und der Straße keine Verbindung.

Und doch: Ein Frauenentscheid zur gesamtdeutschen Neuregelung des Abtreibungsparagraphen 218 wäre ein strategisches Zwischenziel, für das sich vielleicht sogar männliche Bündnispartner gewinnen liessen, eine exemplarische Verquickung von direkter Demokratie und der Forderung der Frauen, über ihre körperliche und psychische Integrität ausschließlich selbst zu entscheiden. Mal sehen.

Werbung

Erstveröffentlichung im FORVM:
November
1990
, Seite 60
Autor/inn/en:

Erica Fischer:

Freie Autorin, Buchübersetzerin (aus dem Englischen) und Journalistin in der Bundesrepublik Deutschland, seit Ende 1995 in Berlin.

Lizenz dieses Beitrags:
Copyright

© Copyright liegt beim Autor / bei der Autorin des Artikels

Diese Seite weiterempfehlen

Themen dieses Beitrags