Am 17. Jänner 2006 betritt eine blonde, junge Frau einen Handyshop am Boulevard Voltaire in Paris. Sie wird sich dort ein Rendezvous mit dem 23-jährigen Ilan Halimi, dem Verkäufer, ausmachen. Vom Rendezvous am 21. Jänner kommt Ilan Halimi nicht zurück.
Drei Wochen lang wird er in einem Wohnhaus in der Rue Serge-Prokofiev, in Bagneux, einem Vorort von Paris, festgehalten und aufs brutalste gefoltert. Die ersten Tage wird er in einer Wohnung gefangengehalten, danach im Keller. Die Entführer verlangen 450.000 Euro und nennen sich „Die Gang der Barbaren“. Die Familie des Opfers erhält Photos, die stark an jene Bilder erinnern, welche im Irak von Entführern gemacht werden — ein Gewehr zielt auf den Kopf. Es gibt Telefonate mit der Familie, im Hintergrund werden Koranverse zitiert.
Die Polizei verlangt von der Familie Stillschweigen, manche AnrainerInnen der Rue Serge-Prokofiev — die scheinbar einiges mitbekommen — schweigen leider auch. Rafi Halimi, der Onkel des Opfers, verhandelt mit den Tätern. Als er bekundet, keine 450.000 Euro jemals auftreiben zu können, sagen die Entführer, dass er doch in die Synagoge gehen soll, um dort das Geld zu sammeln. Die Entführer sind schlecht organisiert, können nicht klar Auskunft geben, wie das Lösegeld — inzwischen 100.000 Euro — übergeben werden soll. Dann hört man nichts mehr.
Am 14. Februar liest die Mutter Ilans in einer U-Bahn-Zeitung, dass am Vortag ein junger Mann sterbend gefunden wurde. Es ist ihr Sohn. Man hat ihn beim Bahnhof von Sainte-Geneviève-des-Bois gefunden: nackt, gefesselt und zur Gänze übersäht mit furchtbaren Folterspuren, Schnittwunden, Brandwunden, Verätzungen. Seinen Körper bedecken zu 80% blaue Flecken.
Auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt Ilan. Roger Cukiermann, Päsident des CRIF (Dachverband der jüdischen Institutionen Frankreichs) wird später überzeugt sein: „So, wie Ilan zugerichtet wurde, wie furchtbar er gefoltert wurde, das zeigt, dass ein unglaublicher Hass im Spiel war, neben der Geldgier der Täter. Also ein Raubmord und Antisemitismus zugleich.“
Am 17. Februar wird Ilan am Friedhof von Pantin beerdigt.
Die Berichterstattung in den französischen Medien ist zunächst sehr zurückhaltend in Bezug auf die antisemitische Motivation. Nachdem die Mutter Ilans der Tageszeitung Haaretz vom Schicksal ihres Kindes erzählt und dabei betont hat, dass ihr Sohn nur deshalb entführt wurde, weil er Jude war, gewinnt auch in der französischen Öffentlichkeit der Fall immer mehr an Aufmerksamkeit.
Während dieser Zeit wird ein Phantombild der jungen Frau in Umlauf gebracht, mit der sich Ilan verabredet hat. Sie meldet sich anschließend von selbst bei der Polizei. Der Name der 24-jährigen ist Audrey und sie ist die Freundin von Jerome, einem 19-jährigen Gangmitglied, der nach Aussagen eines Anrainers von Bagneux schon am 27. Jänner die Bande verlassen hat, als im klar wurde, dass das Opfer getötet wird. Er soll damals gesagt haben: „Ich hab Panik, die bringen den Typen um!“ Audrey berichtet auch, dass sie schon zweimal versucht hat, jemanden — zwecks Entführung — „aufzureißen“. Den Ermittlungen zufolge hatte die „Gang der Barbaren“ vor Ilan schon fünfmal den Versuch unternommen, jemanden zu entführen, drei der fünf potentiellen Opfer waren Juden gewesen. Dass Ilan Halimi getötet werden sollte, will Audrey nicht gewusst haben.
Nachdem sich Audrey gestellt hat, werden in der folgenden Nacht 13 mutmaßliche Mitglieder der „Gang der Barbaren“ inhaftiert. Drei der 17- bis 32-jährigen scheinen direkt ins Verbrechen verwickelt zu sein. Der Anführer der Gruppe ist Youssouf Fofana, der sich selbst als „Hirn der Barbaren“ bezeichnet. Er war schon wegen bewaffnetem Raubüberfall im Gefängnis. Er setzt sich nach Elfenbeinküste ab, wo er am 22. Februar verhaftet und an die französischen Behörden ausgeliefert wird. Die Eltern von Audrey werden seitdem bedroht.
In der Zwischenzeit werden die Rufe immer lauter, dass es sich um einen antisemitischen Akt gehandelt hat, vor allem nachdem einer der Entführer zum Grund, warum gerade Ilan das Opfer war, sagt: „Er ist Jude, und Juden haben Geld.“
In den folgenden Tagen gibt es in ganz Frankreich gehäuft Kundgebungen gegen Rassismus und Antisemitismus, bei manchen werden auch Rufe, wie „Rache für Ilan“ laut — Angst und Wut erfasst Teile der jüdischen Bevölkerung, die großteils ebenfalls in den Vorstädten, den Banlieus wohnt und täglich vermehrt antisemitische Übergriffe erleben muss.
Am 24. Februar findet in der großen Synagoge von Paris ein Gedenkgottesdienst statt, bei dem angefangen vom Präsidenten der Republik, bis hin zu den Vertretern aller Konfessionen, zahlreiche Trauergäste teilnehmen.
Der Oberrabbiner von Paris, Joseph Sitruk, sagt während der Trauerfeier: „Die Augen von Ilan sind meine Augen, unsere Augen. Sein Körper ist unser Körper, seine Schreie unsere Schreie, seine Ängste sind unsere Ängste.“
Am 26. Februar wird von der LICRA und SOS Racisme eine Großkundgebung in Paris organisiert, bei der rund 80.000 Menschen teilnehmen.
Quelle: Le Monde, Liberation, ARD, Le Nouvel Observateur, Haaretz.