Subtile, und doch nicht zurückhaltende Feindseligkeiten gegen die Bolschewiki kennzeichnen dieses Buch. Die antikommunistische Grundausrichtung ist jedenfalls offensichtlich. Schon weniger offensichtlich, zumindest für den mit dem Thema nicht befaßten Leser, sind die zahlreichen Fehler, die der Göttinger Universitätsprofessor für Osteuropäische Geschichte (sein Spezialgebiet ist die Geschichte der russischen Sozialrevolutionäre) in seinem Band angehäuft hat.
So wird die Spaltung der russischen Sozialdemokratie auf dem Parteitag 1903 in Bolschewiki und Menschewiki erstens auf Differenzen in der Organisationsfrage (Debatte um den § 1 des Statuts betreffend die Parteimitgliedschaft) zurückgeführt. (S. 40) Die gab es zweifelsohne, doch trotzdem hatte die Spaltung einen viel „banaleren“ Anlaß. Die späteren Menschewiki fühlten sich in der Zusammensetzung der Leitungsgremien der Partei (Zentralorgan und Zentralkomitee) unterrepräsentiert und kündigten daher die Zusammenarbeit mit der damaligen Mehrheit um Lenin und Plechanow.
Auch der zweite Grund, daß der Menschewikenführer Martow und seine Anhänger für mehr Föderalismus, vor allem hinsichtlich der jüdischen Arbeiterorganisation (BUND) eintraten (ebenda), ist schlichtweg falsch. Gerade Martow führte die Hauptattacke am Parteitag gegen diese separatistischen Bestrebungen. In der Ablehnung der Autonomie waren sich Martow und Lenin durchaus einig.
Wer sich etwas intensiver mit den fraktionellen Auseinandersetzungen innerhalb der russischen SDAP beschäftigt, müßte auch klar erkennen, daß im komplexen Geflecht von politischen Differenzen und persönlicher Intrige es völlig verfehlt ist, hier einen Hauptschuldigen — Hildermeier meint stets Lenin — auszumachen. Die Geschichte der Spaltungen, Trennungen, Vereinigungen, interfraktionellen Bündnisse innerhalb einer einzigen nationalen Arbeiterpartei, läßt wohl doch etwas mehr vermuten als es das Einklagen der „Leninschen Obstruktion“ (S. 40) nahelegt.
Inhaltliche Meinungsverschiedenheiten gab es jedenfalls in fast allen wichtigen theoretischen wie praktischen Fragen des Klassenkampfes: Organisationsaufbau, Charakter der Russischen Revolution von 1905 und 1917, Stellung zum Weltkrieg, Wahlbeteiligung und Wahlboykott, Methoden des politischen Kampfes, Einschätzung des russischen Liberalismus und der Bauernschaft, Verhältnis zur Provisorischen Regierung nach der Februarrevolution etc.
Ebenso unrichtig ist das behauptete „unheilbare Zerwürfnis“ (S. 221) zwischen Kerenski und Kornilow, den beiden Hauptkontrahenten der Bolschewiki 1917. Erst nach dem gemeinsam ins Auge gefaßten und von letzterem dilettantisch durchgeführten Putsch ließ der Ministerpräsident seinen Oberkommandierenden fallen.
Wenn Hildermeier bezüglich Lenins Rückkehr im April 1917 schreibt: „Der Doppelherrschaft entstand ein unversöhnlicher Feind“ (S. 161), deutet das nur daraufhin, daß dieser Historiker Wesen und Charakter einer Doppelherrschaft — der Begriff wird übrigens (wie viele andere) nirgends erklärt — nicht verstanden hat. Diese hat nämlich nur Feinde, alle gesellschaftlichen Kräfte wünschen ihre Beseitigung, kämpfen für die Überwindung dieses Übergangszustands der gesellschaftlichen Instabilität. Die Lösung der Doppelherrschaft lautet somit Revolution oder Restauration.
Doch es kommt noch schlimmer. Etwa wenn unser Autor zur sozialistischen Kritik am Privateigentum an Produktionsmitteln folgendes vermeldet: „Unversöhnliche Kritik an der bestehenden politischen Ordnung und am privaten Eigentum im Wirtschaftsleben überhaupt breitete sich aus (sic!) — nicht nur als irrationale Reaktion der Zeit (sic!), die aus den Fugen zu geraten schien (sic!), sondern auch als pragmatische Antwort (sic!) auf die Herausforderungen der wirtschaftlichen und sozialen Situation.“ (S. 193)
Man mag zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel, zur Expropriation der Expropriateure stehen wie man will, diese Forderung mit einem irrationalen Zeitgeist zu erklären, hängt wohl denn doch eher mit einem anderen Zeitgeist zusammen, mit einem Zeigeist, der vor lauter marktwirtschaftlicher Euphorie gar den Endsieg des Kapitalismus verkündet.
Daß Manfred Hildermeier schlußendlich die Revolution zum gegen die Demokratie gerichteten Putsch (S. 300) erklärt, darf bei diesem zeitgeistig-verworrenen was meint: top-modischen Geschichtsbild nicht mehr verwundern.
Vor allem was politische Theorie, sowohl was Deskription als auch deren Bewertung betrifft, hat der Autor wenig zu bieten. Eine fundierte Auseinandersetzung mit Lenin oder Trotzki suchen wir vergebens. Dort, wo Hildermeier als Interpret tätig wird, begibt er sich meist aufs Glatteis, etwa wenn er behauptet, daß Lenin 1905 die „,bürgerlichen‘ Kräfte schlichtweg mit der Bauernschaft identifizierte“ (S. 67). Bei Lenin findet sich nichts dergleichen.
Man hat alles schon woanders besser gelesen, informativer und spannender, vor allem ohne derartige Schnitzer. Als Einführungsbuch in die Geschichte der Russischen Revolution ist der Band jedenfalls nicht geeignet, noch dazu wenn man bedenkt, welch reichhaltige Literatur zum Thema vorhanden ist. Zum Beispiel Trotzkis alles überragende Geschichte der Russischen Revolution oder die Bücher von Suchanow, Reed oder Dan. Und wer in heutigen Zeiten unbedingt Bürgerliches zu 1917 bevorzugt, dem seien die Namen Anweiler, Geyer oder Schapiro ans Herz gelegt. Sorgfältiger statt einfältiger Antikommunismus wird dort geboten.