Grundrisse » Jahrgang 2004 » Nummer 11
Clemens Berger (Übersetzung) • Subcomandante Insurgente Marcos

Durito, der Pirat

„Nein, nein und nochmals nein!” sage ich Durito zum Hunderttausendsten Mal.
Ja, Durito ist zurück. Aber bevor ich mein wiederholtes „Nein” erkläre, sollte ich Euch die ganze Geschichte erzählen.

Anderntags, als der Regen schnurstracks einen Fluß durch die Hüttenmitte zog, kam Durito in der Dämmerung an Bord einer Sardinendose an, in deren Mitte ein Stift stak, an dem ein Taschentuch oder sonstwas befestigt war, das ich später als Segel erkennen durfte. Oben am Hauptmast – Verzeihung: am Stift – wehte eine schwarze Flagge mit einem schaurigen, auf gekreuzten Knochen ruhenden Totenkopf. Es war kein besonders gutes Schiff auf seinem raschen Weg zum Tischrand, und daher landete Durito nach einem Stoß, der ihn durch die Luft segeln ließ, genau auf meinem Stiefel. Durito richtete sich, so gut er konnte, auf und rief:

„Heute?! Heute?!” Er drehte sich um, sah mich an und sagte: „Ahoi, du! Karottennase! Sag mir das richtige Datum!”

Ich war unentschlossen. Ein Teil von mir wollte Durito bei seiner Rückkunft umarmen, ein anderer, kleiner Teil wollte ihn für die „Karottennase”-Passage treten und ein anderer, großer Teil wegen... wegen... des Datums? Ich blickte auf meine Uhr und sagte:

„12. Oktober 1999.”

„Der 12. Oktober? Meiner Seele, wie die Natur die Kunst nachahmt! Gut. Heute, am 12. Oktober 1999, verkünde ich die Entdeckung, Eroberung und Befreiung dieser schönen Karibischen Insel, getauft auf den Namen... auf den Namen... Schnell, den Namen der Insel!”

„Welche Insel?” fragte ich, noch immer verwundert.

„Was meinst du mit ‚Welche Insel, Dummkopf? Diese hier! Welche andere Insel könnte gemeint sein? Ein Pirat, der keine Insel besitzt, um seine Schätze und Sorgen zu begraben, hat seinen Namen nicht verdient.”

„Eine Insel? Ich hielt das bislang für einen Baum, eine Ceiba, um genau zu sein”, sagte ich und beugte mich über den Rand der dichten Zweige.

„Dann bist du schon wieder betrogen. Das ist eine Insel. Wer hat jemals von einem Piraten gehört, der auf einer Ceiba gelandet wäre? Also entweder verrätst du mir den Namen der Insel oder dein Schicksal wird es sein, den Haien als Fraß vorgeworfen zu werden!” drohte Durito.

„Haie?” sagte ich und schluckte. Und zögernd entließ ich ein „Sie hat keinen Namen”.

„Siehatkeinennamen. Mhm. Meiner Seele, das ist ein passender Name für eine Pirateninsel. Gut. Heute, am 12. Oktober 1999, verkünde ich, daß die Insel Siehatkeinennamen entdeckt, erobert und befreit ist, und ich ernenne diesen Mann mit der verdächtigen Nase zu meinem ersten Maat, Kabinenjungen und Späher.”

Ich wollte sowohl die Beleidigung als auch die Vielzahl der mir übertragenen Positionen ignorieren und sagte:

„Soso... Jetzt bist du also ein Pirat!”

„Ein Pirat! Mach die Augen auf! Ich bin DER PIRAT!”

Die ganze Zeit über hatte ich Duritos Aufmachung beobachtet. Eine schwarze Klappe verzierte sein rechtes Auge; ein rotes Bandana bedeckte sein Haupt; ein Stück Draht steckte in einem Haken an einem seiner vielen Arme; und ein anderer hielt jenen glänzenden Zauberstab, der einmal Excalibur war. Ich war mir nicht ganz sicher, was daraus geworden war, aber es mußte eines dieser Schwerter sein, dieser Entermesser, die Piraten gebrauchen. Dazu war ein kleiner Zweig an einen seiner winzigen Beine gebunden, fast wie ein... ein Kleiderhaken!

„Ja! Was meinst du?” fragte Durito und vollführte eine halbe Drehung, um all das Kleinod zu präsentieren, das er für sein Piratenkostüm zusammengetragen hatte. Ich fragte ihn vorsichtig:

„Also jetzt heißt du?”

„Schwarzes Schild!” erklärte Durito würdig und fügte hinzu: „Aber den nicht Kosmopolitischen kannst du ’Escudo Nero’ nennen.”

„’Schwarzes Schild’? Aber –”

„Sicher! Gab es keinen Barbarossa und keinen Schwarzbart?”

„Ja, gut, ich meine –”

„Aber keine Abers! Ich bin Schwarzes Schild! Im Vergleich zu mir war Schwarzbart ein Graubart, und das auch nur, wenn er sich Mühe gab, und Barbarossa war ausgewaschen wie dein altes Halstuch.” All das sagte Durito, während er gleichzeitig Schwert und Haken schwang. Als er damit fertig war, begann er am Deck seiner Sardinendose – verzeiht: seines Schiffes – den „Piratensong” zu rezitieren:

Mit zehn Kanonen, blank an Bord ...

„Durito.” Ich will ihn zur Besinnung bringen.

... mit vollen Segeln vor dem Wind ...

„Durito..”

... die flink wie Mövenflügel sind,
streicht eine Barke durch die Flut

„Durito!”

Schiff in Sicht! Hoi, alle Segel breit, Fersengeldsegel ...

„Duritoooo!” schreie ich, schon verzweifelt.

„Beruhige dich. Hör auf zu schreien, oder ich lasse dich wie einen arbeitslosen Seeräuber aussehen. Was gibt´s?”

„Könntest du mir sagen, wo du warst, woher du kamst, und was dich in dieses Land, verzeihe mir, auf diese Insel brachte?” fragte ich schon ruhiger.

„Ich war in Italien, in England, in Dänemark, in Deutschland, in Frankreich, in Griechenland, in Holland, in Belgien, in Schweden, auf der Iberischen Halbinsel, auf den Kanarischen Inseln, überall in Europa”, sagte Durito und beugte sich unentwegt von links nach rechts. „Als ich mit Dario in Venedig war, aß ich von dieser Pasta, nach der die Italienerinnen und Italiener so verrückt sind und die mich un-be-weg-lich zurückließ.”

„Moment! Welcher Dario? Du sagst nicht, du warst mit Dario...?”

„Ja, Dario Fo. [1] Richtig, essen, oder eher nicht essen. Er aß, und ich sah ihm beim Essen zu. Du darfst nicht vergessen, ich bekomme Magenschmerzen von diesen Spaghetti, besonders wenn sie Pasto draufgeben.”

„Pesto”, berichtigte ich ihn.

„Pasto, Pesto... Gras bleibt Gras. Wie ich dir gerade erzählte, kam ich aus Rom nach Venedig, nachdem ich einem dieser ’vorläufigen’ Anhaltelager für Immigrantinnen und Immigranten entflohen bin. Das ist eine Art Konzentrationslager, wo italienische Behörden alle, die aus einem anderen Land kommen – also, die ’anders’ sind – isolieren, bevor sie deportiert werden. Da rauszukommen, war nicht einfach. Ich mußte ein Sit-in anführen. Natürlich war die Unterstützung italienischer Männer und Frauen, die gegen institutionalisierten Rassismus auftreten, enorm. Die Sache ist, daß mich Dario bat, ihm mit Ideen für eines seiner Stücke behilflich zu sein, und ich konnte einfach nicht Nein sagen.”
„Durito...”

„Danach marschierte ich wegen des Kosovokrieges gegen die UNO.”
„Du meinst die NATO.”
„Ist dasselbe. Dann, nach einer Reihe von Abenteuern, nahm ich Kurs auf die Insel Lanzarote.”
„Moment! Die Insel Lanzarote? Lebt dort nicht José Saramago [2]?”

„Richtig; ich nenne ihn Pepe. Es ergab sich, daß mich Pepe zum Kaffe lud, um meine Erlebnisse mit Europa und dem Euro zu diskutieren. Er war großartig –”

„Ja, es muß großartig sein, mit Saramago zu plaudern.”

„Nein, ich meine den Kaffee, den Pilarica für uns kochte. Sie kocht wirklich eine wunderbare Tasse Kaffee.”
„Du meinst Pilar del Rio [3]?”

„Ganz genau die.”

„Also an einem Tag ißt du mit Dario Fo, und am nächsten trinkst du mit José Saramago Kaffee.”

„Klar, ich hänge nur mit Nobelpreisträgern ab. Aber hör zu, ich hatte ein paar ernste Wörtchen mit Pepe zu wechseln.”
„Ja weshalb?”

„Über den Prolog, den er für mein Buch geschrieben hat. Es zeugt von schlechtem Geschmack, daß ich, der große und beherrschte Don Durito aus Lakandonien auf die Welt der coleopteres lamellicornia reduziert werden sollte.”

„Und worüber wechseltet ihr Wörtchen?”

„Ach, ich forderte ihn nach den Gesetzen des fahrenden Rittertums zum Duell.”

„Und...?”

„Nichts und. Ich sah, wie Pilaricas Herz zerbrach, weil es sonnenklar war, daß ich gewinnen würde. Daher verzieh ich ihm...”

„Du hast José Saramago verziehen?”

„Naja, nicht ganz. Um diesen Affront wirklich zu vergessen, wird er hierher kommen und aus voller Kehle die folgende Rede halten müssen: ’Höret, höret! Tyrannen, erzittert. Maiden, seufzt. Kinder, freuet euch. Laßt frohlocken die Traurigen und Bedürftigen. Höret, all Ihr. Über diese Länder reitet erneut der allzeit berühmte, der hervorragende, der unvergleichliche, der vielgeliebte, der inbrünstig erwartete, der omnipotente, der größte der fahrenden Ritter, Don Durito aus Lakandonien.’”

„Du hast José Saramago hierherzukommen gezwungen, um diese... diese... diese Dinge zu sagen?”

„Ja. Es schien auch mir wie Strafmilderung. Aber immerhin ist er Nobelpreisträger, und vielleicht brauche ich jemanden für den Prolog zu meinem nächsten Buch.”

„Durito!” tadelte ich ihn und fügte hinzu: „Alles schön und gut, aber wie um alles in der Welt hast du dich in einen Piraten verwandelt, entschuldige, in DEN PIRATEN?”

„Das ist Sabinas Schuld”, sagte Durito, als spräche er über einen Genossen bei einem Fest.

„Du hast auch Joaquín Sabina [4] besucht?”

„Natürlich! Er bedurfte meiner musikalischen Unterstützung für sein nächstes Album. Aber unterbrich mich nicht. Es ergab sich, daß Sabina und ich Lokale und Frauen in Madrid wechselten, und wir kamen in die Ramblas.”
„Aber die sind in Barcelona!”

„Ja, es ist wahrlich ein Mysterium, weil wir nur wenige Minuten vorher in einer Madrider Bar waren, gefangen von einer olivhäutigen Schönheit, einer Andalusierin aus Jaén, um genau zu sein, und plötzlich mußte ich ein, wie man sagt, biologisches Grundbedürfnis befriedigen. Und da irrte ich mich in der Tür und trat auf die Straße – anstatt in ein Wasserklosett. Und es ergab sich, daß diese Straße in den Ramblas lag. Ja, da war kein Madrid, keine Sabina und keine olivhäutige Schönheit mehr, aber ich brauchte noch immer ein Wasserklosett, weil sich ein Ritter nun mal nicht an jeder Ecke erleichtern kann. Daher suchte ich nach einer Bar, in der ich einmal mit Manolo viel Zeit verbracht hatte –”

„Du meinst wahrscheinlich Manuel Vázquez Montalbán [5]?” fragte ich, den nichts mehr wunderte.

„Ja, aber sein Name ist zu lang, daher nenne ich ihn Manolo. Jedenfalls suchte ich verzweifelt und fanatisch nach einem Ort mit Wasserklosett, als da vor mir, in einer dunklen Gasse, diese drei gigantischen Schatten auftauchten –”

„Halunken!” unterbreche ich aufgeregt.

„Negativ. Es waren drei Mülldurchwühler, in deren Schatten ich mir gut vorstellen konnte, sehr privat und sehr diskret das zu tun, was ich fürs Wasserklosett vorhatte. Und das tat ich auch. Mit der Befriedigung eines erfolgreich erledigten Auftrages zündete ich mir eine Pfeife an und hörte eindeutig Big Ben zwei schlagen.”
„Aber Durito, das ist in London, England – ”

„Ja, es kam mir seltsam vor, aber was war in jener Nacht nicht seltsam? Ich ging meiner Wege, bis ich an ein Schild kam: ’Piraten gesucht. Keine Erfahrung nötig. Käfer und fahrende Ritter bevorzugt. Nachfragen am ’Schwarzen Punkt.’” Durito zündet seine Pfeife an und fährt fort: „Ich ging also weiter und hielt nach einem Schwarzen Punkt Ausschau. Ich mußte mir meinen Weg erfühlen, konnte kaum Straßenecken oder Wände ausmachen, weil in jener Nacht ein dichter Nebel über die Straßen Kopenhagens fiel –”

„Kopenhagen? Aber warst du nicht in London?”

„Hör zu, wenn du mich weiterhin unterbrichst, wo alles glasklar ist, werde ich dich über Bord und zu den Haien schicken. Ich habe dir bereits gesagt, alles war seltsam, und selbst wenn ich das Schild, das Piraten suchte, in London fand, sah ich mich später nach Anzeichen für diesen Schwarzen Punkt in Kopenhagen um, in Dänemark. Für ein paar Minuten verlor ich mich am Tivoli, aber ich suchte weiter. Plötzlich fand ich ihn. Ein schwaches Licht schien aus einer vereinsamten Laterne, durchdrang kaum den Nebel und beleuchtete ein Schild: ’Der Schwarze Punkt, Bar and Table Dancing. Sonderpreise für Käfer und fahrende Ritter.’ Ich hatte bis dahin keinen Begriff davon, wie hoch Käfer und fahrende Ritter in Europa geschätzt werden.”

„Vielleicht, weil sie nicht unter ihnen leiden”, hauchte ich.

„Glaube nicht, deine ironischen Bemerkungen bleiben mir verborgen”, sagte Durito. „Aber, zum Wohle deiner Leserinnen und Leser, werde ich in meiner Erzählung fortfahren. Es bleibt noch genügend Zeit, um mit dir abzurechnen. Nachdem ich, wie gesagt, die große europäische Intelligenz im Erkennen und Bewundern jener Größe, die manche von uns Kreaturen besitzen, kennenlernen durfte, betrat ich eine Bar am Montmartre, in der Nähe von Sacre Coeur...” Durito verstummte für einen Augenblick und wartete auf meine Unterbrechung, daß Sacre Coeur in Paris sei, in Frankreich, aber ich sagte nichts. Durito nickte zufrieden und setzte fort:

„Im Inneren durchdrang ein amethystener Nebel die Atmosphäre. Ich setze mich an einen Tisch im düstersten Eck. Kaum war eine Sekunde verstrichen, als mir ein Kellner in perfektem Deutsch sagte: ’Willkommen in Ost-Berlin’, und ohne ein weiteres Wort ließ er la carte, also die Speisekarte zurück. Ich öffnete sie; sie enthielt eine einzige Zeile: ’Möchtegernpiraten, zweiter Stock.’ Ich stieg ein Stiegenhaus empor, das gleich hinter mir lag. Ich erreichte einen langen, von Fenstern flankierten Korridor. Durch eines sah ich die Kanäle und vierhundert Brücken, die Amsterdam über seine neunzig Inseln liften. In der Ferne erspähte ich den Weißen Turm, der die Griechen und Griechinnen in Saloniki an die Exzesse der Intoleranz erinnert. Weiter vorn am Korridor gab ein anderes Fenster die Sicht auf die Spitze des Schweizer Matterhorns frei. Im Weitergehen erkannte ich den geheimnisvollen Stein der irischen Burg Blarney, der allen, die ihn küssen, ein gutes Mundwerk schenkt. Linkerhand schoß der Glockenturm von Brügges Hauptplatz, Belgien, aus dem Boden. Wo der Korridor schließlich zu einer verfallenen Tür führte, ging ein Fenster auf die Piazza Miracoli, und wenn du deine Hand ein wenig ausstrecktest, konntest du die leichte Schräge des Turms von Pisa fühlen. Ja, dieser Korridor gab den Ausblick auf halb Europa frei, und ich wäre nicht überrascht gewesen, hätte ich da eine Tür mit der Aufschrift ’Willkommen im Maastrichtabkommen’ gefunden. Aber nein, auf der Tür stand kein Sterbenswörtchen. Überdies hatte sie nicht einmal einen Knauf. Ich klopfte... nichts geschah. Ich drückte eine schwere Holzplatte, die gab nach und mir den Weg ohne Schwierigkeiten frei. Mit einem klagenden Ächzen öffnete sich die Tür... Ich betrat einen zur Hälfte im Schatten liegenden Raum... Drinnen sah ich im ärmlichen Licht einer Öllampe, an einem von Papieren übersäten Tisch, das Gesicht eines Mannes von ungewissem Alter, eine Klappe über seinem rechten Auge, und ein selbstgemachter Haken strich über seinen langen Bart. Sein Blick ruhte am Tisch. Ich hörte nichts, und die Stille war so laut, daß sie deine Haut wie Staub bedeckte.“ Durito strich sich Staub vom Piratengewand.

„’Ich habe einen Piraten vor mir’, sagte ich mir und begab mich an den Tisch. Der Mann rührte sich keinen Millimeter. Ich hustete leise, wie es gebildete fahrende Ritter tun, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Der Pirat erhob seinen Blick nicht. Statt dessen begann der Papagei, den ich auf seiner linken Schulter sitzen sah, mit solch einer ausgezeichneten Stimme, daß selbst Don José de Espronceda [6] applaudiert hätte, das folgende Lied anzustimmen: ‚Mit zehn Kanonen, blank an Bord, mit vollen Segeln vor dem Wind, die flink wie Möwenflügel sind, streicht eine Barke durch die Flut: die Barke des Piratenherrn, auf allen Meeren ausgekannt von einem bis zum andern Strand, der „Hai“ getauft für seinen Mut‘.

’Setz dich’, wurde mir gesagt – keine Ahnung, ob der Mann oder der Papagei sprach – und dann gab mir der Pirat oder die Person, die ich für einen Piraten hielt, wortlos ein Stück Papier. Ich las es. Ich möchte weder dich noch deine Leserinnen und Leser langweilen, wenn ich dir jetzt die Quintessenz erzähle, indem ich sage, daß es sich um einen Bewerbungsbogen für die Große Brüderschaft der Piraten, Seeräuber und Meeresterroristen handelte, die AC des CV von RO. Ich füllte sie umstandslos aus. Ich retournierte dem Mann das Papier – nicht ohne mein Käfer- und fahrendes Rittertum hervorzuheben – und er las es in der Stille.

Nachdem er fertig war, sah er mich mit dem einen Auge an und sagte:

’Ich habe auf dich gewartet, Don Durito. Wisse, daß du einer der letzten wahren Piraten bist. Ich spreche die Wahrheit, denn es gibt heute Unmengen sogenannter Piraten, die, versteckt in Finanzzentren und Regierungspalästen, stehlen, töten, zerstören und plündern, ohne jemals Wasser berührt zu haben – außer in ihren Badewannen. Hier ist dein Auftrag.’ Er überreicht mir einen alten pergamentenen Plan.

’Finde den Schatz und verbirg ihn an einem sicheren Ort. Und jetzt muß ich, wenn du entschuldigst, sterben.’ Und nachdem er diese Worte gesprochen hatte, krachte sein Kopf auf den Tisch. Ja, er war tot. Der Papagei erhob sich in die Lüfte, flog aus dem Fenster und krächzte: ’Ich gehe ins mitilenische Exil, ich fliege zum Bastardsohn von Lesbos, ich fliege zum Stolz des Ägäischen Meers. Öffne alle neun Tore, o fürchterliche Hölle, der große Barbarossa wird in dir sich betten. Er hat seinen Nachfolger gefunden. Der einst jede Träne im Ozean kannte, schläft nun. Jetzt segelt der Stolz aller Piraten mit dem Schwarzen Schild’, und neben dem Fenster breitete sich der schwedische Hafen Göteborg aus, und in der Ferne weinte eine Meerjungfrau.“

„Was hast du also getan?“ frage ich, knietief in der Geschichte (obschon seekrank von so vielen Ortsnamen und Lokalen).

„Ohne den pergamentenen Plan auch nur auszubreiten, rekonstruierte ich meine Schritte. Ich ging den Korridor zurück und hinunter zur Table Dance Bar. Ich öffnete die Tür und schritt in die Nacht, schnurstracks auf den Paseo de Pereda in Santander auf den Kantabrischen Inseln. Ich machte mich nach Bilbao auf und betrat Euskal Herria. Ich sah junge Menschen Eurresku und Ezpatadantza zum Rhythmus des txistu tanzen und den Tabor in der Nähe von Donostia-San Sebastian. Ich erklomm die Pyrenäen und nahm den Ebro zwischen Huesca und Saragossa mit. Sie verfertigten mir ein Schiff, und ich fuhr im Delta, dort, wo das Mittelmeer den Ebro inmitten des Gebrülls des Daltwindes empfängt. Ich stieg nach Tarragona, und von dort ging’s nach Barcelona, wo ich am berühmten Schlachtplatz am Montjuic vorbeikam.“ Durito hielt inne, als wollte er Atem holen.

„In Barcelona heuerte ich an einem Frachtschiff an, das mich nach Palma de Mallorca brachte. Wir nahmen Kurs auf Südwest, fuhren um Valencia herum und weiter südlich über Alicante. Wir erspähten Almeria und südlich davon Granada. In ganz Andalusien überzog ein einziger Flamenco Palmen, Gitarren und Stöckel. Ein gigantisches Zigeunerfest begleitete uns, bis wir, am Rückweg aus Algeciras, Cadiz kreuzten und an der Mündung des Guadalquivir Totenstimmen aus Cordoba und Sevilla hörten. Ein Flamenco rief: ’Schlaf nun. Geliebter Weltensohn, Durito, beende deine rastlose Wanderschaft, möge dein Pfad dir schön sein.’

Wir hatten gerade Huelva gesehen und nahmen Kurs auf die sieben Hauptinseln der Kanaren. Dort legten wir an und erfrischten uns mit dem Saft des ’Drachen’-Baumes – er soll körperliche und seelische Gebrechen heilen. So kam ich auf die Insel Lanzarote und zur Unstimmigkeit mit Don Pepe, von der ich vorher sprach.“

„Du bist weit gereist“, sagte ich, ermüdet von Duritos langer Reise.

„Und was ich alles ausgelassen habe!“ sagte er stolz.

„Dann bist du also kein fahrender Ritter mehr?“ fragte ich.

„Natürlich bin ich das! Die Piratensache ist etwas Vorübergehendes. Das dauert solange die Mission dauert, die mir der sterbende Barbarossa übertrug.“ Durito starrte mich an.

Ich dachte: Wann immer mich Durito anstarrt, ist es wegen... wegen...

„Nein!“ sagte ich ihm.

„Was nein? Ich habe nichts gesagt“, sagt Durito und gibt sich sehr verwundert.

„Nein, du hast nichts gesagt, aber ich kenne den Blick, und der verheißt nichts Gutes. Was immer du sagen wolltest, meine Antwort ist Nein. Auch ohne Seeräuber zu werden, habe ich als Guerillero genug Probleme. Und ich bin einfach nicht verrückt genug, Segel in einer Sardinendose zu setzen!“

„Pirat, nicht Seeräuber. Das ist nicht dasselbe, mein lieber langnasiger Kabinenjunge. Und das ist keine Sardinendose. Das ist eine Fregatte, und sie heißt Aus Fehlern lernen.“

Ich überhörte die Beleidigung und antwortete: Aus Fehlern lernen? Hm, seltsamer Name. Ob Seeräuber oder Pirat oder weiß der Teufel was, unterm Strich steht jedesmal Ärger.“

„Wie immer du willst, aber in erster Linie solltest du deine Pflicht erfüllen“, sagt Durito einlullend.

„Meine Pflicht?“ frage ich und vergesse meine Achtsamkeit.

„Ja, du solltest die frohe Botschaft der ganzen Welt mitteilen.“

„Welche frohe Botschaft?“

„Welche? Daß ich zurück bin. Und du mußt daraus wirklich keines dieser langen, dichten, langweiligen Kommuniqués machen, mit denen du deine Leserinnen und Leser quälst. Um das zu verhindern, habe ich hier übrigens den fertigen Text.“ Nachdem er das gesagt hatte, kramte Durito Blätter aus einer seiner Taschen.

Ich lese und lese sie. Ich drehe mich nach Durito um und rufe „Nein, nein und nochmals nein!“, ganz wie am Anfang der Geschichte.

12. Oktober 1999

[1Dario Fo, geboren 1926 in San Giano, Schriftsteller, Dramatiker, erhielt 1997 den Literaturnobelpreis

[2José Saramago, geboren 1922 in Azinhaga, Schriftsteller und Essayist, erhielt 1998 den Literaturnobelpreis

[3Pilar del Rio, spanische Journalistin und Übersetzerin

[4Joaquín Sabina, geboren 1949, spanischer Musiker

[5Manuel Vázquez Montalbán , geboren 1939 in Barcelona, gestorben 2003 am Flughafen Bangkok, katalanischer Schriftsteller und Essayist

[6Don José de Espronceda (1808-1842), romantischer Schriftsteller, von dem das „Piratenlied” stammt, aus dem Durito zitiert

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
2004
, Seite 63
Autor/inn/en:

Clemens Berger:

Geboren am 20. Mai 1979 in Güssing und in Oberwart aufgewachsen. Er studierte Philosophie und Publizistik in Wien, wo er als freier Schriftsteller lebt. Er schreibt Romane, Erzählungen, Essays, Lyrik und Theaterstücke.

Subcomandante Insurgente Marcos:

„Subcomandante Insurgente Marcos“, später „Subcomandante Marcos“ ist das Pseudonym eines mexikanischen Revolutionärs und Autors. Er ist Sprecher der EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung).

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