MOZ » Jahrgang 1989 » Nummer 45
Ralf Leonhard
Evangelische Konterrevolution in Zentralamerika

Die Sekteninvasion

Daß religiöser Fundamentalismus kein Monopol der Ayatollahs ist, macht ein Blick auf die Szene in Lateinamerika deutlich. Dort predigen evangelische Pfingstkirchen den Ärmsten das Himmelreich. Soziale Bewegungen und Befreiungskräfte werden als Teufel gebrandmarkt.

(Fotos: Apia/Leo Gabriel)

Die Abendsonne versinkt hinter dem Atitlan-See, tunkt die spiegelglatte Wasserfläche in orangerotes Licht und läßt die Vulkankegel am Westufer noch erhabener erscheinen.

Indiofrauen huschen im Halbdunkel am Seeufer entlang, die Nachtvögel kommen nach der Hitze des Tages aus ihren Verstecken. Plötzlich wird die Idylle getrübt durch ohrenbetäubende Musik aus dem Dorf, die das Konzert der Zikaden zum Verstummen bringt. „Der Herr wird zu Euch kommen“, brüllt jemand ins Mikrophon. „Halleluja“, tönt es im Chor zurück. Das unscheinbare Eckhaus mit der Aufschrift „Maranatha-Kirche“ ist gerammelt voll mit Indios in ihren bunten Trachten — die Frauen zur Rechten, die Männer zur Linken, säuberlich getrennt. Sie klopfen sich auf die Brust, erheben die Arme und brechen immer wieder in Halleluja-Rufe aus, während ein schmalbrüstiges Männchen vorne auf der Plattform steht, unausgesetzt ins Mikrophon plärrt und sich immer mehr in Ekstase hineinsteigert.

Das kleine Indiodorf San Antonio Palopo beherbergt nicht weniger als fünf verschiedene Tempel fundamentalistischer Sekten, die unter den einfachen Bauern um Gefolgschaft werben. Erzbischof Prospero Penados del Barrio hat im vergangenen Jänner einen Hirtenbrief veröffentlicht, in dem er in ungewöhnlich scharfer Form gegen die „Sekteninvasion“ wetterte, die von konservativen wirtschaftlichen und politischen Interessen in den USA gesteuert sei.

„Die Ausbreitung des Protestantismus in Guatemala entspricht eher einer wirtschaftlich-politischen Strategie als einem authentischen religiösen Interesse“, kommentierte der Erzbischof seinen Alarmruf. Guatemala, einst strikt katholisch wie ganz Lateinamerika, hat sich zu einem Bollwerk des protestantischen Fundamentalismus entwickelt, der inzwischen ein Drittel der Bevölkerung für sich reklamiert und bis zur Jahrtausendwende den Katholizismus auf den zweiten Platz verdrängt haben will.

Juana Temaj im abgelegenen Dörfchen Sipacapa im Hochland von San Marcos hat ihren Mann und ihren Schwager verloren. Eines Nachts wurden sie von bewaffneten Männern — vermutlich Militärs in Zivil — abgeholt und sind nicht wieder aufgetaucht. Die Hinterbliebene mit ihren fünf Kindern suchte und fand Trost bei einem evangelischen Prediger, der ihr empfahl, die Sache auf sich beruhen zu lassen und lieber die Rettung ihrer Seele zu suchen. Die fundamentalistischen Sekten sind besonders in jenen Gebieten erfolgreich, wo der Anti-Guerillakrieg die Bevölkerung eingeschüchtert und von den Lehren der Befreiungstheologie abgewendet hat.

Ein Dorf im guatemaltekischen Hochland

Arm sein, selig sein

Jahrhundertelang hatte der katholische Klerus gepredigt, daß Armut zur ewigen Seligkeit führe und der Gehorsam gegenüber Gott und der weltlichen Regierung die Aufnahme ins Himmelreich garantiere. Nach dem II. Vatikanischen Konzil (1962-65) und vor allem der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Medellin (1968), wo die Seelenhirten des Kontinents die Option für die Armen dekretierten und soziales Engagement von Geistlichen guthiessen, begann jedoch eine regelrechte Revolution unter den Soutanen. In Guatemala fiel die Basisarbeit fortschrittlicher Priester mit dem Wiederaufkeimen des Guerillakampfes zusammen und bereitete vielfach sogar den Boden für die Eingliederung der verarmten Hochlandbevölkerung in die Rebellenorganisationen.

Erzbischof Penados: „Die guatemaltekische Armee begann, die katholische Kirche scharf zu verfolgen, weil wir von Menschenrechten und Menschenwürde sprachen, während die Protestanten nur von der Bibel redeten.“ Zwischen 1980 und 1982 wurden alleine im Konfliktgebiet Quiche 13 katholische Priester und Dutzende Laienprediger von Militärs oder paramilitärischen Gruppen ermordet. Schließlich ging sogar der Bischof von Quiche ins Exil.

Wie eng der Zusammenhang zwischen militärischer Aufstandsbekämpfung und protestantisch-fundamentalistischer Indoktrinierung ist, wurde niemals deutlicher als unter der 16monatigen Herrschaft von General Efrain Rios Montt. Als der General mit dem Putsch vom 23. März 1982 die Macht übernahm, wußte noch kaum jemand, daß er wenige Jahre vorher im Exil in den USA der Pfingstlersekte „Das Göttliche Wort“ beigetreten war. Was die abgelöste Militärdiktatur mit offenem Terror nicht geschafft hatte, vollbrachte Rios Montt in wenigen Monaten mit einer schonungslosen Politik der verbrannten Erde: der Guerilla wurde die soziale Basis durch Massaker und Vertreibung der Zivilbevölkerung im Hochland entzogen. Für die Überlebenden organisierte der fromme General Hilfsprogramme, die er in die Hände der Militärs und evangelischen Sekten legte. Der Beitritt zu einer der fundamentalistischen Kirchen kam damals einer Lebensversicherung gleich. Rios Montt umgab sich mit Beratern aus evangelischen Sekten und hievte seine „Brüder“ in verantwortliche Positionen. In seinen mystischen Ansprachen kündigte er an, in Guatemala einen Gottesstaat zu errichten.

Als der bigotte Prediger im August 1983 seinerseits einem Putsch weichen mußte, verschwand zwar der offensichtliche Einfluß der Fundamentalisten auf die Regierungsentscheidungen, doch der Vormarsch der charismatischen Sekten war nicht mehr aufzuhalten. Ihre Mitglieder kollaborieren im allgemeinen mit der Armee und dienen in den Gemeinden häufig als Spitzel. Deswegen fürchtet Erzbischof Penados, daß die Sekten die Familien, die Dorfgemeinschaften und letzten Endes die ganze Gesellschaft spalten. Die Diskussion über das Unwesen der Fundamentalisten wird immer brisanter, denn nächstes Jahr wollen sich zwei Sektenprediger um die Präsidentschaft bewerben: der eine ist Efrain Rios Montt selbst, der andere ist der erzkonservative Jorge Serrano Elias, der unter dem fanatischen General als Präsident des von oben eingesetzten Pseudo-Parlaments diente.

Ekstase und Hysterie in den Pfingstkirchen

Der evangelische Fundamentalismus mit seiner nahezu wörtlichen Interpretation der Bibel entstand im vorigen Jahrhundert als Antwort auf die Herausforderung, die Charles Darwins Evolutionstheorie für die traditionelle Schöpfungsgeschichte bedeutete. Die Schlüsselstelle des Evangeliums für die Pfingstler (Pentecostals) ist das Herabsteigen des Heiligen Geistes auf die Apostel. Dabei gab er ihnen die Kraft, die Zukunft zu prophezeien, zu heilen, Wunder zu wirken und fremde Sprachen zu sprechen und zu verstehen. Wenn die Gläubigen während des Gottesdienstes in Ekstase verfallen und ihren Emotionen bis zur Hysterie freien Lauf lassen, dann schreiben sie das der Präsenz des Heiligen Geistes zu. Die Wiedertaufe soll starke emotionale Erlebnisse auslösen, die zur Erlösung führen sollen. Die Botschaft ist, daß es nicht Aufgabe der Menschen sei, die Welt zu verändern, sondern ihre persönliche Errettung zu suchen. Außerdem stehe sowieso die Ankunft Christi, der eine tausendjährige Herrschaft der Gerechtigkeit ausüben würde, unmittelbar bevor. Diese Lehren wurden von Missionaren, die an neuen, von großen Unternehmen großzügig finanzierten Bibelinstituten in den USA herangezogen worden waren, in Lateinamerika verbreitet. Die Zeit der sozialen Umwälzungen in den 30er Jahren, die massenhafte Vertreibung von Bauern und das unkontrollierte Anwachsen der Städte schufen einen fruchtbaren Boden. Entwurzelte Campesinos und verarmtes Lumpenproletariat fanden bei den Charismatikern Halt und Orientierung. Es kann nicht geleugnet werden, daß die persönliche Zuwendung, die die Sekten bieten, und die moralische Strenge, die sie ihren Anhängern abverlangen, für viele Familien eine positive Wende bedeuten. Besonders die Frauen wissen es zu schätzen, wenn ihre Männer den Alkohol und die Schürzenjägerei aufgeben und ihr Einkommen in Haus und Heim investieren. Hinter wohlmeinenden Predigern steckt aber oft eine gewaltige Organisation mit politischen Zielen.

Die Missionare aus dem Norden investierten ihre Dollars in Radiostationen, Krankenhäuser, einschlägige Buchgeschäfte, Sonntagsschulen und sogar Flugunternehmen. Als China in den vierziger Jahren alle Missionare vor die Tür setzte, fanden viele in Zentralamerika ein neues Einsatzgebiet. Noch 1960 waren erst 5% der rund sieben Millionen Protestanten Lateinamerikas Fundamentalisten, heute schätzt man, daß diese fast drei Viertel von 48 Millionen ausmachen. Gegenwärtig gewinnt die protestantisch-charismatische Bewegung auf dem Kontinent stündlich nicht weniger als 400 neue Schäflein dazu.

Radio „Heiliger Geist“

Mit den Dollarmillionen, die Evangelikale in Hilfsgüter, Radiostationen und TV-Kanäle investieren, können die Kinder Roms einfach nicht mithalten. Dennis Smith vom „Evangelischen Lateinamerikanischen Zentrum für Pastoralforschung“ weist die Argumentation, daß der Vormarsch der Evangelikalen von außen gesteuert werde, zurück: „Diese Konspirationstheorie berücksichtigt die pastorale Krise in der katholischen Kirche nicht. Es ist einfacher und bequemer, die Ausbreitung der evangelischen Kirchen der CIA oder dem US-Imperialismus zuzuschreiben.“ Die katholischen Bischöfe haben inzwischen auch entdeckt, daß sie selbst einen Teil der Schuld tragen, wenn ihnen die Anhänger davonlaufen.

„70 Prozent der Lateinamerikaner nennen sich Katholiken, sind aber in Wahrheit indifferent“, kritisierte der konservative brasilianische Bischof Bonaventura Kloppenberg. Die katholische Kirche klagt über Mangel an Priestern, vor allem an einheimischen, und über Anfeindung durch die Herrschenden.

Doch wer die „Verschwörungstheorie“ als Phantasterei abtut, sollte einmal die US-amerikanischen Quellen konsultieren. Richard Nixon hatte nach der epochemachenden Bischofskonferenz von Medellin seinen Vizepräsidenten David Rockefeller nach Lateinamerika entsandt. Der stellte mit Besorgnis fest, daß „der jüngst entdeckte Akzent, den die katholische Kirche auf Menschenrechte legt, die Massen verarmter Indios zum Aufstand gegen US-treue Regimes“ verführen könnte. Daher empfahl Rockefeller die Förderung der äußerlich apolitischen Sekten, die das herrschende System nicht in Frage stellen.

1975 finanzierte die CIA für den damaligen Diktator Boliviens den sogenannten „Banzer-Plan“, der die innere Spaltung der Kirche, die Verfolgung progressiver Geistlicher und die Ausweisung ausländischer Kleriker zum Gegenstand hatte. Der Vormarsch einer steigenden Anzahl fundamentalistischer Kirchen sollte dabei dienlich sein.

Als besonders aggressiv erwies sich in vielen Ländern Lateinamerikas das sogenannte „Summer Institute of Linguistics“, das die Bibel in alle möglichen Indiosprachen übersetzt und lokale Prediger ausbildet, die ihre Stämme und Völker bekehren sollen. Sie werden als Vorhut einer Strategie betrachtet, die darauf gerichtet ist, die eigenständigen Kulturen zu vernichten, damit die Indios ihre Stammesgebiete abtreten. Großgrundbesitzer oder ausländische Unternehmer bedienen sich oft wohlmeinender Missionare, die die Indios lehren, daß ihre Stammesriten satanisch seien. Sobald sie die neue Religion annehmen, müssen sie auch die weltliche Autorität der Regierung anerkennen, die den Geschäftemachern dann Zugang zu den Bodenschätzen verschafft. Der Gehorsam gegenüber der Regierung gehört nämlich auch zu den zentralen Lehren der Fundamentalisten. Die Missionare des dubiosen Instituts sind inzwischen aus einigen Ländern Lateinamerikas ausgewiesen worden. Im letzten Jahrzehnt haben die Bibelübersetzer kaum mehr von sich reden gemacht.

Kirchengeld für’s US-Militärbudget

Das Prinzip des Gehorsams gegenüber dem weltlichen Herrn verschwindet nur dann aus dem Programm, wenn es sich um eine linksgerichtete oder gar kommunistische Regierung handelt. Kurz nach dem Sieg der Sandinisten über die Somoza-Diktatur hatten die wichtigsten Pastoren der „Asamblea de Dios“, der größten protestantischen Kirche Nicaraguas, ein Glückwunschtelegramm an die neue Regierungsjunta gesandt. Wenige Wochen später wurden aber bereits mehrere Pastoren suspendiert, die der Revolution positiv gegenüberstanden. Die Fundamentalisten haben zwar keine weltumspannende Hierarchie wie die katholische Kirche, doch haben die gewöhnlich in den USA angesiedelten Mutterkirchen bei den Ablegern ein entscheidendes Wort mitzureden. Zur Jahreskonvention der „Assembly of God“ im August 1983 wurde Ronald Reagan eingeladen, der sich damals durch seinen rechtsextremen Innenminister James Watt vertreten ließ. Als allerdings wenig später die „National Evangelical Association“, der die wichtigsten fundamentalistischen Kirchen der USA angehören, Reagan als Hauptredner einlud, ließ sich der Chef des Weißen Hauses nicht lange bitten. Zum Dank unterstützte die einflußreiche Vereinigung das Militärbudget und die Zentralamerikapolitik des Ehrengastes.

In Nicaragua riefen die Evangelikalen ihre Mitglieder auf, die Alphabetisierungs- und Impfkampagnen der Regierung zu boykottieren, denn die eine diene der atheistischen Indoktrinierung, mit der anderen würde „der Kommunismus eingeimpft“. Statt den Gehorsam gegenüber dem weltlichen Herrscher aus dem 13. Römerbrief predigten sie jetzt: „Man kann nicht zwei Herren dienen“ und „zuerst muß man Gott gehorchen, dann den Menschen“. Die US-Regierung förderte das Eindringen von immer mehr protestantischen Kirchen nach dem Sieg der Revolution. Gab es 1980 erst 82 Pfingstlergemeinden in Nicaragua, so wurden 1986 nicht weniger als 2.012 gezählt. Heute sind mindestens 116 protestantische Denominationen registriert. Viele davon sind Produkte von Spaltungen, denn wenn sozial engagierten Pastoren die Politik ihrer Kirche zu reaktionär wurde, gründeten sie kurzerhand ihre eigene. 1982 tauchten über Nacht überall in Managua Wandpinseleien auf, die „Christus kommt“ verhießen. Pastoren des Nationalen Pastorenrates (CNPN), die nachweislich von der US-Botschaft Gelder für eine antisandinistische Kampagne erhalten hatten, wurden festgenommen. Und im allgemeinen Klima einer religiös-ideologischen Polarisation stürmten die sandinistischen Massenorganisationen evangelische Tempel, von denen einige anschließend konfisziert wurden. Als die Contras von der honduranischen Grenze immer weiter ins Landesinnere vordrangen, brauchten sie eine soziale Basis zum Überleben. Diese fanden sie vorrangig unter protestantisch missionierten Bauern. Ganze Dörfer schlossen sich unter der Führung fundamentalistischer Pastoren den Konterrevolutionären an.

Mit Beginn des Wahlkampfes am 25. August wurde auch ein religiös-ideologisches Propagandainstrument wieder eingesetzt: der „700 Club“ des ehemaligen US-Präsidentschafts-Vorkandidaten Pat Robertson. Der erzkonservative Fernsehprediger war am 24. April in seinem Privatjet in Managua gelandet, wo er nach einem Gespräch mit fünf Marktfrauen kategorisch erklärte, Nicaragua sei ein sowjetischer Satellit, wo „Kommunismus einfach nicht funktioniert“. Robertson, der mindestens sieben Millionen Dollar für die Contra gespendet hat, wurde von Erzbischof Obando und sogar von Vizepräsident Sergio Ramirez empfangen. Dieser versprach ihm, daß sein „700 Club“, der wenige Tage nach der Vertreibung Somozas aus dem Programm gestrichen worden war, wieder gesendet werden dürfe.

In der ersten Show, die in ganz Lateinamerika übertragen wurde, dankte Robertson der Regierung für die Neuzulassung. Den Rest der Sendezeit bestritt eine Gesangsgruppe, die — es könnte kaum passender sein — den Namen „The Imperials“ trug.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1989
, Seite 48
Autor/inn/en:

Ralf Leonhard: Korrespondent der Nachrichtenagentur APIA, lebt in Managua.

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