MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 55
Karl Lind • Franco Rotelli
Psychiatrie

„Die Krankheit interessiert uns nicht“

Karl Lind sprach mit Franco Rotelli, Nachfolger von Franco Basaglia als Direktor des geschlossenen Irrenhauses „San Giovanni“, Triest.

Franco Rotelli
Bild: MOZ-Archiv / Klimek
MONATSZEITUNG: Herr Rotelli, vor genau zehn Jahren starb Franco Basaglia. In diesen zehn Jahren ist eine Menge passiert im Bereich der Triester Psychiatrie. Was waren und sind die Schwerpunkte der Arbeit der Triester Equipe?

Rotelli: Die Arbeit an der Zerstörung eines Irrenhauses ist nie zu Ende. Es reicht nicht, es zu schließen, um es zu zerstören; es existiert in den Köpfen der Menschen, in dem Desaster der Familienstrukturen, wo es sich andauernd reproduziert.

Wir hatten das Problem, Einrichtungen zu organisieren, die sensibel auf ein diffuses allgemeines Leiden innerhalb der Gemeinschaft reagieren können. Und das in einer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft der neunziger Jahre.

Die Tatsache, daß es den Leuten schlecht geht, hat was mit ihrer Umgebung, mit ihrer Realität zu tun. Deswegen haben die Dienste, die wir aufbauen, in der Nähe der Menschen zu sein. Auch wenn die neuen Einrichtungen einen ärztlichen Aspekt beinhalten, müssen dort völlig andere Figuren auftreten und für die geistige Gesundheit der Menschen arbeiten, Figuren, wie z.B. der Designer, der Architekt, der Videomacher oder die Lehrerin.

Wir müssen uns um das Bürgerrecht der Leute kümmern, um Arbeit, Schule, Berufsausbildung, Geld, Wohnung usw. Wir müssen in der Lage sein, zwischen Verrücktheit und Normalität zu verhandeln. Deswegen haben wir sieben Zentren aufgebaut, die rund um die Uhr geöffnet sind. Wir haben die Arbeitskooperativen aufgezogen, Schulklassen hergestellt, berufliche Ausbildung gegründet, und das alles an Orten inmitten der Stadt.

Das alles gilt wohl für Triest, wie aber ist die Situation im restlichen Italien?

In den siebziger Jahren überzog eine breite soziale Bewegung ganz Italien, die dann in den Achtzigern völlig verschwunden ist. Hier in Triest mußten wir empirisch aufzeigen, daß das, was die Bewegung verkündet hat, richtig war. Wir konnten uns nicht mehr auf ein abstraktes Prinzip berufen. Was du als Idee formuliert hast, das hat keinen mehr interessiert, keiner hat uns da was geschenkt. Das gilt für die ganze italienische Situation. Da, wo es Gruppen von „Technikern“ gab, die sich ähnliches wie wir vorgenommen haben, ist viel geschehen.

In den Siebzigern hat man uns intensiv unterstützt, in den Achtzigern dann genau das Gegenteil, nur Opposition. Wir existieren heute — auch den rechten Parteien gegenüber —, weil wir gezeigt haben, daß wir besser als die anderen arbeiten. Diese Art von Politik kostet zwar viel, andererseits bekommt man aber auch ein sehr realistisches Verhältnis zur Wirklichkeit. Früher sagtest du, was breite politische Zustimmung fand, weil es auf der politischen Linie war, und du konntest machen, was du wolltest. Heute geht das nicht mehr. Heute mußt du, um zu überleben, dauernd beweisen, daß du besser bist als die anderen.

Was wurde nun aus der politischen Forderung, die sogenannten Patienten und Patientinnen nicht zu heilen oder zu verwahren, sondern ihnen ihre gesellschaftliche Position, ihre gesellschaftliche Macht wiederzugeben?

Wir haben vor langer Zeit entschieden, uns nicht um die Krankheit, sondern um den Kranken zu kümmern, deswegen sind wir immer noch sehr wenig an der Krankheit interessiert. Beschäftigt man sich mit der Krankheit, kommt man in eine Abfolge von Widersprüchen rein, das hat nie so besonders weit geführt. Kümmert man sich um die Krankheit einer Person, vernachlässigt man das Problem der Freiheit, das ökonomische Problem, das der Familie usw. Kümmerst du dich aber um den Kranken, um seine Bedürfnisse, dann interessiert dich das. Daran arbeiten wir.

„San Giovanni“, das ehemalige psychiatrische Krankenhaus, ist geschlossen. Die Aufgabe der Pfleger und Psychiater, die Institution zu zerstören, beendet. Mit welchen Fragestellungen arbeitet ihr jetzt?

Es geht jetzt darum, diese Reise zur Realität weiterzuführen. Eine Arbeitskooperative etwa ist der Realität schon viel näher als ein Zentrum. In einer Kooperative gibt es eine Beziehung zum Geld und zum Markt. Eine zwischenmenschliche Beziehung im Zentrum hingegen definiert sich dauernd aus dem Vorgehen gegen die Krankheit, auch wenn du das nicht willst.

Wir müssen die Qualität der Nachfrage, die die Leute stellen, ändern. Es soll keine psychiatrische sein, sondern eine, die den Wunsch nach gemeinsamen Unternehmen beinhalten kann. Wir müssen in die Beziehung zwischen Mitarbeitern und Patienten ein Objekt setzen, das deren Verhältnis neu definiert, neu definiert über gemeinsame Aktivitäten und nicht über medizinische Behandlung.

Herr Rotelli, Italien ist seit nunmehr zehn Jahren EG-konform. Was heißt das nun für eine Psychiatrie, deren politischer Anspruch es ist, Orte der Ausschließung zu zerschlagen und dort zu arbeiten, wo psychisches Leid entsteht, also in den Betrieben, den Gefängnissen, den Schulen usw.?

Ich halte das aber für einen globalen, nicht nur europäischen Prozeß, in dem Orte der Freiheit eliminiert werden, weil sie alle in die totale Verwarung und Rationalisierung miteinbezogen werden.

Wo der Wohlfahrtsstaat nicht greift, müssen eben Psychiatrie und Gefängnisse her. Keine Gefahr für die antiinstitutionelle italienische Psychiatrie?

Man muß vielleicht mal die Begriffe klarstellen. In Japan sind 450.000 Menschen in Irrenhäusern eingesperrt, in Europa auch eine ganze Menge. Redet man jetzt über das Leiden der Leute oder über die Institutionen? Spricht man von der Zwei-Drittel-Gesellschaft, so ist doch unter dem einen Drittel immer noch jemand, nämlich wir. Wir haben einen kleinen Traum, der uns aber sehr realistisch vorkommt: diesen Bereich unter dem Drittel an den generellen Leidensstandard der anderen anzubinden. Dort sind wir aber noch lange nicht angekommen. Bis zum 180er Gesetz waren die Verrückten die einzigen, die kein Bürgerrecht hatten. Jetzt haben sie es, formal, zumindest in Italien. Das heißt also, wir reden über das Arschloch der Welt. Und wenn wir darüber reden, dann glaube ich, daß uns die Öffnung der Grenzen, Kooperationen, Austausch usw. gut tut.

Reden wir aber über das Leiden der Leute, reden wir über was anderes. Was wir machen müssen, ist, die Katze am Schwanz zu packen, nicht mehr loszulassen und aufpassen, daß sie uns nicht wieder abhängt.

Vor kurzem noch waren wir draußen aus dem System, weil es keine Vernunft gab. Wir waren per Definition die Leute, die vom Mond kamen. Das sagt man hier so, verrückt, einfach aus der Welt. Es ist nicht die gleiche Sache, ob du auf der untersten Stufe der sozialen Leiter stehst oder gar nicht mehr drauf bist. Ganz unten bist du immer noch ein Bürger, mit dem irgendwo gerechnet wird. Im Moment, wo du im Irrenhaus bist, bist du aus dieser Dynamik raus. Es ist nicht dasselbe, ob man sein ganzes Leben im Irrenhaus zubringt oder im Gefängnis, wo man zwar am Rande lebt, aber zumindest am Rand von etwas lebt. Es ist nicht dieselbe Sache, interniert, arm oder ausgeschlossen zu sein. Das klarzumachen, dafür arbeiten wir.

Und es existieren zwei verschiedene Gesellschaften, eine produktive und eine versorgte. Das Extreme der versorgten Welt ist die Internierung. Wir akzeptieren diese Teilung nicht mehr. Es ist absurd, daß es Leute gibt, die nicht in der Lage sind, etwas zu produzieren. Alle Menschen haben irgendwelche Fähigkeiten. Man muß Widerstand gegen diese Spaltung leisten, vor allem damit, in die Institutionen der Fürsorge eine Art Invasion der „Sozialunternehmen“, der Kooperativen, zu organisieren. Wir müssen den Rechten klarmachen, daß sozial nicht katholisch heißt, und den Linken, daß, wenn man von Unternehmen redet, dies kein kapitalistischer Fluch ist. Man muß die Mauer zwischen der Sozialstaatswelt und der produktiven Welt niederreißen. Und ich glaube, daß man da ein paar Sachen machen kann, um diese Mauer anzukratzen, kleine Experimente, die nicht klein sind für die Bedeutung, die sie haben können.

Danke für das Gespräch.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1990
, Seite 47
Autor/inn/en:

Karl Lind:

Geboren 1962. Seit 1980 journalistisch tätig für verschiedene Tages- und Wochenzeitungen, Mitbegründer der Zeitschrift Moderne Zeiten — Zeitung für politische Unterstellung und hinterstellende Ästhetik (MOZ). Buchveröffentlichung: Nur kein Rhabarber, Wien 1989. Seit 1993 Gastronom am Wiener Spittelberg.

Franco Rotelli:

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