Die Untersuchung des Historikers Christopher Browning über die Entfesselung der „Endlösung“, die von namhaften Historikern sogleich zum neuen Standardwerk erkoren wurde, beinhaltet eine detaillierte Beschreibung der entscheidenden Phasen der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Mit dem Kriegsbeginn im September 1939 wurde eine neue Stufe antisemitischer Politik erreicht: In den folgenden zweieinhalb Jahren bis zum Frühling 1942 wurden all jene Entscheidungen getroffen, die im systematischen Massenmord endeten. Die schnellen Erfolge der Wehrmacht hatten nicht bloß zur Folge, dass die Regierung Hitlers sich einer beinahe uneingeschränkten Unterstützung im Deutschen Reich sicher sein konnte. Mit jedem neuen Gebietsgewinn der Wehrmacht erhöhte sich auch die Zahl der im deutschen Einflussbereich lebenden Juden. Allein mit der Eroberung Polens fielen den zuständigen deutschen Stellen rund 2 Millionen Menschen in die Hände, die in die immer monströser und mörderischer werdenden Planungen über eine „Endlösung der Judenfrage“ einbezogen werden mussten. Die besetzten Teile Polens wurden zu einem „Laboratorium der Rassenpolitik“. Unter der Leitung Himmlers in dessen Funktion als „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ begann die Neuordnung Osteuropas unter völkischen Gesichtspunkten. Im Mittelpunkt stand dabei zunächst die Vertreibung hunderttausender Polen, um Platz für die Ansiedlung so genannter „Volksdeutscher“ aus der Sowjetunion zu machen. Die zwangsweise „Umsiedlung“ der Juden aus dem Reich sowie dem Protektorat Böhmen und Mähren hatte zu warten. Das unter Adolf Eichmann bereits angelaufene Projekt ihrer Konzentration musste nach wenigen Deportationstransporten (darunter auch zwei Züge aus Wien) abgebrochen werden. In rascher Abfolge entwarfen deutsche Stellen verschiedene Pläne zu einer „territorialen Endlösung der Judenfrage“ und mussten alsbald erkennen, dass keines dieser Projekte verwirklicht werden konnte. Statt der schnellen Abschiebung der Juden etwa nach Madagaskar entstanden überall in Polen Ghettos, in denen die völlig mittellosen Juden unter schrecklichen Bedingungen interniert wurden. Erst mit dem Beginn des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion schienen sich „realistische“ Perspektiven zu eröffnen. Der Begriff der „Endlösung“ wurde zusehends gleichbedeutend mit der physischen Vernichtung mehrerer Millionen Menschen. Die zusammen mit der Wehrmacht im „Unternehmen Barbarossa“ vorrückenden Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD gingen im Spätsommer 1941 dazu über, die jüdischen Gemeinden ganzer Dörfer und Städte zu ermorden. Im Herbst wurden schließlich alle Weichen zum systematischen Massenmord aller europäischen Juden gestellt. Es begannen die Arbeiten zur Errichtung mehrerer Todesfabriken, deren einziger Zweck die restlose Vernichtung war.
Browning beschreibt ausführlich jede Phase der sich verschärfenden Vernichtungspolitik und arbeitet jene Punkte heraus, über die in der historischen Forschung weitgehend Einigkeit besteht. Erstens gab es kein einzelnes Ereignis, das, einem Urknall gleich, als Ursprung des Holocaust verstanden werden kann. „Vielmehr geht man allgemein davon aus, dass es einen langwierigen, schrittweisen Entscheidungsprozess gab.“ Entgegen einer lange Zeit vorherrschenden These gab es keinen geraden, direkten Weg nach Auschwitz. Zweitens wird jedoch der Entscheidungsprozess, der zur Herausbildung der „Endlösung“ führte, zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität betrachtet. Bereits die deutsche Vertreibungspolitik der ersten Kriegsmonate implizierte eine massive Dezimierung der jüdischen Bevölkerung. „In den Monaten nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 entwickelten sich diese vagen Visionen eines in die Zukunft verlegten implizierten Genozids, für den weder der Zeitplan noch die anzuwendenden Mittel feststanden, schrittweise zu dem, was die Nationalsozialisten die ,Endlösung der Judenfrage“ nannten — einem Programm des systematischen und totalen Massenmords an allen im deutschen Herrschaftsgebiet lebenden Juden, ob Mann, Frau oder Kind.“ Drittens lässt sich dieser Prozess nicht nach dem Muster Entscheidung — Befehl — Durchführung verstehen. Der Massenmord war vielmehr das Resultat einer Entwicklung, an der viele Stellen im Zentrum wie in der Peripherie des Regimes beteiligt waren — einer Entwicklung somit, in der Ermunterung, Legitimierung und Unterstützung durch die eine Seite mit Initiative, Experimentierfreude und Gehorsam der anderen Seite korrespondierte. Viertens lässt sich die Geschichte des Holocaust nicht durch den reduzierten Blick auf Hitler, Himmler und die SS beschreiben. Buchstäblich alle Bereiche der deutschen Gesellschaft, Wehrmacht wie Zivilverwaltungen, Ministerialbürokratien wie Wirtschaftsplaner, gewöhnliche Deutsche wie örtliche Kollaborateure in den besetzten Teilen Europas müssen betrachtet werden, um der Komplexität der Entwicklung gerecht zu werden. Fünftens schließlich besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass es vor dem Angriff auf die Sowjetunion noch keinen allgemeinen Befehl zum Judenmord gab. „Vielmehr setzten die Vorbereitungen auf das ‚Unternehmen Barbarossa‘ eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen in Gang, und der mörderische ‚Vernichtungskrieg‘ führte dann rasch zum systematischen Massenmord, zuerst an den sowjetischen und bald darauf auch an den anderen europäischen Juden.“ Im September und Oktober 1941 fielen wegweisende Entscheidungen: Die Ausreise von Juden aus dem Deutschen Reich wurde endgültig verboten und eine allgemeine Kennzeichnungspflicht erlassen; nun versprach Hitler dem Propagandaminister und Gauleiter von Berlin, Goebbels, dass die Deportation der Berliner Juden nach der Beendigung des „Ostfeldzuges“ beginnen werde, nachdem er sie bis dato immer auf die Zeit nach dem Endsieg verschoben hatte; nun begann die Planung und Errichtung der Vernichtungslager, in denen der Massenmord auf „sauberere“ und „effizientere“ Art möglich war, als er von den Exekutionskommandos in der Sowjetunion bereits praktiziert wurde.
Umstritten ist hingegen nach wie vor, welche Rolle Hitler selbst im Entscheidungsprozess zur „Endlösung“ gespielt hat. Ein schriftlicher Mordbefehl wurde bislang nicht gefunden, darüber hinaus gibt es keinen Hinweis darauf, dass es einen derart förmlichen Befehl überhaupt gegeben hat. Der „Führer“ pflegte in grundsätzlichen Fragen keine Entscheidungen zu befehlen. Statt dessen lieferte er seinen Untergebenen in seinen oft stundenlangen Monologen Hinweise darauf, wie er sich die Umrisse eines weiteren Vorgehens vorstellte und ermunterte sie dazu, selbst die Initiative zu ergreifen und Vorschläge auszuarbeiten, die er dann gegebenenfalls absegnen konnte. Der Historiker Ian Kershaw zitiert in seiner Hitler-Biografie zur Illustration dieses Mechanismus die Aussagen eines Nazis aus dem Jahre 1934: „Sehr oft und an vielen Stellen ist es so gewesen, dass schon in den vergangenen Jahren Einzelne immer nur auf Befehle und Anordnungen gewartet haben. Leider wird das in Zukunft wohl auch so sein; demgegenüber ist es die Pflicht eines jeden, zu versuchen, im Sinne des Führers ihm entgegenzuarbeiten.“ Wer dabei Fehler mache, werde es früh genug merken; wer jedoch das Richtige tue, werde „eines Tages plötzlich die legale Bestätigung seiner Arbeit“ bekommen. Browning bestätigt diese Sichtweise mit einem Zitat Hitlers vom Oktober 1941: „Wohin käme ich, wenn ich nicht Leute meines Vertrauens fände zur Erledigung der Arbeiten, die ich nicht selbst leiten kann, harte Leute, von denen ich weiß, sie greifen durch, wie ich das tun würde. Der beste Mann ist für mich der, welcher mich am wenigsten bemüht, indem er 95 von 100 Entscheidungen auf sich nimmt.“
Unklar bleibt bei Browning der Stellenwert des Antisemitismus für die deutsche Vernichtungspolitik. Im einleitenden Kapitel gibt er einen kurzen Überblick über die Geschichte des Judenhasses bis zum Vorabend des Dritten Reiches und kommt zu der Einschätzung: „Im Vergleich zu Westeuropa könnte man sagen, dass in Deutschland die politische Rechte antisemitischer, die Mitte schwächer, die Linke stärker, der Liberalismus blasser und die politische Kultur autoritärer war.“ Die deutsche Bevölkerung reagierte in den Jahren nach 1933 auf gewalttätige, pogromartige Ausschreitungen gegen Juden negativ, hatte gegen eine geordnet ablaufende, gesetzliche Diskriminierung aber nichts einzuwenden. Erneut spielte der Beginn des Krieges eine entscheidende Rolle: Der „rassische Imperialismus“ bot den Deutschen die Möglichkeit, sich als „Herrenmenschen“ zu fühlen und die als minderwertig betrachtete Bevölkerung Osteuropas zu unterwerfen. Der Antisemitismus scheint für Browning hierbei keine herausragende Rolle gespielt zu haben, sondern wird der „rassenimperialistischen Perspektive“ untergeordnet. Grenzt sich Browning damit deutlich von Autoren wie Daniel Goldhagen ab, so bemerkt er auf der anderen Seite, dass die Deutschen bei all ihren Verfolgungsmaßnahmen einem Muster treu blieben, das er letztlich nicht ausreichend erklären kann: „Bei Massenexekutionen waren unter den Opfern immer unverhältnismäßig viele Juden gewesen; wo immer Lebensmittel fehlten, verhungerten als Erste Juden; und wo immer Menschen deportiert wurden, konnten sich die Deutschen nicht vorstellen, dass auch nur ein Jude zurückblieb.“
Christopher Browning: Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1941. Mit einem Beitrag von Jürgen Matthäus. Propyläen-Verlag, München 2003,900 Seiten, EUR 35,—