MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 54
Erica Fischer

Der Jud ist schuld

Ginge es vernünftig zu auf der Welt, müßte mit den sechs Millionen Toten auch der Antisemitismus gestorben sein. Wer könnte nach dem Massenmorden, das die jüdische Bevölkerung der meisten europäischen Länder nahezu ausgelöscht hat, noch etwas gegen Juden haben? Doch, wie wir alle wissen, ist diese Annahme naiv. Antisemitismus hat nichts mit den real existierenden Juden zu tun, es gibt ihn in Ländern, in denen vergleichsweise viele Juden und Jüdinnen überlebt haben oder neu zugewandert sind, wie in Frankreich, und es gibt ihn ungebrochen auch in jenen Ländern, in denen die Juden und Jüdinnen nur mehr eine verschwindende Mini-Minderheit bilden, wie in Österreich und in der DDR. Es gibt ihn in den Täterstaaten und es gibt ihn in den Opferstaaten des Nationalsozialismus. Wenngleich die Hilfsbereitschaft gegenüber der jüdischen Bevölkerung in der Nazizeit unterschiedlich groß oder klein war, so gibt es doch kein Land, in dem Juden und Jüdinnen nicht denunziert worden wären. Keine noch so große freiwillige Assimilation ersparte es ihnen.

All das war und ist bekannt. Bekannt, wenn auch nur in ungenauen Umrissen, war auch, daß der Antisemitismus in den Ländern des realen Sozialismus trotz offiziellem Antifaschismus fortlebte. Daß der eigene Anteil an der Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden nicht aufgearbeitet, sondern durch eine bloße Verbotsformel wegretuschiert beziehungsweise als Antizionismus staatlich abgesegnet wurde, rächt sich heute gewaltig. Kaum lockern sich die politischen Sitten, wird die Sowjetunion von einer Flut von Literatur überschwemmt, in der die „zionistische Weltverschwörung“ für den Niedergang Rußlands verantwortlich gemacht wird. Wieder geht die Angst vor Pogromen um. In Polen werden die antisemitischen Ausfälle katholischer Würdenträger von der bigotten Bevölkerung bereitwillig aufgenommen. Und für viele DDR-Schüler war der erste befreiende Tabubruch nach der Öffnung der Mauer am 9. November das Skandieren von „Juden raus“-Parolen. Allerorten werden jüdische Friedhöfe geschändet, nicht nur im Osten.

Was bringt Menschen dazu, nachts auf Friedhöfe zu schleichen und Gräber auszubuddeln, wie Anfang Mai in der südfranzösischen Stadt Carpentras, einem Ort mit der ältesten Synagoge Frankreichs? Tote zu schänden, Gräber zu beschmieren, Friedhofsmauern anzupinkeln sei „Antisemitismus in letzter Konsequenz“, schreibt Henryk M. Broder, „der Haß reicht über den Tod der Opfer hinaus“. Der Anschlag trifft die Lebenden an ihrer empfindlichsten Stelle. Eine Kultur, die in einem solchen Ausmaß zerstört wurde wie die jüdische, konnte nur mit Mühe, wenn überhaupt, überleben. Die Toten stellen für viele eine Kontinuität her, die das Leben nicht mehr bieten kann.

Dieser atavistische Tabubruch ist aber auch ein Medienprodukt. Ein einziger kann mit einfachen Mitteln eine Weltnachricht produzieren. Das geschockte mediale Echo ist ihm gewiß. Warum ist es aber ein jüdischer Friedhof, könnte es nicht auch ein katholischer sein? fragt Broder. Nein, es würde keinen Sinn ergeben, es gäbe kein Motiv. Vielleicht sind die nicht gefaßten Täter von Carpentras Verrückte, wie viele so bereitwillig annehmen, aber ihre Verrücktheit macht Sinn: „Jedes Volk hat die Verrückten, die es verdient.“

Judenhaß, Pogrome, Rassismus aller Art flammen immer dann auf, wenn sich die sozialen und politischen Verhältnisse im Umbruch befinden. Wie die Verunsicherung am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit Hexen- und Judenverfolgungen gigantischen Ausmaßes möglich machte, so bedrohen die existenziellen Ängste der Menschen vor dem unbekannten Neuen, das im Westen wie im Osten in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf uns zukommen wird, vor allem Juden und AusländerInnen. In Gefahr sind aber auch alle anderen, die anders sind: Schwule und Lesben, Frauen, Linke, Behinderte, Punks. Im Schatten des deutsch-deutschen Taumels wurde in der BRD ein Ausländergesetz verabschiedet, das eindeutig rassistische Züge trägt und davor zehn Jahre lang durch öffentlichen Druck verhindert werden konnte.

Doch die ausschließlich sozialen und ökonomischen Erklärungsmuster greifen zu kurz und neigen dazu, rechtsradikale Täter zu entlasten. Es ist die patriarchale, christliche Kultur selbst, die den Rassismus in sich trägt. Sie kann Fremdes und anderes nicht neben sich dulden, weil ihr Wesensprinzip die Hierarchie ist, das Oben und Unten, wie es die Kinder in den Geschlechter- und Familienbeziehungen einlernen. Die selbstbewußte Koexistenz anderer Lebens- und Denkweisen bedeutet für diese Kultur, die nur Ausgrenzung oder Assimilation bis zur Unkenntlichkeit kennt, eine unerträgliche Verunsicherung, weil sie den Absolutheitsanspruch des eigenen Weltentwurfs in Frage stellt.

Wenn Juden und Jüdinnen nach allem, was man ihnen angetan hat, immer noch und wieder in der Öffentlichkeit auftreten, kluge Bücher schreiben, sich politisch engagieren, vor aller Augen in die Synagoge gehen und versuchen, trotz alledem ihr eigenes gesellschaftliches und kulturelles Leben aufzubauen, dann bedeutet das eine Provokation, die umso aggressiver stimmt, als die von Juden und Jüdinnen entvölkerten Länder sich vom kulturellen Kahlschlag nicht mehr erholen konnten. Das schlechte Gewissen über die Mitschuld will nicht aufhören zu brennen. Die allerorten ausgebrochene Welle des Nationalismus ist ein willkommener Anlaß, die unbewältigte Wut darüber an den Uralt-Sündenböcken auszulassen, auch wenn es nur mehr deren Symbole gibt. Der Antisemitismus wird wieder offen ausgelebt nicht trotz, sondern wegen des Holocaust.

In Frankreich immerhin hat der Anschlag von Carpentras zu Massendemonstrationen und einem kollektiven Nachdenken über die historische Mitverantwortung der Franzosen und Französinnen geführt. Was nicht von allen Ländern behauptet werden kann.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1990
, Seite 61
Autor/inn/en:

Erica Fischer:

Freie Autorin, Buchübersetzerin (aus dem Englischen) und Journalistin in der Bundesrepublik Deutschland, seit Ende 1995 in Berlin.

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