Der 60. Jahrestag (1977) war schon von Zweifeln überschattet. Am 21. Parteitag der KPÖ hatte der damalige Zentralsekretär der österreichisch-sowjetischen Gesellschaft, Martin Grünberg, erklärt: „Was viele Menschen daran hindert, den Schritt zu unserer Partei zu machen, sind einige Seiten der sozialistischen Wirklichkeit in der Sowjetunion. Wenn wir die Tatsachen, mit denen wir konfrontiert werden, die Quellen, die wir haben, kritisch prüfen, kommen wir manchmal zu Schlußfolgerungen, die den sowjetischen Genossen und manchen Genossen in unseren Reihen nicht gefallen. Aber man kann diese Probleme nicht wegwischen, man kann sie nicht einfach dadurch abtun, daß man sie als antisozialistische Propaganda bezeichnet.“
Der 70. Jahrestag (1987) schien durch die Gorbatschowsche „Glasnost“ und „Perestroika“ hoffnungsvoll. Den 75. Jahrestag (1992), das war bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem praktischen Ende dessen, was sich als „realer Sozialismus“ bezeichnete, „feierte“ ich mit einer kleinen Gruppe ungarischer Genossen mit einem Referat in Budapest.
Den 80. Jahrestag kann man nur mit einer Analyse der Ursachen des Zerfalls dessen begehen, was wir als „Sozialismus“ bezeichnet haben. Es gibt schon einige wenige Versuche, ich führe meinen Versuch an.
Um dem Leser anzudeuten, woher meine Analyse kommt, einige kleine autobiographische Bemerkungen. Mein Vater Lew Borissowitsch Suniza war ab 1905 russischer Sozialdemokrat-Berufsrevolutionär, wurde 1913 zu drei Jahren Verbannung verurteilt, die ihm auf Grund seines Ansuchens zu einem Aufenthalt im Ausland abgeändert wurden, die er in Österreich verbrachte. Die erste republikanische Regierung Österreichs wies ihn Mitte November 1918 als lästigen Ausländer aus. Ich wurde im Mai 1919 in Wien geboren. Ab 1926 gehörte Suniza zur Leitung der internationalen Leninschule der Komintern und war Mitglied des Büros der Parteileitung in dieser Schule. 1935 wurde er verhaftet. Die Mutter war Mitglied der KPÖ ab Ende 1919, fuhr mit mir 1931 zum Vater nach Moskau und wurde 1937 verhaftet. Ich lebte in Moskau als Russe unter Russen, die damals meinten, „umerla Allilujewa, bely chleb s soboj wsjala, kogda Stalin snowa schenitsja, wowse chleb otmenitsja“ (als Allilujewa (die Gattin Stalins) starb (1932), nahm sie das weiße Brot mit, wenn Stalin wieder heiratet, wird das Brot ganz abgeschafft). Brot war das Hauptnahrungsmittel der Russen, jeder bekam 400 g Schwarzbrot pro Tag. Vater, der nicht nur das Kommunistische Manifest gelesen hatte, sondern, wie alle Bolschewiken, Marx bis zum „Kapital“ in Moskau und danach auch in Wien studiert hatte, hatte mich angesichts der damaligen internationalen Situation zu einem Marxisten erzogen. 1938 mußte ich das Land verlassen.
Ab 1946 war ich Dolmetscher des russischen Generaldirektors bei den Siemens-Schuckert-Werken in Wien, wo die österreichische Direktion gegen eine Umstellung auf sowjetische Verwaltungsprinzipien mit langen Diskussionen mit dem russischen Generaldirektor Widerstand leistete, wobei der russische Generaldirektor langsam zu der Überzeugung gelangte, daß das „Siemens-Prinzip“ den Leninschen Forderungen nach Rechnungsführung und Kontrolle besser entsprach als das sowjetische. Er ernannte mich zu seinem Direktionsassistenten und gab mir den Auftrag, das Siemens-System genau zu studieren, was ich auch tat. Dabei stellte ich (stark gekürzt) folgendes fest: Bei Siemens ist der Hauptbuchhalter nicht dem lokalen Direktor unterstellt, sondern ist ihm gleichgestellt und übt in Wirklichkeit die Kontrolle über die finanzielle, kommerzielle und produktionsmäßige Tätigkeit des Betriebes aus. Im sowjetischen Betrieb war der Buchhalter dem lokalen Direktor unterstellt und schwindelte in seinem Auftrag mit ihm die übergeordneten Stellen an. Bei Siemens gab es eine sehr präzise Kostenrechnung, die angesichts der hohen indirekten Produktionskosten als Kostenstellenrechnung geführt wurde, die eine dem Verursacherprinzip entsprechende Verrechnung der indirekten Kosten ermöglicht. In den sowjetischen Betrieben gab es nur eine angenäherte Kostenrechnung, bei der die recht hohen Gemeinkosten (indirekten Kosten) mit einem angenäherten Koeffizienten den Produktionskosten zugerechnet wurden. Bei Siemens gibt es ein System, das eine Angleichung der technischen Ausführung der Produktion an modernste Ausführung erzwingt, in der Sowjetunion wurde nach dem Prinzip ältester „erprobter“ Ausführung produziert. Und bei der Auswahl der Kader ging man bei Siemens sehr konsequent nach der Auswahl der besten vor, in der Sowjetunion war die „politische“ Eignung wesentlich, wobei die Freunderlwirtschaft blühte. Und verschiedenes anderes mehr. Soweit einige autobiographische Bemerkungen.
Manche meinen, Gorbatschow sei ein Verräter am Sozialismus gewesen. Andere — Chruschtschow habe den Niedergang des Sozialismus begonnen. Hier meine Analyse.
„Säuberungen“
Stalin hatte ein paar hunderttausend ehrliche Revolutionäre-Kommunisten in Lager geschickt und hinrichten lassen. Danach waren nur mehr gesinnungslose Karrieristen im Aufstieg. Warum ließ Stalin Kommunisten hinrichten und in Lager schicken? Weil nach der Kollektivierung der Landwirtschaft die Mehrheit der Parteimitglieder gegen diese Art der Kollektivierung war und die „Gefahr“ bestand, daß der weise Führer abgesetzt wird. Infolge der Kollektivierung wurde die Hälfte des Viehs abgeschlachtet und vergraben, daher gab es viel weniger Fleisch. Die Ernte ging zurück, daher klappte es nicht mehr mit den Exporten, die auf ein Viertel schrumpften. Übrigens hatte die Kollektivierung noch eine Folge: Die Anzahl der Bauern in der Partei wuchs von 1928 270.000 bis 1932 auf 800.000 Mitglieder an. Das waren vor allem jene Bauern, die der Partei bei der Kollektivierung geholfen hatten und dafür 25 Prozent der requirierten Ernte und des konfiszierten Eigentums erhalten hatten. Die „Säuberung“ verlief in zwei Etappen. In der ersten Etappe handelte es sich um eine parteiinterne Säuberung. Es wurde verlangt, daß alle, die gegen die Kollektivierung waren, aus der Partei ausgeschlossen werden, sowie die „Versöhnler“, also jene, die wohl für die Kollektivierung waren, aber gegen den Ausschluß jener, die gegen die Kollektivierung waren. Allein diese Fragestellung zeigt, worum es sich bei dieser Etappe der „Säuberung“ handelte. Im Zuge dieser Etappe verringerte sich die Zahl der Mitglieder und Kandidaten der Partei von 3,555.338 auf 2,909.786 Mitglieder und Kandidaten also um etwa eine Dreiviertelmillion. In der zweiten Etappe übernahm die Federführung bei der „Säuberung“ der Partei das NKWD, das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten. Die Mitgliederzahl 1939 betrug 1,588.852, das heißt, daß bei der zweiten Etappe der „großen Säuberung“ weit über eine Million Parteimitglieder aus der Partei ausgeschlossen wurden. Ausschluß aus der Partei war damals gleichbedeutend mit GULAG oder Genickschuß. Auch das Zentralkomitee der kommunistischen Partei wurde gelichtet. Von den 1934 auf dem Parteitag gewählten 71 Mitgliedern und 68 Kandidaten wurden während der „großen Säuberung“ 1935 bis 1931 51 Mitglieder und 47 Kandidaten hingerichtet. Von den 21 Mitgliedern der Regierung der UdSSR 1934 überlebten bis 1939 nur vier: Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow und Mikojan. Nach diesen Ereignissen verloren viele Menschen den Glauben daran, daß die Sowjetunion ein sozialistischer Staat ist.
Steigerung der Produktion von Konsumgütern
Stalin meinte jedoch, daß er mit der Kollektivierung der Landwirtschaft die einzige richtige Entscheidung getroffen hatte. Die Kollektivierung war nämlich erzwungen. Die Bauern brachten schöne Ernten ein und hielten die Erntevorräte bei sich auf Lager. Warum? Nun, weil für die Bauern keine Konsumgüter zur Verfügung standen. Es wurden viel zu wenig Konsumgüter erzeugt. Warum? Die Resolutionen der Parteitage und der Plenartagungen des ZK der KPdSU verlangten eine Steigerung der Produktion von Konsumgütern und eine Senkung der Preise für sie. Es wurden aber keine Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Punkte vorgeschlagen. Die Direktoren erhielten Prämien in Abhängigkeit vom erzielten Gewinn.
Um einen hohen Gewinn in der Industrie zu erzielen gibt es im Prinzip zwei Wege. Man senkt die Produktionskosten und erzielt dabei bei Gleich- preisigkeit einen höheren Gewinn. Oder man erhöht die Preise. Nun ist es mit der Preiserhöhung so eine Geschichte. Das Preis-Umsatz-Verhältnis unterliegt einer bestimmten Elastizität. Je höher die Preise für eine bestimmte Ware, desto weniger wird von dieser Ware verkauft. Es gibt für jede Ware einen bestimmten Preis, bei dem der erzielte Gesamtgewinn einen maximalen Wert erreicht. Diese „Taktik“ der Preiserhöhung bis zum maximalen Gewinn ist aber nur bei einer Monopolstellung in dem Wirtschaftszweig möglich, da ansonsten die Konkurrenz die Preise unterbietet. Daher wird im Kapitalismus von den Betrieben Senkung der Produktionskosten verlangt. Wenn alle technischen und kaufmännischen Möglichkeiten zur Senkung der Produktionskosten ausgeschöpft sind, ist der letzte Schritt — eine Steigerung der Produktion bis zur vollen Ausschöpfung der Produktionskapazität. Dabei werden die konstanten, von der Produktionsmenge unabhängigen indirekten Produktionskosten auf eine größere Menge produzierter Waren aufgeteilt, und dadurch wird der Anteil der indirekten Kosten im Einzelerzeugnis geringer, das heißt, daß durch eine Steigerung der Produktion die Produktionskosten für das einzelne Erzeugnis geringer werden.
„Brief an der Parteitag“
Nikolaj Iwanowitsch Bucharin, der in dem als Testament Lenins in die Geschichte eingegangenen „Brief an den Parteitag“ als überaus begabter und bedeutender Theoretiker bezeichnet wurde, schrieb in seinem in der »Prawda« noch im Todesjahr Lenins am 12. Dezember 1924 veröffentlichen Artikel, „Eine neue Offenbarung über die sowjetische Ökonomie, oder wie man den Arbeiter-Bauern-Block ins Verderben stürzen kann“, der 1925 auch als Broschüre erschien: „Wir führen eine Politik der Preissteigerungen durch, indem wir unsere Monopolstellung ausnützen. Von unserem Standpunkt aus betrachtet ist es klar, daß dies ein maximaler Ausdruck des parasitären Verfaulens der Monopolwirtschaft ist“.
In den 20er Jahren gab es in der Sowjetunion den Begriff der „Preisschere“. Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare gab uns eine Vorstellung, was darunter zu verstehen ist. Am 15. Parteitag der KPdSU (2.-12.12.1927) vermerkte der damalige Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Rykow, in seinem Referat, daß die Preise der von der Industrie hergestellten Konsumgüter bezogen auf die Preise von landwirtschaftlicher Produktion doppelt so hoch seien, wie vor dem ersten Weltkrieg.
Um die Preise für Konsumgüter hoch zu halten, darf man nicht viel davon produzieren. Große Produktionsmengen, die in die Nähe einer guten Bedarfsdeckung kommen, drücken die Preise in die Nähe der Produktionskosten, da bleibt nicht viel für Gewinne übrig.
Schattenwirtschaft
Viele Analytiker des Untergangs des Sowjetsystems sind sich darüber einig, daß die Ursache in der Schattenwirtschaft liegt. Die Pläne zwischen Produktion und Handel waren nicht abgestimmt. Der gesamtstaatliche Plan für den Handel mit Konsumgütern lag wesentlich unter dem Produktionsplan. Wenn ein Geschäft seinen Plan übererfüllte, erhielt es den darauffolgenden Plan auf dem Niveau des Erreichten (po dostignutome). Daher erfüllten alle den Plan nur zu 100,1 bis 100,2 Prozent. Wenn alle Geschäfte den Umsatzplan erfüllten, blieben noch Unmengen an Waren für die Schattenwirtschaft übrig. Diese Waren wurden dann zu weit überhöhten Preisen verkauft und die Preisdifferenz bildete das „Kapital“ der Schattenwirtschaft, aus dem unter anderem dann die sogenannte russische Mafia entstand, wobei dies eine vollkommen andere Erscheinung ist, als etwa die italienische Mafia. Die Schattenwirtschaft gab es schon in der Zeit von 1931 bis 1938, die ich in der Sowjetunion verbrachte.
Übrigens gibt es Anzeichen, daß Breschnew bereits 1962, als er Präsident der Sowjetunion, aber noch nicht Generalsekretär der Partei war, Kontakte zu dunklen Kreisen hatte und diese unterstützte. Daher ist anzunehmen, daß Chruschtschow (der vorletzte Sozialist vor Andropow, dem letzten der Parteiführer, der noch für den Sozialismus war) von der Schattenwirtschaft gestürzt wurde und Breschnew ein Kandidat eben dieser Schattenwirtschaft war.
Warum ist eine Analyse der Ursachen des Zusammenbruchs des sowjetischen Systems notwendig? Wir leben im Kapitalismus. Die Arbeitsproduktivität steigt ständig. Das bedeutet, daß es den Werktätigen von Jahr zu Jahr besser gehen müßte. Aber seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems wird das Kapital in den entwickelten kapitalistischen Ländern immer frecher und versucht, die Einkommen der Werktätigen zu kürzen. Der amerikanische Politökonom John Kenneth Galbraith meint in dem Kapitel „Die Eigenständigkeit des Geldes“ in seinem Buch „Die Entmythologisierung der Wirtschaft“, das liege daran, daß das Geld seit dem 17. Jahrhundert zu seiner ursprünglichen Rolle als Vermittler im Handel eine zweite Rolle als Zinsträger erhalten hat. Die Budgets der Regierungen dienen der Umverteilung von unten nach oben. Mehr als dreißig Prozent der Steuereinnahmen, also etwa 200 Milliarden Schilling, dienen dem Schuldendienst (100 Milliarden für Zinsen, 100 Milliarden für die Tilgung), das heißt sie werden bei den Steuerzahlern eingenommen und an das parasitäre Kapital weitergeleitet. Während der japanische Zinsfuß seit Jahren bei einem halben Prozent liegt, sind wir, dem deutschen Beispiel folgend, bei sechs Prozent. Vor 30-40 Jahren kauften die Japaner massenhaft Lizenzen für Produktionen auf, heute sind sie bei vielen Produkten Weltspitze. Bei uns herrscht das parasitäre Kapital.
Sozialismus ist in der Ökonomie
Die Erfahrung der letzten 80 Jahre in der Sowjetunion besagt: Sozialismus ist in der Ökonomie: Rechnungsführung und Kontrolle (Lenin), also Kostenstellenrechnung in der gesamten Wirtschaft, Buchhalter sind unabhängig von der Direktion und sind Kontrollorgane über die wirtschaftliche Tätigkeit, Betriebe erhalten eine zweite Leitungsebene, die sich in den Tagesablauf nicht einmischt, aber über Prämien dafür zuständig ist, daß die technische Ausführung der Erzeugnisse immer besser wird, daher aus Vertretern der Verbraucher und der Wissenschaft besteht, dieser Aufsichtsrat bestimmt auch die Zusammensetzung der Direktion, die alle drei Jahre neu gewählt wird, wobei nicht mehr als ein Direktionsposten neu zu besetzen ist, auch die unteren Ebenen werden nicht „politisch“, sondern fachmännisch gewählt.