Weg und Ziel » Jahrgang 1997 » Heft 5/1997
Judith Gruber
Zum Tod von Franz Kain

Den Finger an die Würgmale gelegt

„Der Kain“, sagte mein Vater immer, „ist der beste Grabredner und Nach­rufschreiber.“ Sich mit einem Nachruf über Franz Kain mit Franz Kain selbst messen zu müssen, scheint mir daher unmöglich zu sein.

Franz Kain †

Für den Tag vor Allerheiligen, an dem Franz Kain auf dem Linzer Urnenfriedhof verabschiedet wurde, hatte er zugesagt, im Friedhofsgasthaus „Zur ewigen Ruh“ eine Lesung zu halten. Weil er ein Friedhofsgasthaus mit diesem Namen zum Schauplatz seines — einzigen — Linz-Romans gemacht hat. Und das zeigt, daß seine Beziehung zu Tod und Begräbnis eine besondere war, eine, wie er selbst es häufig nannte, barocke und lebensbejahende. Nach dem Tod eines solchen Menschen sollte man sich an ihn erinnern dürfen, einfach den Gedanken an ihn nachhängen dürfen, so wie man ihn im Leben erlebt hat und sich nicht den Zwängen eines Nachrufs unterwerfen müssen.

Wenn bei mir zu Hause von Franz Kain die Rede war, so hieß es: „Der Kain“. Und so war mir „der Kain“ schon als Kind vertraut, auch wenn ich ihm persönlich noch nie begegnet war. Da erzählte mir meine Mutter, wie ihr der Kain irgendwann in den beginnenden fünfziger Jahren eine halbe Nacht lang von familiären Sorgen berichtet hätte, und da war mein Vater, der während des Mittagessens meinte, der Kain habe heute wieder einen ganz besonders guten Artikel geschrieben, und dazu lachte, denn irgendwo fand sich in Franz Kains besonders guten Artikeln immer ein Zungenschlag, der zum Lachen reizte.

So wie mein Vater „der Kain“ sagte, klang es immer ein wenig anders, als wenn von anderen Leuten die Rede war. Da schwang eine ganz besondere Art von Achtung, Anerkennung, Akzeptanz von Besonderheit, ja, eine gewisse Bewunderung und gleichzeitig auch ein Wundern mit. „Der Kain“ bedeutete, Persönlichkeit zu sein. Wenn also bei mir zu Hause von einem Menschen so gesprochen wurde, dann — das begriff ich schon als Kind — war dieser Mensch eben ein besonderer Mensch, in jeder Hinsicht.

Am Freitag nachmittag kam Franz Kain noch zum Begräbnis meines Vaters, am Montag früh starb er. Wir haben alle gewußt, daß er schwerkrank war, er machte kein Geheimnis daraus, daß er Lungenkrebs hatte. Dennoch hätte sich am Freitag noch niemand vorstellen können, daß er am Montag tot sein würde, anstatt sich auf seine Lesung im Gasthaus „Zur ewigen Ruh“ vorzubereiten.

Wer Holzverstand hat, weiß es längst: die astreichen und schad­haften Stellen des Stammes sagen mehr über die Beschaffenheit eines Waldes aus als schön ausgeformte Längen. Von ihnen ist das Knorrige abgetrennt, die übriggebliebene Glätte täuscht Harmonie vor ... Un­sere Geschichte hat viele und aus­geprägte Würgmale, die allen Ver­suchen, sie glattzuhobeln, wider­stehen. Die wesentlichen Haupt- und Staatsaktionen aneinanderge­reiht, würden einen geraden Weg vorwärts erkennen lassen. Nimmt man jedoch die Würgmale dazu, dann ergibt sich ein Weg, der in vielen Windungen zunächst einmal zum Ödensee führt.

Aus: Franz Kain, Der Weg zum Ödensee

Franz Kain war ein Mensch, der es niemandem und am allerwenigsten sich selbst leicht gemacht hat. So gehörte es eben auch zu seiner Persönlichkeit, daß er bis zu seinem Tod gearbeitet hat. Er hat geschrieben, hat die zweite Auflage seines autobiographischen Romans „Am Taubenmarkt“ vorbereitet, das Erscheinen dieser Neuauflage hat er nicht mehr erlebt. Und er hat bis zuletzt in Bad Goisern bei seinem Haus gearbeitet, dort vor nicht allzulanger Zeit und schon schwerkrank selber Holz gemacht, denn die Holzarbeit war ihm, dem früheren Holzknecht, immer besonders wichtig gewesen.

Er hat seine Krankheit nicht zum Anlaß genommen sich zurückzuziehen. Ganz im Gegenteil, er war im oberösterreichischen Kulturleben im letzten Jahr fast noch aktiver und präsenter als früher. Nicht ganz zwei Wochen vor seinem Tod konnten ihn die Linzer bei einer großen Veranstaltung im Rahmen des Linzer Autorenkreises als Zeitzeugen erleben. Und da, so erzählten mir zwei Autorenkollegen wenige Tage danach in Linz, sei der Kain ganz der alte gewesen und habe seine Zuhörer mit den Erzählungen aus seinem Leben geradezu gefesselt. Großartig sei er gewesen, der Kain, meinten sie, und gut müsse es ihm gehen, denn von seiner Krankheit habe man an diesem Abend nichts gemerkt.

Franz Kain konnte wie kein anderer aus dem Leben erzählen. Sein literarisches Werk ist der beste Beweis dafür. Bis auf wenige Ausnahmen waren es autobiographische Themen, mit denen er sich auseinandersetzte. Franz Kain war ein Schriftsteller, der sich selbst oft als Geschichtenerzähler oder Geschichtenschreiber bezeichnete. Unter dem Titel des 1973 erschienenen Bandes „Der Weg zum Ödensee“ steht nicht, wie es sich korrekterweise gehört hätte, „Erzählungen“, sondern „Geschichten“.

Ich selbst habe ihn an vielen, vielen Nachmittagen als faszinierenden Erzähler seiner eigenen Geschichte erlebt. Mit der ihm eigenen Skepsis und Vorsicht reagierte er damals, Ende der siebziger Jahre, auf mein Ansinnen, meine Doktorarbeit über sein literarisches Werk zu schreiben. So ganz hat er es sich wohl selbst und mir nicht zugetraut, daß daraus auch wirklich etwas werden könnte. Aber dann hat er sich doch auf dieses Abenteuer eingelassen und sein Leben vor mir ausgebreitet. Ich sehe ihn noch heute vor mir sitzen, verschanzt hinter seinem großen Schreibtisch in der Linzer Redaktion der »Neuen Zeit«, riesige Stapel von Papieren auf diesem Schreibtisch, die ihn wie eine Schutzmauer umgaben. Den kleinen Kassettenrekorder, der mitlief, vergaß er schon nach wenigen Minuten, und da erzählte er, stundenlang, ohne daß auch nur einmal ein längeres Schweigen eingetreten wäre, ohne Stocken berichtete er, und Zeit für eine Zwischenfrage zu finden war für mich meist schwierig, denn wenn der Kain einmal im Erzählen war, dann konnte ihn nichts aufhalten.

Mehr als 35 Stunden Gesprächsprotokoll auf Band liegen seither in meinem Kain-Archiv, und ich muß ehrlich gestehen, ich habe mich in all diesen Stunden nie auch nur eine Minute gelangweilt. Denn aus welchem Abschnitt seines Lebens er auch immer erzählte, er erzählte spannend und bewegend aus einer spannenden und bewegenden Zeit.

Schließlich erzählte er nicht nur einfach Geschichten, er erzählte Geschichte mit seinen Geschichten und mit seiner Lebensgeschichte. „Die Geschichte mit Hilfe von Geschichten zu beleuchten, die im Schatten ihrer Zäsuren wachsen, ist ein Akt nationaler Selbstkritik“, schrieb er in der Schlußgeschichte des Geschichtenbandes „Der Weg zum Ödensee“. So betrachtet, muß man sein gesamtes literarisches Schaffen als Akt nationaler Selbstkritik bezeichnen.

Wenn er jedoch hinter seinem mit Papierbergen angeräumten Schreibtisch saß und erzählte, sich selbst nur manchmal dadurch unterbrechend, daß er eine Prise Schnupftabak nahm, dann klangen die Geschichten bei weitem nicht so theoretisch und hochtrabend, sondern einfach, und oft saß ich da und mußte lachen, weil er nicht selten auch traurige oder ernste Dinge so erzählen konnte, daß sich etwas zum Lachen darin fand.

Das beginnt bei Franz Kains Großvater, dem der Ruf eines berühmten, aber auch berüchtigten Mannes vorauseilte: der Maurer aus Goisern im Salzkammergut, der bei der Gründung der Konsumgenossenschaft dabei war und auch beim Versuch, das Jodschwefelbad, das aus Goisern ein Bad Goisern machte, genossenschaftlich zu führen, der aber auch wegen eines simplen Dachvorsprungs an seinem Haus einen jahrzehntelangen Kampf mit der kaiserlichen Forstverwaltung führte. Dem Enkel erzählte die Familie, daß der Großvater mit den kaiserlichen Forstbeamten nur mit der Axt in der Hand verkehrt habe. Franz Kains Vater wiederum war ein belesener Mann, nicht zuletzt deshalb, weil er für einige ledige Kinder Alimente zu zahlen hatte, daher kein Geld für die Vergnügungen besaß, wie sie sonst die jungen Goiserer Burschen zu genießen pflegten, und sich also in die Bibliothek des sozialdemokratischen Arbeiterbildungsvereins einschreiben ließ, weil Lesen wenig kostete. Während des Ersten Weltkriegs in russische Kriegsgefangenschaft geraten, meldete sich Rudolf Kain zur Roten Armee, die den gelernten Maurer als Hilfsgeometer beschäftigte, dessen Aufgabe es war, den Boden großer Güter aufzuteilen.

Eine solche Familiengeschichte kann einen Menschen sehr stark prägen und Franz Kain wurde davon geprägt. Verwunderlich, ja, geradezu kauzig klang da so manches, was der Kain aus dem Leben seines Großvaters väterlicherseits und auch von dem mütterlicherseits und natürlich von seinem Vater zu erzählen wußte, und doch gespickt mit Sozialkritik und mit der Darstellung der sozialen Situation der Landbevölkerung in jener Zeit. Da erzählte er so ganz locker und ein bißchen weitschweifig und mit viel Humor ein Stück Sozialgeschichte und auch ein Stück politischer Geschichte.

Er selbst, als Kind armer Leute im Jahr 1922 geboren und schon mit vierzehneinhalb Jahren als Politischer vorbestraft, mußte froh sein, als Holzknecht in den steilen Wäldern um Ischl und Goisern Arbeit zu finden. Er hatte sich früh politisch festgelegt und war Mitglied des KJV, des Kommunistischen Jugendverbandes, geworden. Ein Weg, der nicht unbedingt vorgezeichnet war. Ein älterer Bruder war Sozialdemokrat geworden und hatte aktiv an den Februarkämpfen des Jahres 1934 im Salzkammergut mitgewirkt, der andere ältere Bruder war zu den illegalen Nazis gegangen. Franz Kain aber wurde Kommunist.

Wie er als Sechzehnjähriger den Einmarsch Hitlers 1938 erlebte, beschrieb er in den fünfziger Jahren in seinem Roman „Der Föhn bricht ein“. Es ist — sieht man von seiner Autobiographie „Am Taubenmarkt“ ab — der biographischeste Roman, den er geschrieben hat und gleichzeitig ein Lehrbeispiel dafür, wie Franz Kain erlebte Geschichte und die dadurch bedingten Zäsuren in einer Geschichte erzählen konnte. Und es ist ein Roman, der seine Arbeitswelt als Holzknecht schildert. Eine mühevolle, schwere und gefährliche Arbeit war es, der Kain da nachging, aber das beschrieb er ohne Larmoyanz, sich damit deutlich abhebend von so mancher Arbeitsweltliteratur, denn mit welchem Stolz und mit welcher Befriedigung er Holzknecht war, bewies bis zuletzt sein Umgang mit der Holzarbeit.

1941 wurde Franz Kain wegen der Aktivitäten der KJV-Gruppe im Salzkammergut verhaftet, las in den zwei Gefängnisjahren in Wels unendlich viel, und meldete sich schließlich nach seiner Verurteilung zu drei Jahren Zuchthaus unfreiwillig freiwillig zur Strafbrigade 999, mit der es ihn nach Nordafrika verschlug. Die Erzählung „Gewißheit im Mohn“ (enthalten im Band „Der Weg zum Ödensee“) beschreibt diesen Teil im Leben Franz Kains, und sie gehört sicherlich zu den allerschönsten Geschichten, die Kain geschrieben hat, mag dies auch seltsam anmuten angesichts der Thematik.

Stunden hat mir der Kain von dieser Zeit erzählt, und obwohl es für ihn alles andere als eine angenehme Zeit gewesen ist, hat er auf eine Art und Weise davon erzählt, daß es angenehm war, ihm zuzuhören. Wie er in US- Kriegsgefangenschaft geriet, wie es ihn, den Holzknecht aus dem Salzkammergut, in alle möglichen Teile der USA verschlagen hat, von einem Kriegsgefangenenlager ins andere, weil er auch dort ein Aufmüpfiger war, ein Widerspenstiger. Aber er hat dort intensiv zu schreiben begonnen, Lyrik zuerst, dann Prosa, und er hat an der Lagerzeitung mitgearbeitet.

Als Franz Kain 1946 nach Österreich zurückkehren konnte, wartete man auf ihn schon in der Redaktion der »Neuen Zeit« in Linz, der oberösterreichischen Ausgabe des Zentralorgans der KPÖ. Der Schriftsteller Arnolt Bronnen war dort sein Chef und Lehrer. Von 1946 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1982 blieb Franz Kain Redakteur, später Chefredakteur der »Neuen Zeit«. Drei Jahre davon, von 1953 bis 1956, hielt er sich als Korrespondent in Berlin auf. Von 1977 bis 1986 vertrat er die KPÖ im Linzer Gemeinderat.

In all diesen Jahren war Franz Kain nie nur Journalist oder nur Schriftsteller oder nur Politiker. „Der Kain“ war er, weil er alles gleichzeitig war, weil das eine ohne das andere nicht vorstell

bar war. Sein journalistisches Schreiben war immer politisch und auch literarisch, als Schriftsteller war er politisch und wie literarisch so manche Rede von ihm im Linzer Gemeinderat war, darüber redet man noch heute in Linz.

Was auch immer Franz Kain aber schrieb oder in den verschiedensten politischen Foren sagte, er legte dabei den Finger an die Würgmale. Und das führte natürlich dazu, daß ihn das offizielle Österreich als Schriftsteller lange Zeit nicht anerkannte, denn er war in vieler Hinsicht ein Unbequemer und vor allem ein politisch Widerspenstiger. Erst Ende 1994 wurde er mit dem Adalbert-Stifter-Preis des Landes Oberösterreich ausgezeichnet und erhielt damit die höchste Ehrung, die einem Autor in diesem Bundesland zuteil werden kann. Wenn man bedenkt, daß er seine erste literarische Veröffentlichung im Jahr 1948 erlebte und bis 1994 eine lange Reihe von Erzählbänden und Romanen erschienen ist, zuerst im Globus-Verlag, dann im Berliner Aufbau-Verlag und schließlich im Verlag „Bibliothek der Provinz“ in Österreich, so war es wirklich eine reichlich späte Ehrung, die Kain da zuteil wurde.

„Daß die Gesellschaft keine harmonische ist, sondern eine zerrissene, ist ein alter Hut. Für den Geschichtenschreiber kommt es darauf an wie sie ihn trägt und erträgt“, schrieb Franz Kain im Essay „Vom Wagnis Geschichten zu schreiben“. Er jedenfalls hat es gewagt, Geschichten zu schreiben. Seine Geschichte, aber vor allem die Geschichte einer Zeit, die oft verworren und schrecklich war und deshalb viel zu oft und zu lange verdrängt wurde. Daß die Verdrängung nicht gelang, ist auch ein Verdienst von Franz Kain.

Von Franz Kain sind derzeit im Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra, folgende Bücher erhältlich:

  • Der Schnee war warm, Erzählungen
  • Im Brennesseldickicht, Erzählungen
  • Das Ende der ewigen Ruh, Roman
  • Der Föhn bricht ein, Roman
  • Die Donau fließt vorbei, Erzählung
  • Der Weg zum Ödensee, Geschichten
  • Die Lawine, Erzählungen
  • In Grodek blüht der Abendstern, Roman
  • Am Taubenmarkt, Roman (erscheint in überarbeiteter Neuauflage 1998)

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1997
, Seite 61
Autor/inn/en:

Judith Gruber:

Hat Germanistik studiert und ist als Schriftstellerin tätig.

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