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Bernhard Mark-Ungericht

Das MAI: Der falsche Weg gesellschaftlicher Entwicklung

Von Le Monde diplomatique als „neues internationales kapitalistisches Manifest“ bezeichnet, vom Guardian als „New World Government“, ist das MAI (Multilaterales Investitionsabkommen) zum Brennpunkt der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung über die nicht nur ökonomische Entwicklungsrichtung unserer Gesellschaften geworden.

Die Jahre kurz vor 1850 gelten als die Geburtsstunde neoliberaler Wirtschaftsphilosophie. Es kam zur Verabschiedung der sogenannten Corn laws, und die Idee des Freihandels wurde zur dominanten wirtschaftlichen Ideologie. Gleichzeitig fand ein anderes Ereignis statt, das selten mit dem ersten in Beziehung gesetzt wird: Im August 1847, mitten im „Schwarzen Jahr“, in dessen Verlauf 18,5 % der irischen Bevölkerung an Unterernährung starben (1,5 Mio.) und 2,5 Mio. auswanderten, resümierte Lord Clarendon, der Vertreter Britanniens in Irland, in einem Bericht an den Premierminister: „Was wir auch tun, man wird uns kritisieren: Wenn wir sie leben lassen, kritisieren uns die Ökonomen, lassen wir sie sterben, kritisieren uns die Philanthropen.“ Der Innenminister, Sir George Gray, erklärte: „Es könnte sein, daß die Regierung getadelt wird, weil Sie Menschen sterben läßt, aber noch viel strenger wird man uns kritisieren, wenn wir öffentliche Gelder bereitstellen.“ Irland exportierte trotz der Hungersnot Nahrungsmittel an zahlungskräftigere Kunden.

Nach Zahlen des deutschen Soziologen Ulrich Beck hat sich der Anteil der Unternehmenssteuern an den gesamten Steuereinnahmen des Staates von 1989–1993 halbiert. Die Gewinne der Unternehmen stiegen seit 1979 um 90 %, die Löhne um 6 %, dennoch hat sich das Lohnsteueraufkommen verdoppelt und haben sich die Steuern auf Gewinne halbiert. Die meisten Transnationalen Unternehmen zahlen im Inland längst keine Steuern mehr. Die EU-Länder sind in den letzten 20 Jahren um 50 bis 70 % reicher geworden, die Wirtschaft wuchs schneller als die Bevölkerung, und dennoch gibt es 20 Mio. Arbeitslose, 5 Mio. Obdachlose und 50 Mio. Arme in der EU. Wo ist der Reichtum hin? Für die USA gibt es Berechnungen, daß 96 % des zusätzlichen Reichtums den reichsten 10 % der US-Bevölkerung zugeflossen ist. Eine Notwendigkeit zum Handeln? Ja, aber die Tendenz geht in die falsche Richtung.

Das Multilaterale Investitionsabkommen der OECD

Seit mehr als zwei Jahren wird im Verein der reichsten Industrieländer (OECD) ein Vertrag ausgehandelt (MAI: multilateral agreement on investment), dessen Ziel der Schutz und die Liberalisierung ausländischer Investitionen ist. Multinationale Unternehmen werden dabei teilweise Nationalstaaten gleichgestellt, und sie erhalten das Recht, Staaten auf die Einhaltung der MAI-Bestimmungen zu klagen, Schadenersatz zu verlangen, und die Staaten verpflichten sich, dem Urteil des MAI-Schiedsgerichtes Folge zu leisten. Das MAI stellt nach Ansicht seiner Kritiker eine neoliberale Verschärfung der NAFTA-Bestimmungen (Nordamerikanisches Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko) dar und ist der Versuch ihrer Ausdehnung über den ganzen Globus. Kritisiert wird auch, daß die Verhandlungen bislang fernab jeder Öffentlichkeit erfolgten und daß die Machtverschiebung zugunsten Multinationaler Unternehmen und ihre Auswirkungen auf Lebens- und Arbeitswelt politisch nicht diskutiert werden. Die Gewerkschaften wurden, obwohl ihre Einbindung zugesagt wurde, erst nach eineinhalb Jahren durch Dritte auf dieses Vertragswerk aufmerksam gemacht. Das MAI soll im Mai 1998 von den nationalen Parlamenten (auch dem österreichischen) abgesegnet werden. Die unterzeichnenden Staaten verpflichten sich, für mindestens 20 Jahre die Bestimmungen des MAI zum Schutz internationaler Investoren einzuhalten. Dies bedeutet, daß nationale Wirtschaftspolitik unabhängig von politischen Veränderungen (demokratischen Wahlen) für einen sehr langen Zeitraum auf das neoliberale Experiment mit all seinen katastrophalen Konsequenzen für Mensch und Natur verpflichtet wird. Laut OECD ist das MAI „der erste Versuch, in einem internationalen Abkommen multilaterale Verpflichtungen zu schaffen, welche den Schutz von Investitionen, die Liberalisierung von Investitionstätigkeit und verpflichtende Streitbeilegungsmechanismen kombiniert“. Es zielt auf die „Eliminierung von Rahmenbedingungen, welche internationale Investitionsflüsse stören könnten“. Den internationalen Investoren sollen zumindest „nationale Behandlung“ (Gleichstellung mit inländischen Unternehmen) und ein „Meistbegünstigtenstatus“ gewährt werden. Da „Investitionen“ vom MAI extrem weit definiert werden – u.a. auch geistiges Eigentum (Patentrechte auf Leben, Gene?), Grund und Boden, indirekte Investitionen wie Beteiligungen –, wird nahezu die gesamte Ökonomie eines Landes prinzipiell von den MAI-Bestimmungen erfaßt.

Das Interesse der Konzerne

Entstehungshintergrund des MAI ist der Versuch (v.a. der USA im Interesse ihrer Konzerne), die regulativen Möglichkeiten von Regierungen zu beschränken (z.B. Mindestmaß an einheimischen Beschäftigten, einheimische Vorprodukte, Regulation von Gewinn- und Kapitaltransfers etc.) bzw. eine Öffnung von geschlossenen oder regulierten Märkten zu erzwingen. Diese Beschränkung staatlichen Handlungsspielraumes soll nicht nur in die Zukunft reichen, sondern auch rückwirkend gelten. So sehen die sogenannten „Stillstands- und Rücknahmebestimmungen“ ein Verbot zukünftiger Gesetze und politischer Maßnahmen vor, die den Liberalisierungsbestimmungen des MAI widersprechen, bzw. sollen all jene bestehenden Gesetze rückgängig gemacht werden, die dem MAI entgegenstehen. Während der MAI-Entwurf den Investoren weitgehende Rechte garantiert, wird den Staaten nur „empfohlen“, ihre Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards nicht zu reduzieren, um Investoren anzulocken. Auf der gleichen unverbindlichen Ebene bewegen sich die „Empfehlungen“ zur freiwilligen Einhaltung der „OECD-Verhaltensrichtlinien für Multinationale Unternehmungen“ (u. a. sollten die Multinationalen Unternehmen „das Recht ihrer Beschäftigten auf gewerkschaftliche Repräsentation respektieren“, sie sollten „Arbeitsbedingungen schaffen, die nicht schlechter als bei vergleichbaren Firmen im Gastland sind“, sie sollten ihre „Personalpolitik in einer nichtdiskriminierenden Art und Weise betreiben“ etc.). Selbst diese bloßen Empfehlungen sollen nach Ansicht einiger Delegationen nicht einmal als unverbindlicher Anhang in das MAI-Abkommen aufgenommen werden. Diese ungleiche Gewichtung spiegelt die Machtverhältnisse einer deregulierten Ökonomie wieder. Selbst gegen die äußerst vage und unverbindliche Empfehlung an die Staaten, ökologische Standards und Arbeitsbedingungen im Wettbewerb um Investitionen nicht zu verschlechtern, legten immerhin sechs Verhandlungsdelegationen ihr Veto ein.

Anschlag auf die staatliche Souveränität? – der „Ethyl-Fall“

Ein zentraler Aspekt des MAI ist die Schaffung eines Schiedsgerichtes. Multinationale Unternehmen erhalten somit die Möglichkeit, Staaten auf die Einhaltung der liberalen MAI-Bestimmungen zu verklagen bzw. Schadenersatz zu fordern. Die Staaten verpflichten sich, dem Spruch des MAI-Schiedsgerichtes Folge zu leisten. Welche Konsequenzen damit verbunden sein könnten, zeigt der sogenannte „Ethyl-Fall“. Entsprechend den Bestimmungen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) – welches Vorbild für das MAI war – verklagte kürzlich die US-amerikanische Firma Ethyl die kanadische Regierung auf 251 Millionen US-Dollar Schadenersatz. Nachdem alle bereits vorher angekündigten Klagsdrohungen der Ethyl Corporation nichts nutzten und das kanadische Parlament den hochgiftigen Treibstoffzusatz MMT verbot (welcher von der US-Firma nur in Kanada verkauft wird), brachte das Unternehmen gemäß NAFTA-Bestimmungen Klage ein. Mit der Begründung, daß das Gesetz und sogar die rechtliche Debatte darüber eine Teilenteignung durch Rufschädigung darstellten, wird die Zahlung von 251 Millionen US-Dollar Schadenersatz verlangt. Vertreter der amerikanischen Industrie begrüßten die Möglichkeit der Klage von Nationalstaaten, da dies einen erzieherischen Effekt auf die Parlamente habe und die politische Diskussion und ihre Ergebnisse angesichts der absehbaren Millionenklagen positiv (im Sinne der Industrie) beeinflusse. Nicht ein kanadisches Gericht wird entscheiden, ob das MMT-Verbot den NAFTA-Bestimmungen widerspricht, sondern ein internationales Tribunal, das fernab jeder Öffentlichkeit abgehalten wird und wo die zugrundeliegenden Dokumente nicht für jeden einsehbar sind. Es droht die Gefahr, daß gemäß MAI-Abkommen Regierungen Investoren entschädigen müssen, wenn sie Regulierungen oder Verbote im Interesse der öffentlichen Gesundheit oder des Umweltschutzes erlassen. Sollte Ethyl das Verfahren gewinnen, so wäre dies eine Botschaft an Investoren, sich über Klagen an Steuergeldern zu bereichern oder zu versuchen, Umweltgesetze zu Fall zu bringen. Den Rechten (ausländischer) Investoren, wird das gleiche Recht zugesprochen wie dem öffentlichen Interesse, nicht vergiftet zu werden.

Eine Einschätzung des MAI – die Gefahren der Deregulierung

Verdächtig ist jedenfalls die Geschwindigkeit, mit der versucht wird, das MAI fertigzustellen und von den nationalen Parlamenten absegnen zu lassen. Eine Geschwindigkeit, die kaum Zeit für existentielle Fragen zu lassen scheint: Welche Auswirkungen haben die MAI-Bestimmungen auf die Arbeitenden, auf die natürlichen Lebensgrundlagen, auf den Schutz des regionalen Umfeldes? Die Paradoxie einer transnationalen Wirtschaft – die mit Abbau von Investitionshindernissen (sprich: Abbau von ökologischen, gewerkschaftlichen, sozialstaatlichen, steuerlichen Regelungen) gelockt und belohnt werden muß, damit sie immer mehr Arbeit abschafft und auf diese Weise zugleich immer „produktiver“ und „wettbewerbsfähiger“ wird – muß politisch erst verkraftet werden. Ein internationales Abkommen zur Regelung von Investitionen wäre eigentlich eine begrüßenswerte Sache, nur ist der vorliegende Vertragsentwurf eine bloße neoliberale De-Regulierung von Investitionen. Politik wird im vorliegenden Entwurf zum Instrument von Investoreninteressen reduziert und als Möglichkeit des Interessenausgleiches zunehmend abgeschafft. Nicht nur den Gewerkschaften, auch dem Staat und der Politik geht es langsam an den Kragen. Die zentrale Konfliktlinie des 19. Jahrhunderts war die Klassenfrage, heute ist es die Globalisierungsfrage. Doch während die Gewerkschaften im 19. Jahrhundert noch als Gegenmacht auftreten konnten, muß sich für das 21. Jahrhundert erst noch eine solidarische Gegenmacht herausbilden, denn mittlerweile füllen die Transnationalen Unternehmen das entstandene Machtvakuum. Die herrschende Lähmung der Politik und ihre schleichende Entmachtung führen dazu, daß Politik zunehmend vom Geschäft abgelöst wird, mit dem Endpunkt, daß keine politische Idee mehr als Siegerin hervorgehen wird, sondern eine „rationale“ Struktur, in der das Geschäft die wahre, die rechtmäßige Autorität ist.

Der schwache Staat als Ziel?

Sofern die Aufrechterhaltung hoher arbeitsrechtlicher und Umweltstandards, die Entwicklung benachteiligter Regionen oder Sozialprogramme nicht durch das Regelwerk des MAI direkt erschwert werden, werden sie zumindest als letzter Einsatz schwacher Nationalstaaten in das globale Standortwettspiel eingebracht werden. Das MAI zielt auf eine Schwächung der Regierungen gegenüber ausländischen Investoren ab, und schwache Nationalstaaten haben nichts mehr zu fordern, sondern nur mehr zwei Anreize anzubieten: niedrige Umwelt- und Arbeitsstandards.

Offensichtlich wird eine gewisse Hilflosigkeit und der gewaltige „Wettbewerbsnachteil“ der öffentlichen Verwaltung gegenüber den massiven Anliegen der Proponenten einer globalisierten Ökonomie. Ministerielle und beamtete Aufgabenverteilung zum Beispiel ermöglichen nicht die – angesichts der komplexen Folgen eines solchen Vertragswerkes – notwendige, interdisziplinäre Herangehensweise. Ein hochkomplexes Vertragswerk wird fast ausschließlich von Finanz- und Rechtsexperten verhandelt, für die das Abkommen rein technischer Natur ist. Gleichzeitig sind die eingebundenden Vertreter der Regierungen häufig mit weiteren Aufgaben betraut, sie verfügen fallweise nicht über die nötige Infrastruktur etc. Die Vertreter Multinationaler Unternehmen haben ungleich bessere Ausgangsbedingungen. Sie verfügen über effizientere Infrastrukturen und Aufgabenverteilungen, und darüber hinaus ist das ideologische Feld bereits hinreichend bearbeitet, die Öffentlichkeit (aus Trägheit oder aus Überzeugung) bereit, das neoliberale Glaubensbekenntnis weiterzutragen.

Kritiker des MAI malen bereits das Zerrbild eines Minimalstaates an die Wand, in dem die unternehmerischen Risiken und die sozialen und ökologischen Kosten auf die Gesellschaft abgewälzt werden und der Staat auf die bloße Funktion reduziert wird, ein günstiges Investitionsklima aufrechtzuerhalten.

Ein internationales Abkommen zur Regelung von Investitionen hätte – entgegen dem vorliegenden Entwurf – zum Beispiel die Möglichkeit,

  • Beschwerderechte von Menschen, Gemeinschaften, Staaten gegenüber Multinationalen Unternehmungen einzuführen,
  • umweltpolitisches, soziales Verhalten und Mindeststandards vorzuschreiben,
  • den ruinösen und unproduktiven Standortwettbewerb einzudämmen,
  • dem spekulativen Abbau von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen entgegenzuwirken,
  • die Haftung von Konzernen für von ihnen verursachte soziale und ökologische Kosten zu regeln.

Das MAI hat weitreichende Auswirkungen auf Bereiche wie Konsumentenschutz (genmanipulierte Nahrungsmittel; Besitz, Schutz und Gebrauch von Trinkwasservorräten etc.), Arbeitswelt, Umweltschutz und die Entwicklung demokratischer Rechte. Angesichts dieser wichtigen Fragen kann nur eine kritische Abschätzung der sozialen und ökologischen Folgen gefordert werden.

Das MAI wird derzeit noch verhandelt, und es gibt durchaus unterschiedliche Positionen der einzelnen Delegationen. Damit aber diese lebensnotwendigen Fragen Eingang in das bislang neoliberale MAI finden, bedarf es öffentlicher Diskussion und des öffentlichen Drucks. Es geht um nichts weniger als um die Frage, ob Investitionen oder Menschen geschützt werden sollen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1998
, Seite 28
Autor/inn/en:

Bernhard Mark-Ungericht:

Dr. Bernhard Mark-Ungericht ist Assistent am Institut für Internationales Management der Karl-Franzens-Universität Graz.

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