MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 58
Susi Harringer

Bücher

Gemeinsam sind wir unausstehlich

Die Wiedervereinigung und ihre Folgen Mit Beiträgen von W. Pohrt, R. Willemsen, W. Schneider, W. Kopp, Chr. Wiedemann, R. Kurz, S. Gandler, K. Bittermann; Edition Tiamat, Berlin 1990

Einige Monate vor der Wiedervereinigung geschrieben, beschäftigen sich die Beiträge mit den zu erwartenden Folgen: In ökonomischer Hinsicht fallen die Prognosen äußerst pessimistisch aus, auch für die in Deutschland lebenden Ausländer ist nichts Gutes zu erwarten. „Deutschland“ entpuppt sich als fixe Idee, die Einigung als endgültiges Kriegsende mit der dazugehörigen Tilgung aller Schuld. Als typisch für die Verleugnung aller eigenen Schuld und für die vorgetäuschte Betroffenheit wird der „über allem schwebende Betroffenheitslyriker Richard von Weizsäcker“ enttarnt. Bemerkenswert.

Eva Koch-Klenske (Hg.): Weibsgedanken

Studentinnen beschreiben feministische Theorie der achtziger Jahre; AJZ, Bielefeld 1989

„Was Sie schon immer über Theorie wissen wollten und nie zu fragen wagten ...“ Feministische Theorie ist zwar aus der Bewegung heraus entstanden, aber im Wissenschaftsbetrieb in die Gefahr geraten, den Frauen die Rezeption schwer zu machen und dadurch einen Teil ihrer Sinnhaftigkeit zu verlieren. In diesem Band berichten Studentinnen, was feministische Theorie für sie bedeutet; sie schildern ihre persönliche Rezeptionsgeschichte und diskutieren verschiedene Theoretikerinnen: Christina von Braun; die ‚Bielefelderinnen‘ Claudia von Werlhof, Veronika Bennholdt-Thompson und Maria Mies; Christel Neusüß; Gena Corea; und Texte zu feministischen Utopien. Ein wirklich interessanter Einstieg nicht nur in die Theorieansätze, sondern auch in die Frage, was diese Theorien mit uns ‚machen‘, was sie uns bedeuten.

Birgit Palzkill: Zwischen Turnschuh und Stöckelschuh

Die Entwicklung lesbischer Identität im Sport; AJZ, Bielefeld 1990

Sportlerinnen bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Erfolg in einer männlichen Domäne und dem Druck, der traditionellen Frauenrolle gerecht zu werden. „Wie in dieser Untersuchung dargelegt, kann die lesbische Existenz in gewissem Sinne als Auflösungsform der spezifischen Konflikte und Zerreißproben, denen Frauen allgemein und Sportlerinnen insbesondere ausgesetzt sind, begriffen werden.“ In 19 Interviews spricht Birgit Palzkill mit Sportlerinnen über ihre persönliche Entwicklung, ihre Sportkarrieren und die damit verbundenen Probleme. Es geht um „die Zumutungen der weiblichen (und der männlichen) Geschlechtsrollen“, „die Zerreißproben, denen Frauen ausgesetzt sind, die sich nicht auf eine verstümmelte ‚Weiblichkeit‘ reduzieren lassen und sich in einem als ‚männlich‘ definierten Territorium bewegen“. Nicht versäumen.

Ursula Pia Jauch: Damenphilosophie & Männermoral

Von Abbé de Gérard bis Marquis de Sade. Ein Versuch über die lächelnde Vernunft; Passagen Verlag, Wien 1990

Briefe zu schreiben, konveniert der adeligen Dame. Wenn diese nun einem bekannten Philosophen ihr Bedürfnis nach philosophischer Instruktion kundtut, dann erfüllt sie schon den ersten von elf Punkten, die die Damenphilosophie charakteristischerweise auszeichnen. Ein philosophischer Fach-Mann kann also Fragen der Dame beantworten, denn eigenständige Denkkapazität wird ihr von den Experten nicht zugestanden. Auf ironische Weise berichtet Jauch von der Geschlechterfront Philosophie und dem den Frauen zugedachten Vernunftdefizit.

u.s.

Sabine Perthold (Hgin.): Rote Küsse

Film Schau Buch; konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 1990

Vorgefundene Weiblichkeitsbilder werden umgedeutet in ein selbstbewußtes Konzept weiblicher Autonomie, Aggression und Sinnlichkeit. Diesen Gegenbildern war das erste österreichische feministische Filmfestival „Rote Küsse“ im Frühjahr 1990 gewidmet, das vorliegende Buch präsentiert die sorgfältig edierten, mit vielen Abbildungen illustrierten filmtheoretischen Beiträge des Symposions ebenso wie eine Bibliographie mit Filmbeschreibung.

u.s.

Erica Fischer/Petra Lux: Ohne uns ist kein Staat zu machen

DDR-Frauen nach der Wende; Kiepenhauer & Witsch, Köln 1990

Die Autorinnen, beide Journalistinnen, befragten Arbeiterinnen, Intellektuelle, SED-Funktionärinnen und Feministinnen, wie sie die umwälzenden Veränderungen in der DDR erlebten. Das Buch gibt auf Grund der ausführlichen geführten Interviews einen ausgezeichneten Einblick in die Alltagssituation ostdeutscher Frauen.

u.s.

A. G. Löwy: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht

Leben und Werk Nikolai Bucharins; Promedia, Wien 1990

Perestroika, Gorbatschow und die Veränderungen im politischen System machten möglich, daß heute in der UdSSR mehr und mehr über die Stalin-Ara diskutiert und dieses mehr als grauenhaft zu nennende Kapitel der sowjetischen Geschichte aufgearbeitet werden kann. Und so werden auch die von Stalin beseitigten und aus den Geschichtsbüchern verbannten Namen der ersten Jahre der Russischen Revolution neu entdeckt und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Bucharin ist einer davon, seine Tragödie und die Leiden seiner Familie sind ein Zeichen dafür, was der Stalinismus nicht nur mit seinen politischen Gegnern, sondern überhaupt mit Millionen von Menschen gemacht hat.

N. Bucharin war wesentlicher Exponent des volkswirtschaftlichen Denkens der russischen Bolschewiki im ersten Jahrzehnt nach der Revolution und versuchte, den politischen Hoffnungen der zwanziger Jahre mit der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) ökonomische Perspektiven zu geben.

Inzwischen ist Bucharin voll rehabilitiert, seine Tochter kann nun ungehindert arbeiten und publizieren.

A. G. Löwy geht sogar so weit zu meinen: „In den Ländern Osteuropas greift man immer mehr auf die von Bucharin entwickelten Ideen einer Vielfalt im Sozialismus zurück.“ Das wissenschaftliche Werk und die Person N. Bucharins in einem Buch, dessen erste Auflage 1969 erschien, heute wieder vorzustellen, ist sicher eines der großen Verdienste dieser Neuauflage. Ob aber trotz aller ‚positiven‘ Zeichen der Perestroika Optimismus angebracht ist, daß die Entwicklung eines pluralistischen Sozialismus im Sinne Bucharins oder anderer möglich ist, darf bezweifelt werden. Denn schließlich handelt es sich bei der aktuellen Entwicklung um die Folgen dessen, was vor 23 Jahren Herbert Marcuse folgendermaßen analysiert hat: „Die Koexistenz mit dem Spätkapitalismus treibt die sozialistischen Gesellschaften zu einer Konkurrenz auf Leben und Tod — zu einer Konkurrenz, in der die Entwicklung der Produktivkräfte und der Bedürfnisse weitgehend diplomatischpolitischen und militärischen Erfordernissen unterworfen ist.“ Zudem wurden die Vorteile einer ökonomischen Grundsatzplanung, die sich gemeinsam mit der Initiative der in der Wirtschaft lebenden und arbeitenden Menschen entfaltet, vom Stalinismus den eigenen Interessen geopfert.

Die wichtigste Chance, die immer noch darin besteht, daß die Befreiung dort gelingt, wo die Produktionsmittel vergesellschaftet sind, scheint vorerst wohl vergeben. Die aktuelle Entwicklung zeigt, daß auf Bucharins Ideen zu einer besseren Weltwirtschaft nicht zurückgegriffen wird. Bucharins wissenschaftliche Arbeit der NEP und sein politisches Vermächtnis der Notwendigkeit sozialistischer Vielfalt aber bleibt bestehen.

W.P.

Doris Kollmann u.a. (Hg.): Schwarz Bücher Braun

Medienhandbuch zum Thema (Neo)Faschismus; AJZ, Bielefeld 1990

Dieses Medienhandbuch nennt alle neueren Veröffentlichungen zum Thema Jugend und Neofaschismus, Rassismus, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und kommentiert die entsprechende antifaschistische Literatur (Kinder- und Jugendliteratur, u.a. auch Krimis), Bildungsmaterialien, Broschüren, Filme, Videos, Theaterstücke und die jeweiligen Bezugsquellen und Kontaktadressen. Zweifellos eine wertvolle Orientierungshilfe.

Georg K. Glaser: Jenseits der Grenzen

Betrachtungen eines Querkopfs; Stroemfeld/Roter Stern, Basel — Frankfurt/Main 1989

Georg K. Glasers Buch über seine Jugend, die Weimarer Republik, seine Auseinandersetzung mit der KP, Emigration und Zwangsarbeit als französischer Soldat in deutscher Kriegsgefangenschaft — „Geheimnis und Gewalt“ — ist von der Kritik als „die Biographie unseres Jahrhunderts“ bezeichnet worden. In diesem Band, sozusagen der Fortsetzung, schildert er, wie er sich nach dem Krieg in Paris als Feinschmied niederläßt, wen er dabei kennenlernt — von der Hausmeisterin bis zu bekannten Schriftstellern — und kommentiert die politischen Ereignisse bis 1968 von seiner kritischen, unabhängigen Position aus. Nicht nur inhaltlich, auch sprachlich faszinierend.

Ignazio Silone: Der Samen unter dem Schnee

Kiepenheuer & Witsch, Köln 1990

Nach Jahren des Exils und des Widerstandskampfes gegen den italienischen Faschismus kehrt Pietro Spina heimlich in sein heimatliches Abruzzendorf zurück. Dort erlebt er, wie die Menschen auf die Diktatur reagieren, wie angepaßt, heuchlerisch, gierig und unfreundlich sie geworden sind. Alle positiven Gefühle scheinen wie unter einer dicken Schneedecke begraben zu sein. Auch Pietro Spina selbst hat nicht mehr viel Energie für Gefühle übrig, aber er bemüht sich bis zum Ende um Freundschaft und Solidarität. Ignazio Silone, selbst von 1930 bis 1944 im Exil, weiß, wovon er schreibt. Deutlich wird auch, wieviel Sympathie er den Abruzzenbewohnern entgegenbringt.

Miquel Anqel Asturias: Sturm

Lamuv Verlag, Göttingen 1990

Für seine „Bananen-Trilogie“ erhielt der Guatemalteke Miguel Angel Asturias 1967 den Literaturnobelpreis; „Sturm“ ist der erste Band dieser Geschichte von der Ausbeutung und Entwürdigung der Menschen und der Natur Südamerikas. Er schildert den Versuch der ansässigen Bevölkerung, sich mit Hilfe eines Amerikaners gegen die allmächtige US-Fruit-Company zu wehren, eigene Plantagen anzulegen und die Ernte selbst zu verkaufen. Sehr beeindruckend finde ich die magischen Elemente aus der Indio-Mystik, die der Autor in seinen Roman einfließen läßt.

Robert Gernhardt: Glück — Glanz — Ruhm

Haffmans Taschenbuch, Zürich 1990

Detailfreudig, ironisch und ungeheuer belesen beschäftigt sich Robert Gernhardt mit der Frage, was sich ein Dichter beim Dichten und über Literatur im allgemeinen so denkt. Er widmet sich dem sehr verbreiteten Streben nach Ruhm und schildert jenes „heillose Gemisch aus geronnenen Herzblut und gebundenem Ladenpreis“. Mit der ihm eigenen Freude am Peinlichen und Allzu-Typischen pendelt er zwischen den hehren Werken der Kunst und den kleinen Beziehungsspielen.

Sean McGuffin: Der Hund

Eine Verschwörung; Edition Nautilus, Hamburg 1990

Neben recht authentisch wirkenden Details der IRA-Szene führt Sean McGuffin in seinen Roman über eine bemerkenswerte Serie von Attentaten ein mythologisches Moment ein. Die alten irischen Götter schauen beifällig zu, wie ihre modernen Vertreter — tapfere und aufrechte Männer und tapfere und schöne Frauen — gegen brutale und (auch sexuell) perverse Engländer und verwirrte Amerikaner kämpfen. Die Geschichte ist ausgesprochen spannend und emotionell ansprechend geschrieben, was Zweifel an politischer Sinnhaftigkeit von Terrorismus gar nicht erst aufkommen läßt.

Masako Togawa: Der Hauptschlüssel

Argument-Verlag, Hamburg 1990

Dieser durch und durch düstere Kriminalroman spielt in einem Wohnheim für ledige Frauen in Japan. Sie sind in den Jahren ihres Aufenthaltes gealtert und versuchen, durch verschiedene Bewältigungsstrategien mit ihrem traurigen Leben fertig zu werden. Als das Haus um mehrere Meter versetzt werden soll, erreichen alle Konflikte ihren Höhepunkt. Sehr spannend finde ich, wie Masako Togawa Alltäglichkeiten mit dem immer präsenten Grauen verknüpft, wie hinter jeder Erklärung noch eine weitere Ebene existiert.

Josephine Bell: Mord im Ruhestand

Argument-Verlag, Hamburg 1990

Leider sind das ausgesprochen gute Thema des Kriminalromans, die Einsamkeit und Ausbeutbarkeit älterer Frauen, und seine überraschenden Wendungen in einem unerquicklichen Wust von langatmigen Vorreden, nicht gerade subtilen Andeutungen und manchmal offen frauenfeindlichen Aussagen verschüttet. Ich finde es dankenswert, daß die Ariadne-Reihe nicht nur die Klassikerinnen des modernen Frauenkrimis bringt, sondern sich auch des öfteren mit älteren Frauen befaßt, aber „Mord im Ruhestand“ ist diesbezüglich kein Höhepunkt.

Robert van Gulik: Nächtlicher Spuk im Mönchskloster

Diogenes, Zürich 1990

Richter Di, der im China des siebten nachchristlichen Jahrhunderts Verbechen untersucht, klärt diesmal die merkwürdigen Vorfälle in einem taoistischen Kloster auf und kümmert sich geradezu väterlich um die Beziehungssorgen verschiedener junger Menschen. Er ist sicher eine der originellsten Detektivgestalten, und die Geschichten sind nie langweilig.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1990
, Seite 79
Autor/inn/en:

Susi Harringer:

Übersetzerin und freie Autorin in Wien.

Lizenz dieses Beitrags:
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