FORVM » Print-Ausgabe » Jahrgänge 1954 - 1967 » Jahrgang 1965 » No. 133
Heinrich Drimmel

Was Wien zur Weltstadt fehlt

Dr. Heinrich Drimmel, zweitens langjähriger Unterrichtsminister, erstens noch längerjähriger FORVM-Mitarbeiter, ist zur neuen Würde eines Vizebürgermeisters von Wien aufgerückt. In unsere gelassene Freude, daß aus FORVM-Mitarbeitern eben immer etwas wird, mischt sich insofern ein Element der Spannung, als wir glauben, daß Drimmels geistiges Profil nicht nur seiner eigenen Partei guttun wird, sondern auch deren Koalitionspartner. Gesunde Demokratie heißt gesunde Konkurrenz. Ob das nachfolgende Wien-Bild in seiner Maltechnik, Färbung, Perspektive stimmt oder nicht, ist daher längst nicht so wichtig wie die daraus resultierende Provokation für eine höchst löbliche Stadtverwaltung.

I.

Wiens kulturelles Antlitz, wie es sich heute darbietet, trägt die Züge jener drei Generationen, die von 1860 bis 1890; von 1890 bis 1920; und schließlich von 1920 bis in unsere Tage „ihre Zeit“ hatten — ihre große Zeit, die wiederum vergangen und mit der sie vergangen oder zum Vergehen bestimmt sind.

Jede dieser drei Generationen war gekennzeichnet durch ein bestimmtes System wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer, ideologischer und kultureller Gegebenheiten.

Die Jahre von 1860 bis 1920 waren die hohe Zeit des Liberalismus. Das gesellschaftliche Leben beruhte auf dem ernstgemeinten und ersprießlichen Bündnis von Besitz und Bildung. Beides war kein Monopol der herrschenden Schicht, wohl aber ein Vorzug, den zu erwerben als der Mühe wert galt.

Das goldene Zeitalter

Über dieser Gesellschaft der Großbürger, welche zu leben und leben zu lassen verstand, lag eine Aura von Noblesse, die nicht mehr jene des feudalen Ancien Régime, sondern untermischt mit Strauß’schem Operettencharme war. Man genoß — als liberale Honoratiorenpartei der Kommerzialräte, Professoren sowie angestammten Lokalgrößen — den immensen Vorteil des Kurienwahlrechtes. Mit dem Steuer-Ertrag als Maßstab war die politische Macht direkt proportional der wirtschaftlichen Macht.

Im Bild der Stadt ist uns aus jener Zeit das unauslöschliche Band der Ringstraße geblieben. Wo nicht für die Politik, so doch für Kunst und Wissenschaft war das franzisko-josephinische Zeitalter ein goldenes. Universität, Rathaus, Parlament markieren unübersehbar die Achse der Ära: „Erbaut unter dem Bürgermeister Andreas Zelinka“, „Erbaut unter dem Bürgermeister Cajetan Felder“ — solche Signaturen könnte erst eine Herostratentat auslöschen.

Bürgermeister Felder beherrscht ein Dutzend Sprachen; er unternimmt die wissenschaftliche Aufarbeitung der Schmetterlingssammlung der „Novara“-Expedition und publiziert darüber; er verwaltet als Kurator das ungeheure Erbe des Schwechater Bierkönigs Dreher; in seinen Memoiren erwähnt er als sein Lebenswerk: die Ringstraße, die Erste Wiener Hochquellenwasserleitung, die Donauregulierung.

Weniger im Vordergrund, vielleicht aber in größere Tiefe und Höhe wirkend: der Geologe Suess, Präsident der Akademie der Wissenschaften, Reichsrats- und Landtagsabgeordneter, jüdischer Intellektueller, welcher ausdrücklich und auf sich bezogen die Reaktion Bielohlaweks „Wann i a Büachl siach, hab i scho g’fressn“ provozierte.

Den Keim ihrer Todeskrankheit zog sich diese glänzende Ära unversehens zu. Indem ihre besten Vertreter im himmelstürmenden Idealismus nach den Sternen griffen, verloren sie den Boden unter den Füßen. Er wurde ihnen von den nationalen und sozialen Revolutionären bald vollends weggezogen.

II.

In Fünfhaus, Rudolfsheim, Favoriten gab es kein Goldenes Zeitalter. Dort, in den vielen neugebauten Häusern — in denen es immer Wohnungen zu mieten gab — wartete man vergeblich auf das Glück, das Frauenhände so reichlich auf Polster und Deckerl stickten. Von den fünf oder sechs Kindern, die in diesen Zimmer-Kuchel-Wohnungen auf die Welt kamen, starb ein Großteil an Armeleutkrankheiten. Wien wurde die Stadt mit der größten Säuglingssterblichkeit (und ist es bis heute geblieben). Die Schwindsucht, welche die jungen Mütter in Massen dahinraffte, erwarb sich als „Wiener Krankheit“ traurigen Ruhm.

So vollzog sich in diesen vorstädtischen Wohnungen, die keine waren, sondern Kapitalanlagen, die Bereitstellung jener Kräfte, die der Stadt binnen einer Generation ein ganz anderes Gesicht geben sollten.

Klassenlose Christlichsoziale

„Mit einem nass’n Fetz’n“ wollte der k.k. Hof- und Gerichtsadvokat Doktor Karl Lueger die Liberalen aus dem Rathaus vertreiben. Es gelang ihm auch: mittels des massiven Druckes jener Masse des Klein- und Mittelgewerbes, die schon sozial interessiert war, aber das Christentum noch nicht abgestreift hatte. Aus der „Drei-Männer-Partei“ des Volkstribunen Lueger wurde jene Partei, die trotz den bleibenden Denkmälern des Liberalismus in dieser Stadt an die Macht gelangte.

Die Christlichsozialen waren die erste territorial organisierte, klassenlose Großpartei: ein Bündnis der Kleinbürger mit den Arbeitern und Angestellten, eine solide Mischung, die ihrerseits ein Bündnis mit Thron und Altar schloß.

Nicht mit dem offiziellen Thron. Auf dem saß der alte Kaiser. Aber mit dem Thronfolger Franz Ferdinand, Hoffnung aller, die im alten Österreich noch Hoffnung hatten.

Und nicht mit den bischöflichen Ordinariaten. Aber mit den Kooperatoren, den soliden Stützpunktleitern in den Pfarren und Bezirken.

Und mit Rom. Leo XIII. hatte 1891 in „Rerum novarum“ ein soziales SOS-Programm erlassen, dessen Ausführung die damalige konservative Katholische Volkspartei nicht mehr bewältigen konnte.

Die Stunde der Christlichsozialen war da.

Die itio in partes aus dem Wurzelboden des sterbenden Liberalismus ist merkwürdig genug: die Christlichsozialen Lueger und Vogelsang, die Nationalen um Georg von Schönerer, die Sozialisten Adler und Pernerstorfer standen bis um die Mitte der Achtzigerjahre gemeinsam auf diesem Boden. Dann erst trennte sie die soziale Frage, die nationale Frage, die Judenfrage.

In der noch vorwiegend nach liberalen Anschauungen regierten Spätzeit des österreichischen Feudalismus und Kapitalismus war das christlichsoziale Wiener Rathaus eine Enklave. Damals begann für Wien die bis heute andauernde Existenz auf zwei politischen Ebenen: in der Blütezeit des Liberalismus hatte im Ministerratspräsidium und im Rathaus derselbe Geist geherrscht; fortan war man im Rathaus nacheinander christlichsozial und sozialdemokratisch, aber ohne die gleichgerichtete politische Partnerschaft in der Regierung des ganzen Landes.

Man begann die Dinge von verschiedenen Standpunkten zu sehen. Wie das ausging, erwies sich z.B. am Schicksal des Allgemeinen Krankenhauses. In der Ära des Liberalismus schien die letzte Stunde des josephinischen Bauwerks gekommen. Aber unter Lueger wurden Peripheriespitäler gebaut, und wegen dieser kommunalpolitischen Großtat unterblieb die Sanierung des Allgemeinen Krankenhauses.

Nicht nur im Ministerpräsidium und im Rathaus dachte man verschieden. Auch Rathaus und Universität waren nur örtlich benachbart. Die Universität wurde zur Domäne der Nationalen, das Rathaus blieb die der Christlichsozialen.

In diesem Zwielicht verlosch das Goldene Zeitalter.

Wie stand es um die kulturelle Strahlkraft Wiens gegen Ende dieser Ära, etwa 1914?

Glanzvolle Wissenschaft

Die Akademie der Wissenschaften blühte; mit der Gründung des Radium-Instituts bewies sie den ungebrochenen Spürsinn der Avantgarde. Die Universität, mit außerordentlichen materiellen Privilegien ausgestattet, konnte ihren Rang als weltbedeutende deutsche Hochschule neben Berlin noch halten: das Klinikwesen war traditionellermaßen hervorragend, die Nationalökonomie mit frischem Ruhm bedeckt, die Philosophische Fakultät brillierte in Geistes- wie Naturwissenschaften.

Daß im Vielvölkerstaat bis zu seinem Untergang kein Hochschulinstitut für Nationalitätenrecht oder vergleichende Nationalitätenforschung bestand, charakterisiert freilich, angesichts des bohrenden Eifers politisierender Intellektueller, sowohl die Esoterik der Wissenschaft wie auch die Behutsamkeit des Staates, der immer mehr dazu neigte, explosive Themen unter Verschluß zu halten, statt ihnen auf den Leib zu rücken.

Das Burgtheater erreichte eine neue Schwelle seines Ruhms als erste deutsche Sprechbühne. Einen gesamtösterreichischen Spielplan der Hoftheater konnte und wollte man jedoch nicht verwirklichen. Hier sollte der Nationalitätenstreit keinen Eingang finden. Erst 1918, als eigentlich alles schon vorbei war, brachte die Hofoper Janáčeks „Jenufa“ (mit der Jeritza in der Titelpartie), und dazu bedurfte es der Intervention des Kaisers Karl.

Die Operette ging siegreich ihren Weg von Strauß zu Lehár und Kálmán.

Die Wiener Literatur war durch Hofmannsthal, Schnitzler, Bahr, Kraus, Wildgans glänzend repräsentiert und bewies, soweit sie sozialkritisch auftrat, ihre gewaltige künstlerische Sprengkraft. Die schwarz-gelbe patriotische Résistance unter Richard von Kralik blieb demgegenüber ohne viel Wirkung.

Kommerz und Tradition

In der mächtig sich weitenden Stadt gewann die Bildende Kunst Raum wie kaum eine andere: Otto Wagners Architektur stand nicht im Schatten der herrschenden Macht, sondern genoß deren Förderung; die Moderne gab der Stadt ein weltläufiges Gepräge, wie sie es seit Barock und Empire nicht mehr besessen hatte.

Spät, aber nicht zu spät, zeigten sich im Bild der Stadt die Züge des Zentrums eines Wirtschaftsraumes von fast unwiederholbarer Geschlossenheit und Leistungsfähigkeit; die Paläste der Banken und der Industrien bildeten, zunächst seltsam fremd, den Kontrast zur traditionellen imperialen Würde.

Das polyglotte Österreichertum hatte in Wien allgemein gültigen und allgemein verständlichen Ausdruck gefunden. Wien wurde, wie Österreich, im Ersten Weltkrieg nicht als morsches Bauwerk vom nächstbesten Sturm gefällt, sondern durch mächtigen Blitzschlag verheert.

III.

Die neuen Herren Wiens kündigten ihre Zeit mit Paukenwirbel an. Friedrich Austerlitz, Chefredakteur der „ArbeiterZeitung“, schrieb: „Österreich ist auf dem Schindanger krepiert.“ Ein Abklatsch der berühmten Siegesmeldung Trotzkis nach dem Sturz des Zarismus — Marke und Markierung sind unübersehbar.

Mit dem Sieg der Sozialdemokratie kam die proletarische Massenpartei an die Macht. Hier in Wien wurde der Austromarxismus entwickelt, wohl die einzige theoretische und praktisch-politische Fundierung eines marxistischen Experimentes in Staat und Gesellschaft außerhalb der Sphäre des Leninismus.

1945 übersiedelte Österreich aus einem Gefängnis in ein Armenhaus, 1918 aus der Hausherren- in die Zimmer-Küche-Wohnung. Soweit war und ist der Umsturz verständlich. Aber den neuen Herren war das nicht genug. Damit jede, auch die kleinste Leistung sichtbar wurde, mußte die Vergangenheit als wahre Hölle diffamiert werden.

Noch dreißig Jahre später fiel einem hervorragenden Pädagogen der Linken zur Kennzeichnung des altösterreichischen Schulwesens nichts weiter als der Satz ein: „Diese Schule war bis 1918 das antisoziale Instrument der in der Monarchie regierenden Klasse.“ Damit wird nicht nur eine Großtat wie das Reichsvolksschulgesetz abgetan. Vielmehr verschließt sich mit solchen und ähnlichen Feststellungen eine ganze Klasse, samt ihrer Intelligenz, den Zugang zu einer Geschichtsepoche unseres Landes, die wie keine andere nicht nur glanz-, sondern auch ehrenvoll war.

Die sozialdemokratische Partei bemächtigte sich Wiens mit dem Elan einer siegreichen sozialen Umbruchsbewegung. Sie wollte völlig neu beginnen. Die Republik hatte 1919 in St. Germain die Rechtsnachfolge des alten Österreich mit guten Gründen abgelehnt. Hier in Wien aber verbat sich die Sozialdemokratie die Kulturnachfolge von 400 Jahren Reichs-, Haupt- und Residenzstadt.

In diesem Zusammenhang das Experiment der sozialdemokratischen Kommunalpolitik oder die Proportionen des Bürgermeisters Seitz und seiner Mitarbeiter Tandler, Breitner, Glöckel u.a. zu unterschätzen oder zu verkleinern, wäre mehr als ein Fehler — gerade angesichts dessen, was unserer Zeit aufgegeben ist. Was damals zur Diskussion gestellt und zu verwirklichen versucht wurde, ist nicht nur in historischer Betrachtung zu untersuchen: es steht, am Ende der drei seit 1860 verflossenen Generationen, vor uns als unser Gegenwartsproblem.

Das Wien von 1914 war eine der Weltmetropolen gewesen. Im Range von London, Paris, Berlin prägte es eine Epoche, als Großstadt von zwei Millionen Einwohnern, mit einer von Lueger geschaffenen erstklassigen Verwaltung, Hauptstadt eines Reiches, das bis zuletzt den Zuschnitt einer politischen, militärischen und wirtschaftlichen Großmacht hatte. Wien war geistig wie materiell imstande, diese Funktion zu erfüllen.

Entfremdete Hauptstadt

1918/19 war Wiens Funktion fragwürdig geworden. Der Weltstadt war der umliegende Raum entzogen. Das Rote Wien erhob sich mit Mühe über ein ganz anders strukturiertes Österreich. Die Sozialdemokratie bot für all die — von ihr nicht verschuldeten — Verluste einen einzigen Ersatz: ihr kommunalpolitisches Konzept.

Sozialpolitisch wollte sie den Umbau der Gesellschaftsordnung, mit dem populären Ziel der Enteignung mittels Verstaatlichung und Besteuerung.

Städtebaulich wollte sie den forçierten öffentlichen Wohnungsbau (welcher in der Zweiten Republik sehr bald staatskapitalistische Züge annahm).

Sozialmedizinisch wollte sie die Auflösung der Familie als Fürsorge- und Vorsorgegemeinschaft. Es war die Zeit, da die Parolen „Freie Liebe“ und „Fort mit dem § 144“ auf einem Gutteil der Spruchbänder des 1. Mai zu lesen waren.

Erzieherisch wollte die Sozialdemokratie die Förderung des militanten Atheismus, Kosmopolitismus, Internationalismus, mit keinem oder wenig Raum für österreichische Traditionen.

Hinter alledem stand ein unbändiger Glaube an die Zukunft. Heute das Rote Wien, morgen das Rote Österreich, übermorgen eine sozialistische Weltordnung.

Österreich wurde nicht rot. Die Welt geriet unter einen Himmel brennender Flammenröte — aber es war nicht die eines Sozialismus humanistischer Prägung.

Doch in Wien geriet eine ganze Generation in den Malstrom sozialistisch bestimmter Erziehung in Familie, Gesellschaft und Staat.

Die anderen waren zunächst wie betäubt. Ihre Väter waren die Herren im Rathaus gewesen; sie waren auf machtloses Zusehen reduziert.

Wien wurde fremd in Österreich. Es folgt die Zeit, daman in den Bundesländern vom „Marsch auf Wien“ redete. Es folgt die andere Zeit, da man sich von Wien immer mehr zurückzieht, in Zentren, die man überall im Lande sucht, nur eben nicht in Wien. Die wirkliche Reichs-, Haupt- und Residenzstadt wird zur Bundeshauptstadt auf dem Papier.

IV.

Einst verstand man den großstädtischen Charakter Wiens aufs beste zu betonen. Über der Innenstadt erhob sich der Stephansdom, auf den Hügeln südlich der Stadt das Belvedere und die Gloriette. Heute setzt man die Akzente anders: der Gasometer auf dem Wienerberg; die Müllverbrennungsanstalt auf dem Flötzersteig; das Turmrestaurant über der Donau.

Man ist versucht, dies mit technischen Notwendigkeiten zu begründen. Aber der Gasometer — welcher in Wien die fatale Rolle spielt, die in Warschau der leninistische Kulturpalast hat — wurde ausdrücklich als „neues Wahrzeichen der Stadt Wien“ gefeiert. Auf dem Schornstein der Müllverbrennungsanstalt ist Tag und Nacht im weiten Umkreis das Kreuzwappen der Stadt sichtbar. Und das Turmrestaurant erhebt sich, wie diskret betont wird, über den Stephansturm.

Hier geht es nicht darum, das Prestige der Vergangenheit gegen die Notwendigkeiten der Gegenwart zu verteidigen. Es geht auch nicht um Probleme der Ästhetik in der Moderne. Es geht einfach um die Frage: Wo bleibt die legitimierende Idee der Stadt, wenn diese das tut, was nicht einmal dem geschmacklosesten Aristokraten einfiel, d.h. dem Besucher die Lieferantenstiege und den Kehrichthaufen als Entrée zu bieten.

Eine seltsame Mischung von Historizismus und Novitätensucht ist derzeit in Wien am Werk. Den Novitäten Riesengasometer, Müllverbrennungsanstalt, Turmrestaurant steht die Tatsache gegenüber, daß auf den Stätten der Kriegszerstörung nicht etwa Neues entstand, sondern das Alte, wie gehabt. Lagen z.B. um 1850 die Wiener Bahnhöfe ganz richtig vor den damaligen Vorstädten, so wurden sie nach 1945 ganz zu Unrecht wieder am alten Platz gebaut, d.h. bis auf 1 km an den Ring herangerückt.

Im Paris Napoleons II. ließ Präfekt Haussmann 15.000 Häuser abreißen und mit bisher ungekannter Großzügigkeit 200 Boulevards errichten. In Wien besorgte das Abreißen zum Großteil der Krieg. Aber man machte nicht einmal den Versuch großzügiger Neuplanung.

Nach dem Tanz ums goldene Kalb

Wir hielten den Atem an, als zu Beginn der Fünfzigerjahre Roland Rainer ins Rathaus geholt wurde, um der Wiener Stadtplanung endlich zumindest einen personalen Auftrieb zu geben. Rainer war und ist Sozialist. Aber er ist nicht mehr Stadtplaner. Er hinterließ ein am 30. Juni 1961 vom Gemeinderat verabschiedetes Städtebauliches Grund-Konzept, dessen Ausfertigung in Buchform noch heute ein schönes Geschenk für Gäste der Stadt ist. Im übrigen gilt dieses Konzept so viel wie die Tafeln mit den Zehn Geboten nach dem Tanz um das Goldene Kalb.

Woher diese Konzeptlosigkeit? Gewiß ist die Ursache nicht allein die Abneigung gegen eine Person oder die Unfähigkeit einer Partei. Die Konzeptlosigkeit wird so lange dauern, als die Frage nach der Funktion Wiens andauert.

Eine Weltstadt entsteht nicht dadurch, daß der Magistrat sie sich einbildet; nicht dadurch, daß die Verfassung diese und keine andere Stadt als Hauptstadt bezeichnet; nicht dadurch, daß die Bewohner an ihr großstädtisches Prestige seit Jahrhunderten gewöhnt sind und davon nicht ablassen wollen. Eine Weltstadt kann degenerieren, wenn sie funktionslos wird. Eine Hauptstadt kann aufhören, Hauptstadt zu sein, wenn sie nur noch die Funktion einer Landeshauptstadt hat. Eine Hauptstadt kann versetzt werden; man sah in der Besatzungszeit Wien ungern als Hauptstadt und tut dies vielleicht heute noch; man denkt eben in Innsbruck daran, daß die Schweiz mit Bern, die Bundesrepublik mit Bonn das Auslangen finden.

Damit Wien Weltstadt sein kann, muß sich die weltstädtische Tradition, soweit sie noch vorhanden ist, bruchlos einfügen in eine neue weltstädtische Funktion. Aber kann die Großstadt eines Kleinstaates weltstädtische Funktionen fortführen oder neu erwerben?

Die Frage ist zu bejahen. Brüssel hat durch die Ansiedlung der EWG-Behörden auch nach Zerfall des belgischen Kolonialreiches den Rang einer Weltstadt. Rotterdam hat auch nach dem Ende der niederländischen Seemacht als „Hafen Europas“ z.B. den Seehafen New York überflügeln und damit wiederum weltstädtischen Rang erreichen können. In beiden Fällen hat das Wagnis des Neuen den Verlust einer traditionellen Stellung nicht nur wettgemacht, sondern überkompensiert. Aber hat Wien annähernd gleichwertige Möglichkeiten?

Neutralität ohne Zwielicht

Auch diese Frage ist zu bejahen. Wien ist Schnittpunkt schicksalsträchtiger Kulturkreise. Der Standort unserer Stadt ist keine geschichtliche Zufälligkeit, sondern Notwendigkeit, über welche nicht die Wiener und Österreicher allein befinden können. Wien, Hauptstadt des neutralen Österreich, ist der einzige Ort der Erdoberfläche, an dem sich Ost und West über die Preisgabe von materiellen wie ideellen Einflußsphären einig wurden, wahrscheinlich die einzige intakte Übergangstelle zwischen Ost und West, die nicht, in Ost oder West, im Zwielicht eines fragwürdigen Neutralismus gesehen wird.

Wien liegt auf der Schnittlinie der geteilten Welt. Jahrhunderte hindurch hat die neutrale Schweiz den Vorteil genossen, daß ihre Lage am Rande des deutschen, französischen, italienischen Raumes jeder Mächtekoalition eben diese Neutralität als rätlich erscheinen ließ. Nach Zerstörung des klassischen Konzerts der europäischen Großmächte gilt nun Ähnliches für das neutrale Österreich und seine Hauptstadt Wien. Nur beruht unsere einzigartige Stellung nicht auf dem Ergebnis des 30jährigen Krieges, wie dies für die Schweiz gilt, sondern auf dem höchstaktuellen Ergebnis des zweiten und wohl letzten Weltkrieges.

Dies ist die Funktion, die wir Österreicher und Wiener bewußt akzeptieren müssen. Hier ist unsere Chance und unser Risiko, und beides ist von Kultur nicht zu trennen. Kulturpolitik und Kulturverwaltung sind hiefür kein Ersatz, zumal dann nicht, wenn das herrschende politische Prinzip die Alternative „Freiheit oder Sicherheit?“ fast unfehlbar mit dem Ruf „Mehr Sicherheit!“ beantwortet.

Äußerste Kraft wird nur durch die Situation an einer Grenze herausgefordert. Grenzer suchen neue Horizonte einst im Wilden Westen, heute in Kasakstan und Polaris. Neue Grenzen suchen Wissenschafter, Techniker, Organisatoren auf Kap Kennedy. „Grenze“ ist zutiefst kein geographischer Begriff, sondern steht für eine Situation höchster Anspannung des Willens. Das ist die rein menschliche Voraussetzung einer Weltstadt, einer Kulturstadt.

Ich frage abschließend: Kann man in dieser Stadt Wien, wie sie heute ist, noch existieren?

Dies hängt von der Antwort auf eine weitere Frage ab: Was wird das Antlitz der vierten Generation sein, wenn die von mir skizzierte Kavalkade der drei vorangegangenen Generationen gänzlich zu Ende sein wird?

Die vierte Generation

Zunächst: Es wird keine Reprisen der liberalen oder christlichsozialen oder sozialdemokratischen Epoche dieser Stadt geben. Geschichte läßt sich weder unverändert erhalten noch wiederholen.

Die vierte Generation wird bereits jenseits des gegenwärtigen gesellschaftlichen Perfektionismus leben. Sie wird die Utopie einer endgültigen und unübertrefflichen Gesellschaftsordnung aufgegeben haben.

Der Verzicht ist bereits fällig — sei’s angesichts einer behaupteten, sei’s angesichts einer tatsächlichen „Vollendung“. Vor neuen Katastrophen bietet weder die höchstentwickelte Sicherheit noch die höchstentwickelte Freiheit ein für allemal Schutz. Die vierte Generation wird das kalkulierte Risiko wieder kennenlernen. Und sie wird ebendrum schöpferisch werden.

Die vierte Generation wird sich sowohl der Massenherrschaft zu entziehen wissen als auch der Herrschaft einer fragwürdigen Oligarchie, wie sie heute regiert. Jenseits der Konsumgesellschaft beginnt eine neue Bildungsgesellschaft, deren Träger ein neuer Mittelstand sein wird. Sein Interesse wird dem persönlichen Eigentum und einer gefestigten politischen Ordnung gelten.

In geistig-ideeller wie in materiell-organisatorischer Hinsicht wird der Pluralismus vorherrschen. Die bereits im Gang befindliche Umwandlung der Parteiendemokratie in eine Funktionärsdemokratie sowie die wachsende Zuordnung der Gruppeninteressen auf die Pole Arbeitgeber-Arbeitnehmer und Produzenten-Konsumenten wird dazu führen, daß die aus den Zeiten der ersten industriellen Revolution stammenden Modelle des Staates, der Gesellschaft, der Wirtschaft sich verändern werden.

Für die vierte Generation scheint ein neuer Humanismus erreichbar, als Zusammenfluß der Traditionen des christlichen wie auch des westlich-sozialistischen Humanismus. In dieser Ära wird der vergängliche Liberalismus endgültig untergehen; was aber am Liberalismus unvergänglich ist, nicht das Ökonomische also, sondern das Humanistische, wird seine letzte Überhöhung erfahren.

Revolutionen entstanden, als Löwen es müde wurden, von Eseln sich führen zu lassen. Schafe werden immer von Hammeln geführt. Das ist der Grund, warum es in unseren Tagen keine Revolution geben kann: nicht weil das Motiv fehlt, sondern die Substanz.

Alles wird, angesichts der gegenwärtigen Kultur- und Staatsmüdigkeit, davon abhängen, ob es uns gelingt, der vierten Generation den Sinn für das Risiko des Lebens, für das Motiv der Tragik und des Scheiterns, ergreifend nahezubringen. Rasch, ehe die Routine-Geistigkeit sich ihrer bemächtigt. Sonst wird es in dieser Stadt unausstehlich werden.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Januar
1965
, Seite 12
Autor/inn/en:

Heinrich Drimmel:

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