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Ulrike Gramann • Annerose Gündel

Zero Tolerance?

Sexuelle Gewalt gegen Frauen in den US-Streitkräften

Seit Ende 1996 erschütterten öffentlich gewordene Sexualdelikte die USA-Army. [1] Das Problem ist nicht neu, nur ignorierten die Verantwortlichen in Politik und Militär seit mehr als 20 Jahren die Warnsignale. Krasse Fälle von Vergewaltigungen von Rekrutinnen durch Ausbilder in einer Basis der US-Army, dem Ordnance Center des Aberdeen Proving Ground, Maryland, lösten eine Kette von Enthüllungen aus. Aufgrund der Beschwerde einer größeren Gruppe von Frauen begannen dort im September 1996 Ermittlungen.

Danach wurden Frauen mutig und durch andere Frauen ermutigt, öffentlich gegen sexuelle Belästigungen vorzugehen und Anzeige zu erstatten. Tausende von Beschwerden zwangen die Armeeführung im November 1996, die Politik der Zero Tolerance gegenüber sexueller Belästigung zu verkünden. Der damalige Verteidigungminister William J. Perry erklärte am 13. November 1996: „Unsere Haltung zur sexuellen Belästigung ist eindeutig. Wir glauben, daß sexuelle Belästigung, ethisch und moralisch gesehen, ein Unrecht ist. Wir halten sie auch für falsch unter den Gesichtspunkten von militärischer Disziplin und der ordnungsgemäßen Aufrechterhaltung der Befehlshierarchie.“

Im November 1996 wurde eine landesweite Telefon-Hotline der Armee eingerichtet, die außerhalb des Dienstweges innerhalb von drei Monaten über 7000 Anrufe registrierte. In über 10 % der Fälle wurde eine sofortige Untersuchung eingeleitet. Davor wurden jährlich nur bis 500 Beschwerden bekannt. Nach Schließung der Hotline scheitern Frauen jetzt wiederum an den strukturellen Barrieren. Ihre Beschwerden werden durch Vorgesetzte von vornherein abgelehnt, treffen auf Spott und Gleichgültigkeit. Deshalb prophezeien Kritiker einer Politik der Zero Tolerance Erfolglosigkeit.

Analog zu bekannten deutschen Ereignissen wurden die Vorfälle in Aberdeen Proving Ground als „Einzelfälle“ abgetan; einige Vorgesetzte wurden „geopfert“, die anderswo weitermachen durften. Konfrontiert mit den Ausmaßen sexueller Gewalt waren Armeeführung und Verteidigungsministerium nach einer gewissen Zeit durchaus offensiv, sowohl nach außen wie nach innen. Das Pentagon mußte zugeben, daß es entgegen der Rechtslage „vergessen“ hatte, Informationen über sexuelle Gewalt zu sammeln und zu analysieren.

Ein Gesetz, das dies vorschreibt, hatte den amerikanischen Kongreß bereits 1988 passiert, im Umfeld der ersten größeren Studie über sexuelle Gewalt in den Streitkräften.

Anfang Februar 1997 kündigte das Department of Veteran Affairs (VA) an, daß für ehemalige Soldatinnen jetzt ein eigenes Programm zur Verfügung stünde. Das VA informierte brieflich 400.000 ehemalige Soldatinnen über vorgesehene Hilfen bei Gewalt-Traumata. Dieses Programm geht auf ein Gesetz zurück, das der US-Kongreß 1992 (sic!) erlassen hatte und in dem das VA verpflichtet wurde, ein Hilfsprogramm zur Überwindung psychologischer Traumata infolge sexueller Gewalt während der aktiven Dienstzeit auszuarbeiten.

Aber je größer der Sumpf wurde und je mehr Details an die Öffentlichkeit drangen, umso bedeckter gaben sich die Verantwortlichen in der Armeeführung und der Exekutive. Es schien jetzt um Schadensbegrenzung zu gehen. Zu keinem Zeitpunkt überdies ging es um die Ergründung der strukturellen und soziokulturellen Ursachen.

Medienberichte sind inzwischen seltener geworden, abgesehen von der Berichterstattung über den brisanten Fall, in dem ein ehemals hochrangiger Militär, der ehemalige Sgt. Major of the Army Gene McKinney, beschuldigt ist. [2] Dieser sieht sich als Opfer rassistischer Voreingenommenheit und selektiver Strafverfolgung. Sollten sich alle 19 Punkte der Anklage, die von Ehebruch (ein Straftatbestand im amerikanischen Militärrecht) bis zu tätlichem Angriff reichen, bestätigen, droht ihm eine Höchststrafe von 56 Jahren Gefängnis. Der bisherige Verlauf des Militärgerichtsprozesses, der seit Januar andauert, und die Aussagen der Zeuginnen lassen eine Verurteilung von McKinney wahrscheinlich erscheinen.

Publicityträchtige, außergewöhnlich harte Verurteilungen farbiger Militärangehöriger ließen einen Verdacht des Rassismus laut werden. Das am meisten rassistisch und politisch belastete Verfahren der Aberdeen- Vorfälle war das von Staff Sergeant Delmar Simpson, der wegen brutaler Vergewaltigung von Rekrutinnen in mehreren Fällen zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Seine Verteidigung sah seine Verurteilung a1s präjudiziert an und als einen Akt der Zero Tolerance. Alle von den Rekrutinnen belasteten Angeklagten in den Aberdeen-Verfahren waren schwarze Militärangehörige, Opfer und Zeuginnen jedoch größtenteils weiße Frauen. Aus dieser Konstellation heraus vermutete die älteste und stärkste Bürgerrechtsbewegung der USA, die National Association for the Advancement of Colored, daß der Armeeführung die angeklagten schwarzen Ausbilder als Sündenböcke dienen, um ein energisches Vorgehen zu demonstrieren. Obzwar die Vorwürfe nicht bewiesen werden konnten, gilt auch hier: Wohl gab sich die Führung des Männerbundes Armee geschäftig, doch hatte sie kein Interesse, die eigentlichen Ursachen von Männergewalt – in diesem Fall zufällig schwarze Männer – aufzudecken. Es steht außer Frage, daß die Verurteilungen gerechtfertigt waren. Ebenso außer Frage steht aber, daß in anderen Fällen hochrangige weiße Militärs, die in vergangenen Jahren Untergebene sexuell belästigten, überwiegend nicht strafrechtlich belangt, sondern versetzt und pensioniert wurden. Sicher ist, daß die vielfältigen Hierarchien in der Armee („schwarz“ – „weiß“, Mann – Frau, Vorgesetzte – Untergebene) doppelte Standards in der Bewertung des Verhaltens von Militärangehörigen zeitigt – so auch bei Belästigung und Vergewaltigung. Bezeichnend dafür ist der Fall von Kelly Flinn (zeitgleich zur Verurteilung von Delmar Simpson), der ersten B-52-Bomberpilotin der Navy, des „Vergehens“ der sexuellen Beziehung zu einem verheirateten Zivilisten angeklagt, nach amerikanischem Militärrecht ebenso unerlaubt wie Beziehungen zwischen unterschiedlichen Rängen. Sowohl aus politischen Kreisen wie auch in der Öffentlichkeit ertönte nach der Entlassung Flinns Kritik an den hier besonders deutlichen doppelten Standards.

Bereits 1988 und 1996 lagen interne Studien des Verteidigungsministeriums zur sexuellen Gewalt gegen Frauen vor. Die erst im Juni 1996 veröffentlichte Umfrage unter 90.000 aktiven Militärangehörigen stellte erneut fest, daß die Mehrheit der Frauen in den Streitkräften sexuell belästigt wird. [3] Zu dieser Schlußfolgerung gelangten bereits die Verfasserinnen einer Studie, die 1993 anonym Patientinnen des Armeehospitals Maryland über deren Gewalterfahrungen befragten und resümierten, daß Frauen, die in das Militär eintreten, einem hohen Risiko sexueller Gewalt unterliegen. [4] Im September 1997 präsentierte das Verteidigungsministerium die Ergebnisse der erneuten Studie über Geschlechterbeziehungen, die im November 1996 mehr zur Beruhigung angeordnet worden war und für die amerikanische Militärangehörige weltweit befragt wurden. Die Veröffentlichung des „Sexual Harassment Report“ war seitens der Armeeführung bis zur Erarbeitung eines „Aktionsplanes“ zur Vorlage an den Kongreß verzögert worden.

Obwohl laut Studie 84 % der Frauen angaben, Erlebnisse ungewollter sexueller Annäherung und sexueller Gewalt zu haben, überrascht es die Verfasser der Studie, daß sich „nur“ 22 % der Frauen – bei nicht anonymer Nachfrage – als sexuell belästigt bezeichneten. [5] Kritiker machten frühzeitig auf eine Verfälschung der Ergebnisse aufmerksam, da die Kommission nachträglich Untersuchungsergebnisse vernichtete. 51 % der Frauen sagten im übrigen aus, aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert zu werden.

Auch jetzt noch oder wieder versuchte Army Secretary Togo West, Aberdeen Proving Ground als „Ausreißer“ darzustellen und nicht als Trend. Er erntete den heftigen Widerspruch von Dorothy Mackey, einer ehemaligen Air Force Captain, die heute die Survivors to Take Action Against Abuse by Military Personnel (STAMP) führt. STAMP macht auf die „Normalität“ brutaler, sexueller Gewalt gegen Frauen und deren Verharmlosung und Vertuschung in den US-Streitkräften aufmerksam, indem sie betont, daß sexuelle Gewalt Teil der militärischen Kultur und Tradition ist und daß die militärische Ausbildung systematisch junge Menschen desensibilisiere und zu Gewalt und zum Töten abrichte. [6]

Der sehr verschwommene Aktionsplan des Verteidigungsministeriums reicht von der Einführung eines Fachs „Ethik und sittliche Werte“ in der Grundausbildung, die deshalb um eine Woche verlängert würde, bis hin zur Einstellung von mehr Militärpfarrern. Die Kommission empfahl ferner die Ernennung eines 3-Sterne-Generals, dem die Überwachung der Ausbildung unterliegt. Immerhin gelangte das Verteidigungministerium zu der fundamentalen Erkenntnis, daß eine „Führungsschwäche“ vorliege und die passive Haltung der Militärführung es zu verantworten habe, daß sexuelle Gewalt gegen Frauen in den Streitkräften seit Jahren anhalte.

Das ganze Jahr 1996 hindurch gab es eindeutige Hinweise, daß in einer Art „Flucht nach vorn“ im Rahmen der Grundausbildung eine Geschlechtersegregation geplant wird. [7] Im Kongreß mehrten sich rechtskonservative Stimmen, die dazu rieten. Eine gemeinsame Ausbildung von Männern und Frauen führe zu Vergewaltigung, Belästigung und anderen Formen von Gewalt gegen Frauen. Auch in Armeekreisen wurden wiederum Stimmen laut, die eine Einbeziehung von Frauen in die Streitkräfte generell nicht befürworten. Ein vorgelegter Gesetzesentwurf über Geschlechtersegregation scheiterte am lautstarken einträchtigen Widerstand von Militärs und Frauenrechtlerinnen. Während die Militärs sogar die nationale Sicherheit gefährdet sahen, hoben Feministinnen [8" class="spip_glossaire mediabox boxIframe boxWidth-60% boxHeight-90%" target="_blank">National Organisation of Woman (NOW) hervor, daß dieser „gigantische Rückschritt“ für Frauen dazu diene, Männer-Privilegien zu bewahren. Sexuelle Belästigung sei eine neuerliche Strategie von Männern, Frauen von der Armee fernzuhalten. Deshalb überraschten die Mitte Dezember veröffentlichten Vorschläge einer Kommission nicht, die unter Leitung der früheren republikanischen Senatorin Nancy Kassebaum Baker der Frage nachging, wie eine „faire Behandlung“ der Rekrutinnen garantiert werden könne. Im wesentlichen schlug man vor, eine generelle Trennung der Ausbildung nach Geschlechtern in der Grundausbildung vorzunehmen und zum Schutz der Frauen vor allem eine getrennte Unterbringung zu garantieren und gleichzeitig die Anzahl der Ausbilderinnen zu erhöhen. Die Teilstreitkräfte haben vier Monate Zeit (bis April 1998), die Vorschläge der Kommission zu prüfen.

Die Vorkommnisse belegen, daß die halbherzige genderintegration in den US-Streitkräften gescheitert ist. Männer wollen beim Töten und Vergewaltigen unter sich sein. Frauen haben durchaus Gründe, eine Karriere in den Streitkäften anzu-streben, beispielsweise die Hoffnung auf sozialen Aufstieg. Feministinnen jedoch sollten es nicht als ihr hehres Ziel ansehen, Frauen in die extrem patriarchalische Institution des Militärs zu „integrieren“, sie sollten diese Institution vielmehr grundsätzlich in Frage stellen.

Abgedruckt aus Illoyal 3/98, Journal für Antimilitarismus.


Frauen in der US-amerikanischen Armee

Die Einbindung von Frauen als Kombattantinnen in die amerikanischen Streitkräfte erfolgte sukzessive seit 1973. Im Vergleich zu den 2 % von 1972 erhöhte sich der Anteil von Frauen bis 1997 auf 14 %. Das sind über 197.000, davon mehr als 30.000 im Offiziersrang. Den höchsten Anteil hat die Air Force, danach Army und Navy, einen geringeren Anteil hat das Marine Corps. Gegenwärtig stehen etwa 90 % aller Dienstlaufbahnen Frauen offen.

Ihre Rolle in den Streitkräften widerspiegelt die Rolle von Frauen in der zivilen Gesellschaft: Sie dienen zumeist in Verwaltungslaufbahnen (ein Drittel aller weiblichen Dienstangehörigen), im medizinischen (ein Drittel) und im Dienstleistungsbereich (ein Achtel). Schwarze und hispanische Frauen sind überrepräsentiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubte 1948 der Women’s Armed Servicees Integration Act Frauen den Zugang zum Militär. Dieses Gesetz setzte ein Limit von maximal 2 % Frauen, die bis zu einem gewissen militärischen Rang aufsteigen durften, und erlaubte ihre Entlassung ohne Gründe. Dieses Gesetz wurde erst 1967 unter Aufgabe der Karrierebeschränkungen für weibliche Offiziere novelliert. Obzwar an den Kampfhandlungen in Panama 1989 einzelne Frauen beteiligt waren, setzt die eigentliche Zäsur der Golfkrieg 1992, in den auf amerikanischer Seite etwa 400.000 Frauen einbezogen waren, die damit endgültig in die Rolle von Kombattantinnen schlüpften.

[1Quellen: ABC News, CNN, The New York Times, Reuters, USA Today, Washington Times.
Die USA weisen die weltweit höchste Vergewaltigungsrate in einer Kriminalstatistik auf, viermal höher als die deutsche. Der Anteil der schwarzen Bevölkerung beträgt 12 %, der Anteil der schwarzen Männer an wegen Vergewaltigung verurteilten Tätern beträgt über 40 %. Etwa gleich hoch ist der Anteil schwarzer Frauen auf der Opferseite. Statistisch gesehen muß jede dritte Amerikanerin mit einer Vergewaltigung rechnen. Vgl. Lawrence A. Greenfeld: Sex Offenses and Offenders: An Analysis of Data on Rape and Sexual Assault, U.S. Department of Justice, Office of Justice Programs, Bureau of Justice Statistics, February 1997.

[2Der Posten des Sergeant Major of the Army ist im Headquarter des Department of the Army angesiedelt und die höchste Position, die ein sogenannter „enlisted“, ein Mannschaftsdienstgrad, erreichen kann. Er ist in seiner Funktion ein persönlicher Berater des Stabschefs der Army in Personalangelegenheiten der Mannschaftsdienstgrade und teilweise für die Ausbildung der Rekruten und deren Lebensbedingungen zuständig.

[31988 beklagten 64 % der Frauen sexuelle Belästigung, 1996 55 %, bei nicht identischer Fragemethode.

[4Maureen Murdoch/Kristin L. Nichols: Woman Veterans’ Experiences With Domestic Violence and With Sexual Harassment While in the Army, 1993.

[5Logischer erscheint, daß 22 % Gewalterfahrungen haben.

[6Vgl. auch David Grossman: On Killing: The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society, Little Brown & Co (Pap), 1996. Grossman ist Militärpsychologe und Ausbilder.

[7Die einzige Teilstreitkraft, in der schon immer eine getrennte Grundausbildung von Frauen und Männern beibehalten wurde, ist das Marine Corps. Erst in der darauffolgenden Phase, der Kampfausbildung (Marine Combat Training) erfolgt eine gemeinsame Ausbildung.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
1998
, Seite 19
Autor/inn/en:

Annerose Gündel:

Ulrike Gramann:

Geboren 1961, Journalistin und Schriftstellerin. Hört gern Geschichten, schreibt gern Geschichten. Recherchiert und berichtet mit Sinn für geschichtliche und lebensgeschichtliche Gründe und Hintergründe. Reportage, Bericht, Meinung mit feministischem Blick. Gemeinschaftsprojekte mit Künstlerinnen.

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