Context XXI » Print » Jahrgang 2004 » Heft 4-5/2004
Jolita Venckute

Wer bin ich?

Der EU-Beitritt weckt in Litauen die Diskussionen über die eigene Identität

„Heute endet einer der teuersten Zeiträume in unserer Geschichte — leidvolle, mühevolle, sogar blutige Zeit der Unabhängigkeitskämpfe; eine neue Zeit beginnt — eine qualitativ andere, aber genauso wichtige Zeit,“ titelte die auflagenstärkste Tageszeitung Litauens Lietuvos rytas in ihrer Ausgabe vom 1. Mai 2004 euphorisch.

Auf den Straßen tanzte in der Zeit schon die junge Generation: Die 20-Jährigen und Jüngere, die, Russisch angesprochen, nur mehr große Augen machen und mit einem „Sorry, I don’t speak Russian“, antworten. Die Älteren, die die letzten Jahre des unabhängigen Litauens bewusst erlebt hatten, können nur bedingt reflektieren und einschätzen, welche Veränderungen diese Zeit gebracht hat.

Die Bücher über die Übergangszeit hin zur westeuropäischen politischen und Wirtschaftsunion, aber auch Wertegemeinschaft werden noch geschrieben. In die Zeitungsspalten passt nur die erbarmungslos verknappt dargestellte Geschichte, die aber in diesen Tagen gerne wiederholt wird.

Seit 1990 hat es Litauen geschafft, aus dem grauen postsowjetischen Raum mit der Kommandowirtschaft ein Land des freien Marktes zu werden. Noch wichtiger: Litauen wurde ein Rechtsstaat mit dem soeben den strengen EU-Kriterien angepassten System der Gesetze und wirtschaftlichen Freiheiten.

Litauen scheint sein Ziel erreicht zu haben. Was kommt jetzt? Die EU-Osterweiterung scheint in Litauen einen Paradigmenwechsel ausgelöst zu haben.

Was kommt als nächstes?

„Litauen kann nicht frei sein — und konnte es nie: Auch jetzt laufen wir sogar freiwillig in die Arme des nächsten Großen Bruders, als ob wir in 50 Jahren nichts gelernt hätten“, verkündete am Tag der EU-Osterweiterung die Tageszeitung Respublika, die ansonsten antisemitischen Tiraden und Verschwörungstheorien nicht abgeneigt scheint.

So argumentieren noch immer die EU-SkeptikerInnen im Lande. In der Tat gab es in der Geschichte Litauens nur kurze Perioden, in denen das Land unabhängig war: 1918 - 1940 versuchte Litauen allein dem Druck der aufsteigenden deutschen Großmacht zu widerstehen und verlor schließlich gegen die andere Großmacht UdSSR, die dann 50 Jahre die Weltgeschichte geprägt hatte.

Wenn man aber die LitauerInnen über die Geschichte des Landes befragt, beginnen sie meistens von der glorreichsten Zeit zu erzählen, die aber schon so lange zurück liegt, dass keine/r aus der eigenen Erinnerung berichten kann. Aber es ist wie mit einem Phantomschmerz: Auch wenn das Bein weg ist, kann es noch immer weh tun.

Die litauischen Großfürsten, die im 14. Jahrhundert im Schatten der politischen Blüte ihrer Nachbarn auch Litauen erstärkten und durch Verträge, Heiraten und Feldzüge erfolgreich das litauische Großreich von Baltikum bis zum Schwarzen Meer geschaffen hatten, führten wohl eine damals übliche Dynastienpolitik.

Die Porträts von Gediminas, Kęstutis, Algirdas und anderen Großfürsten schmückten in der sowjetischen Ära die Wohnungen mancher DissidentInnen. Jetzt aber, als die Sicht auf die eigene Geschichte etwas klarer, aber auch nüchterner wurde, wird auch ihre Politik in Bezug auf die „typisch litauischen“ Werte hinterfragt: Diente sie der Erhaltung der Kultur? Der litauischen Sprache? Des Katholischen? Wohl kaum.

Die Kultur musste der Vorbereitung der Feldzüge weichen. Die litauische Sprache hatte damals nicht den Status der Staatssprache und besaß auch keine schriftlichen Quellen. Großfürst Gediminas lehnte die Taufe ab und duldete in seinem Reich sowohl die christliche als auch die orthodoxe Religion.

Und doch hatte das Großreich den Anspruch, ein mulitnationaler und multireligiöser Musterstaat zu sein. Ethnischer und religiöser Frieden mit relativem Wohlstand gepaart. Pax Lithuanica war wohl wie die Pax Romania ein schützendes Dach für seine Bevölkerung.

Gediminas holte deutsche Kaufleute, Handwerker, Bauern und auch Geistliche ins Land, an seinem Hof wirkten Dominikaner und Franziskaner. Die Großfürsten brauchten Juden und Karäer (eine aus dem Judentum hervorgegangene Gruppe, die die Überlieferung der mündlichen Thora pflegt, eine der kleinsten ethnischen Gruppen im erweiterten Europa) zur Verteidigung des Hofes. Es siedelten sich RussInnen, WeißrussInnen, UkrainerInnen, PolInnen, und TatarInnen an.

Es folgten fast vier Jahrhunderte des litauisch-polnischen Doppelreichs, das Ende des 18. Jahrhunderts zu bröckeln begann.

1772 musste Polen umfangreiche Gebiete an Österreich, Preußen und Russland abtreten. 1791 verabschiedete der polnische Reichstag eine neue Staatsverfassung, die jegliche Eigenstaatlichkeit Litauens ignorierte. Der litauische Adel bat Russland um Hilfe, woraufhin Russland und Preußen eine zweite Teilung Polens beschlossen.

Nach dem Aufstand unter Tadeusz Kosciuszko löschten 1795 die drei Nachbarstaaten Russland, Preußen und Österreich das polnische Doppelreich schließlich ganz von der Landkarte. Fast ganz Litauen fiel an Russland, ein kleiner Landstrich an Preußen.

Der aufkommenden Nationalismus entdeckte Ende des 19. Jahrhunderts die litauische Sprache der Bauern und ihre Volkskunst, gründete Schulen und förderte die litauische literarische Sprache. Bald hörte man die Forderung nach Freiheit und Gleichheit der LitauerInnen.

Nach den Wirren des 1. Weltkrieges und knapp vor den Wirren der Oktoberrevolution schien Russland mehr Sorgen zu haben als das Baltikum (und den Zugang zur Ostsee!) zu schützen und löste die gesamte Verwaltung auf. Als die deutsche Reichsregierung im November 1916 die Wiederherstellung Polens verfügte, verstärkten sich die litauischen Autonomiebewegungen.

Am 16. Februar 1918 proklamierte der zuvor gewählte Landesrat „die Wiederherstellung eines unabhängigen litauischen Staates mit der Hauptstadt Wilna.“ Dieser Tag wird auch im heutigen Litauen als Tag der Unabhängigkeit gefeiert.

Immer zwischen Ost und West

Die abwechslungsreiche litauisch-polnische Geschichte, die in den 20-er Jahren sogar zu einem Krieg geführt hatte, hinterließ Spuren: Auch jetzt wehrt sich manche/r LitauerIn, wenn manche polnische PolitikerInnen ihre „Anwaltschaft auf dem Weg in die EU“ anbieten.

Vom anderen Nachbarn — Russland — scheint Litauen noch immer zu flüchten. Das Streben der Mitgliedschaft in NATO und auch EU ist vom Wunsch geprägt, sich vor möglichen Forderungen des ehemaligen „Großen Bruders“ zu schützen.

Manche ältere LitauerInnen erinnern sich noch an das Jahr 1939. Damals zwang Die UdSSR Litauen zu einem Beistandspakt, durch den Litauen zwar das Wilnagebiet samt der Hauptstadt Wilna (Vilnius) von Polen zurückerhielt, dafür den Sowjets aber die gewünschten Stützpunkte überlassen musste.

Angebliche Zwischenfälle zwischen der litauischen Bevölkerung und der Roten Armee lieferten der Sowjetunion im Juni 1940 den Anlass, eine Umbildung der litauischen Regierung zu verlangen. 99,2 % der LitauerInnen wählten Mitte Juli 1940 unter dem Druck der sowjetischen Besatzung „die Liste des werktätigen Volkes“ — daraufhin beschloss der neue Landtag die Aufnahme in die Sowjetunion.

„Wilna ist unser, wir gehören aber den Russen,“ — hieß es ironisch in einem damals verfassten Volkslied.

Zum Singen blieb aber keine Zeit. Im Juni 1941 überschritt die deutsche Wehrmacht die Grenze zu Sowjetunion.

Antisemitismus und die gesellschaftliche Reife

Diese Zeit ist in der neuesten litauische Geschichte wohl das dunkelste Kapitel. Mitglieder der paramilitärischen, faschistischen und antisemitischen „Litauischen Aktivistenfront,“ die sich größtenteils aus ExillitauerInnen zusammensetzte, wurden im Rücken der sowjetischen Truppen abgesetzt, um den Rückzug der Roten Armee zu behindern.

Am 23. Juni 1941 gab Radio Kaunas noch vor dem Einmarsch deutscher Truppen die Bildung der vorläufigen litauischen Regierung bekannt und forderte die LitauerInnen zur Verfolgung und Ermordung der im Lande lebenden Juden und Jüdinnen auf.

Allein in den Pogromen vom 25. bis 27. Juni 1941 wurden von „litauischen Freiwilligen“ etwa 4000 Juden und Jüdinnen auf bestialische Art umgebracht und viele Synagogen angezündet. Bis zum Dezember 1941 wurden mehr als 50 000 Juden und Jüdinnen allein in Vilnius ermordet.

Die meisten Juden und Jüdinnen Litauens haben in ihrem Land, in dem seit 600 Jahren ihre VorfahrInnen gelebt hatten, ihr Leben verloren. In Scharen in die Scheunen getrieben, am Waldrand zusammengepfercht, in die Waldgruben gestoßen. Männer, Frauen, Kinder. Die Jahrhunderte alte jüdische Kultur in Litauen wurde innerhalb kürzester Zeit ausgelöscht. Nur wenigen Juden und Jüdinnen gelang die Flucht nach Russland oder gar in das von Hitler-Deutschland nicht besetzte westliche Ausland.

An den Stellen der Orte des Judenmordes aufgestellte Denkmäler zeugten in der Sowjetzeit von „sowjetischen Bürger, die im Kampf gegen die faschistischen Besatzer gefallen sind.“ Nach der Erlangung der Unabhängigkeit wurden die Denkmäler eines nach dem anderen ausgetauscht und erinnerten jetzt ausdrücklich an die ermordeten Juden und Jüdinnen.

Die TäterInnen blieben und bleiben zum Grossteil nachwievor „unbekannt“. Und wenn der Verdacht ausgesprochen wird, so ist der Wunsch, „die Sündigen,“ die inzwischen ein hohes Alter erreicht hatten, einfach in Ruhe zu lassen, größer als Mühe und Möglichkeiten der Justiz.

„Sie haben uns verbannt, wir haben sie erschossen“, grollt an manchen Stammtischen zynisch die Theorie der beiden Genozide in ihrer einfachsten Form und artet manchmal in eine primitive Zählerei — wie viele Juden waren damals in den Komitees, die die Verbannung der reicheren oder widerständischen LitauerInnen nach Sibirien verantworten mussten? Der Historiker Liudas Truska hat eine Antwort: 18 Prozent.

Viele Juden und Jüdinnen wurden im Jahre 1940 nach Sibirien verbannt, wie viele LitauerInnen auch. Der Grund war: Sie waren bürgerlich. Die Aufrechnung funktioniert deshalb nicht, weil die Möglichkeit für einen Juden/eine Jüdin, Sibirien zu überleben höher war, als 1941 den Judenmördern zu entkommen. Ein Zynismus der nicht aufgearbeiteten Geschichte.

Aber die antisemitischen Legenden sind auch ohne Juden und Jüdinnen lebendig. Manch eine/r versucht sogar, mit ihrer Hilfe auf SympathisantInnenfang zu gehen — so wie der Chefredakteur der Respublika, Vitas Tomkus, der in einer Artikelserie vor kurzem versuchte, seiner LeserInnenschaft zu erklären, wer die Welt regiert: „Die Juden und die Schwulen“.

Der Aufschrei im Lande kam etwas verspätet, aber er war dennoch laut. Die lokale Intelligenz und Menschenrechtsorganisationen protestierten, die Ermahnungen der PolitikerInnen folgten, bis sich schließlich die Staatanwaltschaft des Täters annahm. Das ist neu im Litauen des 21. Jahrhunderts.

Ist das ein Zeichen der Harmonisierung der EU-Gesetze, wenn man einen Antisemiten für seine Ausfälle anklagen und bestrafen kann? Ist das Übernahme der europäischen Werte — Demokratie, Zivilgesellschaft, Toleranz? Wie dem auch sei: Diesmal haben die demokratischen Gesetze ihre Anwendung gefunden.

Józef und Rudolf mit Freunden auf dem Ladentisch sitzend
Bruno Schulz, 1936

Die Sehnsucht nach dem goldenen Käfig

Der Osten wird in Litauen vor allem mit Russland assoziiert. Seit Juli 1944, als die sowjetische Sommeroffensive Litauen erreicht und in Vilnius einmarschierte, war die Geschichte Litauens aufs Engste mit der Sowjetunion verbunden. Durch Deportationen, Kriegseinwirkungen und Auswanderung (vor allem über Deutschland in die USA) verlor Litauen 1945 fast ein Drittel seiner Bevölkerung, vor allem seine Elite. Dafür kamen zunehmend RussInnen ins Land, die dem Agrarland Litauen mit moderner Industrie zu einem Wirtschaftsumschwung verhalfen. Ganze Branchen wurden neu geschaffen oder ausgebaut.

1940 lebten nur 23% der Bevölkerung Litauens in großen Städten, in den nächsten 50 Jahren stieg der Anteil der StadtbewohnerInnen auf etwa 68%. Die Bauernhöfe wurden nach sowjetrussischen Muster zu Kolchosen zusammengefasst.

Fast alle Orte des Landes erhielten Schulen, Kindergärten und Büchereien, Sport, Gesang, Musik, Theater, Volkstanz und ganz besonders die Volkskunst wurden gefördert. Der Staat gewährleistete kostenlose medizinische Behandlung.

Entmündigt? Ohne Recht auf freies Wort und Eigentum? Verfolgung durch den KGB? Kein Recht frei zu reisen? Fehlte es an einfachsten Gebrauchswaren, geschweige denn an Autos und Elektronik? Viele scheinen die lange Liste der damaligen Hindernisse des Alltags verdrängt zu haben.

Die Umfrageergebnisse knapp vor dem EU-Beitritt Litauens verblüfften viele AnalytikerInnen: 53,50% aller Befragten meinen, „beim Russen“ war es besser. Bequemer. Behüteter. Man bekam etwas Futter im goldenen Käfig — wenn man mehr wollte, musste man schöner singen.

Die Berliner Mauer scheint auch in vielen litauischen Köpfen noch intakt zu sein. Die Sehnsucht nach dem großen Beschützer in Moskau scheint nicht so schnell verschwinden zu wollen. Da wären wir wieder beim Phantomschmerz: Den Staat gibt es nicht mehr, aber die Stelle, an der es ihn geben sollte, tut noch immer weh. Nach 14 Jahren der Unabhängigkeit scheinen der Hälfte der Bevölkerung die Freiheitsideale nichts zu bedeuten. Die WegbereiterInnen der Freiheit müssten auswandern, nachdem sie die Umfrageergebnisse erfahren haben.

Aber haben nicht knapp 90% aller LitauerInnen im Referendum für den EU-Beitritt des Landes gestimmt? Haben vor ein paar Tagen nicht mehr als 70% der Bevölkerung in einer Umfrage verkündet, noch immer EU-BefürworterInnen zu sein — mehr als LettInnen und EstInnen? Sind wir doch überzeugte EuropäerInnen? Es gibt einige Erklärungen für diese Haltung. Die meisten sind klischeehaft, ironisch oder sogar zynisch.

Die Gesetzestreue als Kriterium

„Litauer können ohne Imperium nicht leben. Ohne eigenes Imperium werden wir sterben. Einander die Kehlen durchbeißen — so viel Energie haben wir in unseren Genen. Wir passen hier drinnen nicht hinein. Nicht im territorialen Sinne. Im ideologischen. Wir brauchen eine Steppe vor Augen — heute ist das eine geopolitische Steppe“, meinte vor ein paar Tagen ketzerisch einer der provokantesten litauischen Politologen, Gintaras Beresnevičius.

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen werden auf dieser etwas grob ausgedrückten Vision inzwischen vorsichtig und auch großmündig die Strategien der litauischen Außenpolitik formuliert: Vermittler zwischen Ost und West, Berater der Ukraine und Partner für Südkaukasus.

Noch scheint aber Litauen eher von der starken Ost- und Westkonfrontation beeinflusst zu sein. Von Zusammenhalt keine Spur. Ganz im Gegenteil: Ein Teil der Bevölkerung lebt die Werte der westlichen Demokratie bereits wie ihre eigenen, der andere blickt in Richtung Russland und sehnt sich nach einer Politik der starken Hand.

Das Buch des litauischen Schriftstellers Vytautas Petkevičius „Durnių laivas“(Lt. „Das Narrenschiff“), in dem der Autor behauptet, Litauen hätte einen Fehler gemacht, indem es sich für den Westen entschieden hatte, gehört zu den meistgelesenen im Lande.

Der Unterschied zwischen der „westlichen“ und der „östlichen“ Denkweise scheint vor allem in der unterschiedlichen Betrachtung der Gesetze zu liegen — entweder respektierst du die bestehenden Gesetze, oder du lebst nach dem Brauchtumsrecht der sowjetischen Zeit.

„Ohne Zweifel haben die meisten Litauer während des Referendums vor einem Jahr nur für die Milliarden der künftigen Unterstützung aus den EU-Fonds gestimmt,“ stellt bitter der Analytiker von Lietuvos rytas am Vortag der EU-Osterweiterung fest.

In der Zeit, als Frankreich und Deutschland versuchten, die Grundlage für den Europäischen Wirtschaftraum zu schaffen, hatten die litauischen Guerillas gegen die Divisionen der sowjetischen Geheimdienste gekämpft.

Als die Europäische Gemeinschaft gegründet wurde, mussten viele LitauerInnen noch mühevoll in der sibirischen Kälte arbeiten. Kann man sich nach dieser Geschichte darüber aufregen, dass Litauen müde wurde, schlecht zu leben?

Die einfachste und wohl am wenigsten zynische Erklärung für eine proeuropäische Haltung ist die, dass es für Litauen keine andere Alternative gab. So auch zu dem Weg, den die EuropäerInnen jetzt gehen.

Brot und Spiele

Zwei Wochen nach der historischen EU-Osterweiterung drängte auf einmal ein ganz anderes Diskussionsthema in litauische Wohnzimmer: Die Preise steigen. Obwohl sowohl die PolitikerInnen, als auch ExpertInnen vor dem EU-Beitritt Litauens beteuert hatten, die Preise werden nicht steigen, wird Treibstoff, Mehl, Brot teurer.

Der Preisanstieg stimmte mit der EU-Osterweiterung überein, so dass die KäuferInnen ihre Schlüsse gezogen haben: Daran sei nur die EU schuld.

Sie haben vergessen, dass Litauen ein Teil der Weltwirtschaft ist. Die Preisschilder werden vom Getreide- und Erdölpreisen auf den Weltmärkten beeinflusst. Und auch wenn man nicht ausschließen kann, dass die HändlerInnen und ProduzentInnen den EU-Beitritt Litauens dazu genutzt hatten, um die vielleicht steigenden Lohnnebenkosten abzufedern, kann die EU für die Preissteigerung nicht direkt schuld sein.

Ängste gibt es in Litauen genug — wie in Lettland und Estland, Polen und Ungarn. Wird unser Leben nun teurer? Werde ich demnächst nicht mehr medizinisch behandelt, weil mein Arzt nach Großbritanien ausgewandert ist — da er dort mehr Gehalt verdient? Und sogar: Darf ich meine geliebte Leibspeise nicht mehr genießen, weil die EU verboten hatte, Innereien auf den Tisch zu bringen?

Und auch PopulistInnen gibt es genug. Die gezielte Warnung des ungarischen Ex-Premiers und Oppositionschef Viktor Orban über die „schnellen Fische, die in der EU die langsamen auffressen“, gilt für alle osteuropäischen Länder. Die Aufgabe der PolitikerInnen ist, nicht zuzulassen, dass zu viele Menschen den Anschluss an die EU verpassen.

Aber gilt diese Warnung nur für Osteuropa? Beim Lesen mancher westlichen Regionalzeitungen drängt sich der Gedanke auf, dass die Ängste der alteingesessenen EU-BürgerInnen nicht kleiner und ähnlich sind. Es geht um den eigenen Wohlstand, den man ja verlieren könnte, um den Arbeitsplatz, der nicht mehr sicher ist (war er je sicher?) und um „Horden“ von OsteuropäerInnen, die jetzt Geschäfte, an dunkleren Stellen geparkte Autos und sogar Wohnungen plündern werden.

Angst vor „Barbaren“

„Das Römische Reich lockte die Barbaren, deswegen hatten sie ehrlich all die Titeln und Symbolen der römischen Kaiser beschützt und respektiert. Rom war für sie das gelobte Land — besser gesagt, die Stadt, die alle ihre Wünsche erfüllen konnte. Deswegen haben die Barbaren nicht nur die römische Kultur zerstört, sondern auch selbst einen Teil davon angenommen. Daraus entstand die westliche Zivilisation, auf deren Fundament die Nachkommen der alten Barbaren ein neues Imperium aufgebaut hatten: Die Europäische Union. Nun stehen die neuen Barbaren hinter der Mauer, genauso wie vor 1600 Jahren. Das sind wir, Mittel- und Osteuropäer,“ sagt der andere politische Provokateur Litauens, Virginijus Savukynas.

Er spricht aus, was einige in Westeuropa wohl noch immer denken und sich nicht trauen auszusprechen: OsteuropäerInnen sind für das „alte Europa“ gewissermaßen „BarbarInnen“: Wohl weniger zivilisiert, außerdem verstünden sie die westliche Demokratie nur so viel, wie es ihnen nützlich ist. Die „Neuen“ kommen mit eigenen Regeln und werden versuchen, diese durchzusetzen — manche kraftvoller, manche diplomatischer.

Litauen hielt sich bis jetzt in vielen Positionen ziemlich bedeckt, ja sogar schüchtern. Aber vielleicht will mein Land nur noch besser den Mechanismus der neu erschaffenen Union verstehen und hütet sich davor, ins Fettnäpfchen zu treten.

Dies ist auch manchen anderen kleineren Ländern eigen, die es nicht gewohnt waren, sich in die Wünsche und Launen des Großen Bruders hineinzuhören, bevor sie ihre eigenen Wünsche ausgesprochen hatten. Also: Welche Prioritäten wird die EU in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik setzen? Wie wird ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik funktionieren? Die Antworten auf diese Fragen wird auch von der Stimme aus Vilnius abhängig sein.

In der EU werden alle Meinungen gehört. Das ist wohl neu. So war es in keinem anderen Imperium. Jetzt muss Litauen nur von seinem Ethnozentrismus abrücken und lernen, ebenfalls den anderen Meinungen zuzuhören und zu verstehen. Womit wir wieder bei der Diskussion wären, welchen Platz das heutige Litauen im heutigen Europa einnehmen wird.

Der 1. Mai wurde in vielen Ländern Osteuropas als Rückkehr ins alte Europa und Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit gefeiert.

Aber vielleicht ist es damit nicht mehr erreicht, als dass Europa — sowohl Ost- als auch West- — seine Vergangenheit ein Stück weiter hinter sich gebracht hat. Die Zukunft hat gerade erst begonnen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
2004
, Seite 9
Autor/inn/en:

Jolita Venckute:

Jolita Venckute ist Korrespondentin der litauischen Tageszeitung Lietuvos rytas in Deutschland.

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