Da der Euro nach den Worten von Waigel und Konsorten „mindestens so stabil wie die DM“ sein soll, was die Maastrichter Konvergenz-Kriterien gewährleisten sollen, ist unter den EU-Staaten ein Wettlauf ausgebrochen, wer die öffentlichen Ausgaben am meisten reduziert, wer seine Staatsverschuldung u.a. durch Privatisierung am raschesten vermindert, wer in allen Bereichen des Sozialschutzes, Arbeits- und Rentenrechtes, der Ausgaben für das Gesundheits-, Bildungs- und Ausbildungswesen am einschneidendsten flexibilisert und Risiken auf den Einzelnen verlagert. Warum auch sich genieren, nachdem die Systemkonkurrenz, die früher soziale und andere Zugeständnisse erforderlich machte, mit der Implosion des „realen Sozialismus“ verschwunden ist?!
Die Liste der diesbezüglichen Sumpfblüten in der BRD ist inzwischen schier unendlich. Sie reicht von der Kürzung von Arbeitslosengeld und -hilfe, der Kürzung der Sozialhilfe für über 60-jährige, der 1., 2. und bald 3. Stufe der Gesundheitsreform, der in der Kanzlerrunde beschlossenen 40%-igen Reduzierung der Sozialausgaben bis zum Jahr 2000 (ohne Garantie auf Schaffung von Arbeitsplätzen) über die Verzinsung eines 50%-igen Anteils der jeweils vergebenen BAFöG-Darlehen [1] und geplante Studiengebühren in der Höhe von 1000,— DM pro Semester, die Privatisierung von Bundesbahn, Post, Telekom, „weil Private das alles doch sehr viel rentabler betreiben können“ (sie schließen nämlich einfach die unrentablen Linien und Bahnhöfe, verteuern die Orts- und Inlandstarife für den Normalverbraucher und machen zum Ausgleich das Telefonieren nach Übersee — kleine Geschenke an die Wirtschaft erhalten schließlich die Freundschaft — kostenundeckend billig, ...) bis zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und diversen anderen Steuergeschenken an die ohnehin schon Reichen und potentiell Investierenden, während die Lohnabhängigen — damit der Staatstopf sich aufgrund solch großzügiger Geschenke an die Habenden nicht völlig leert und so die Einhaltung der Maastricht-Kriterien in weite Ferne rückt — durch eine Mehrwertsteuererhöhung zur Kasse gebeten werden sollen. Die Liste der möglichen Gegenreformen ist, ähnlich wie die nach oben offene Richter-Skala der Erdbebenstärke, grenzenlos. Leider jedoch grenzenlos nach unten!
Wie der Herr, so’s Gescherr. Auch den ArbeitnehmerInnen in anderen EU-Staaten wird ähnliches zugemutet. Man denke nur an die Massenmobilisierung in Frankreich im November und Dezember 1995 gegen den Juppé-Plan. Aber das Sprichwort gilt in noch stärkerem Maße für die ärmeren EU-Länder. Um überhaupt in einer WWU überleben zu können, forderten sie, d.h. vor allem Griechenland, Portugal, Irland, Spanien, während der Verhandlungen 1990-91 für die EU einen dem deutschen Länderfinanzausgleich ähnlichen Mechanismus. Die strikteste Ablehnung kam natürlich von Seiten der Bundesrepublik, die verkündete: „Als mittelfristig anzustrebendes Leitbild ist ein nivellierendes Umverteilungsmodell als Antwort auf die Herausforderungen Europas und der Welt der falsche Ansatz. Vielmehr bedarf es (...) eines Leitbildes, das den marktmäßigen Wettbewerb der Regionen in den Mittelpunkt der Überlegungen (...) stellt. (...) Es muß der Gefahr vorgebeugt werden, daß die jeweils prosperierenden Regionen unverhältnismäßig stark mit staatlichen Abgaben belastet werden und der Wachstumstrend dieser Regionen (...) geschwächt wird. (...) So können auch die schwächeren Regionen von positiven Spill-over-Effekten der anderen Regionen profitieren. Der Wettbewerb der Regionen und der Wettbewerb der nationalen Wirtschaftspolitiken sind der Motor für eine dynamische Entwicklung.“ [2] Auf solche Spill-over-Effekte, die als Brosamen von der Herren Tische fallen, wurden auch die Länder der „Dritten Welt“ über Jahrzehnte vertröstet, mit dem Effekt, wie ein UNO-Bericht kürzlich feststellte, daß 20% der Menschheit heute gezwungen ist, mit weniger als 1 Dollar pro Tag ein menschenunwürdiges Leben zu fristen. [3] Entsprechend solchen deutschen Leitsätzen wurden die vier ärmeren EU-Staaten mit einem sogenannten Kohäsions-Fond abgespeist, der insgesamt für sieben Jahre den Gegenwert von zirka 28 Milliarden DM enthält, grob gesprochen also pro Land und Jahr 1 Milliarde DM. Spätestens wenn man diese lächerliche Summe mit den jährlich zirka 150 Milliarden DM sogenannter Transfers aus der BRD in die Ex-DDR vergleicht und sieht, was sie bewirkt — oder besser: nicht bewirkt — haben, dürfte klar sein, daß Homöopathie dieser Art aus Fliegengewichten keine Schwergewichte macht.
Nehmen wir z.B. Griechenland: Nach dem EG-Betritt, im „freien Wind der Konkurrenz“, sank das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 58% des EG-Durchschnitts im Jahr 1980 über 54% auf 52,5% im Jahre 1991. Die Kaufkraft griechischer ArbeitnehmerInnen sank im Vergleich zu derjenigen in der BRD von knapp zwei Drittel 1985 auf die Hälfte 1988. Hinsichtlich der Maastricht-Kriterien sieht es für Griechenland ebenfalls düster aus: Die Inflation betrug 1991 19,5%, das Haushaltsdefizit 17,5% und die Staatsverschuldung 115,5% des Bruttoinlandsprodukts. Ähnlich wie der Internationale Währungsfonds (IWF) gegenüber „überschuldeten“ Ländern der „Dritten Welt“ zwangen auch die EG-Institutionen Griechenland eine Roßkur auf, die innerhalb von drei Jahren das Haushaltsdefizit halbieren sollte. Was das für die Zukunftschancen eines Landes und seiner Jugend bedeutet, das schon damals pro Auszubildendem/r nur 28% des EG-Durchschnitts ausgeben konnte, liegt auf der Hand. Daß unter solchen drastischen Sparprogrammen „für Maastricht“ nicht die Kinder der Onassis-Dynastie, die sowieso in den USA studieren, zu leiden haben, sondern die der großen Mehrheit der Bevölkerung, ebenfalls.
Wer nun aber denkt, die Verschärfung der Ungleichheiten hier habe zumindest zur Folge, den verarmten Massen in der „Dritten Welt“ zu einem etwas menschenwürdigeren Leben zu verhelfen, weil hiesiges Kapital Produktion und Dienstleistungen dorthin verlagert, um von dortigen Hungerlöhnen und fehlender sozialer Absicherung zu profitieren sowie neue Märkte zu erschließen, der irrt gewaltig. Was dort passiert, ist die Zerstörung der gewachsenen Strukturen, die Einrichtung ausschließlicher Exportproduktionen gerade auch in der Landwirtschaft auf Kosten der bisherigen Subsistenzproduktion, die Schaffung von Armut, Hunger und Unterentwicklung durch westliche Investitionen und Technologien, die fortschreitende Verschlechterung der Austauschbedingungen für ihre Produkte, die erdrückende, wachsende Schuldenlast und die Wiederausbreitung von Arbeit unter Sklavenbedingungen u.a. in „Wirtschaftssonderzonen“: laut Schätzungen der UNO leben und arbeiten mehr als 200 Millionen Menschen in zirka 50 Ländern als Sklaven, und zwar mit Wissen und Duldung der internationalen Autoritäten, „ein modernes Phänomen, das mit bestimmten Entwicklungen der modernen Wirtschaft verbunden ist (...) und eine Industrie (darstellt), deren Manager ihre Büros in klimatisierten Bürotürmen“ haben. [4] Was geschieht, ist also kein Anheben der Lebensumstände dort, sondern ein Herunternivellieren der Lebensbedingungen auf „Globalisierungsniveau“ hier. Auch die WWU wird zu diesem Prozeß beitragen. Denn nur innerhalb des einheitlichen Währungsgebietes entfallen Geldumtauschkosten und Wechselkursrisiken. Bei jeder Art Handel oder Austausch mit Ländern außerhalb der EU sind sie weiterhin da. Doch werden insbesondere letztere, die Wechselkursrisiken, wie EG-Experten genüßlich darlegten, auf die Außenstehenden abgewälz, [5] wenn in Zukunft Geschäfte in Euro getätigt werden. Besonders einträglich (für eine insgesamt rohstoffarme Region wie die EU) sei dies, wenn auch die Preise für Öl und Rohstoffe in Euro ausgedrückt würden. Und wer, wenn nicht Länder der „Dritten Welt“, liefert Öl und Rohstoffe? Die EU könnte dann bilaterale Wechselkursschwankungen zwischen Euro und Währung des Lieferanten (oder ggf. Käufers) auf das „Dritt-(Welt)-Land“ abladen. [6] Eine weitere substantielle Verschiebung der Austauschbeziehungen zugunsten der EU!
Beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos war es ausgerechnet der ehemalige Direktor von „Fortune“, Marshall Loeb, der daraufhinwies, daß sich überall die Kluft zwischen den „have“ und „havenot“, zwischen Habenden und Habenichtsen, vergrößere, und der von einer Globalisierung der Unterklasse und der heraufziehenden Gefahr eines großen „clash“ sprach. [7] Ein erster Vorbote waren vielleicht die Streiks im November und Dezember 1995 in Frankreich, wo die ArbeitnehmerInnen sich millionenfach gegen die von Maastricht geforderten Attacken auf ihre in langen Kämpfen unter großen Opfern errungenen sozialen Rechte wehrten. Wen sollte eine EU nicht erzürnen, in der immer weniger immer größere immer kapitalkräftigere Riesenkonzerne zig Millionen Menschen in „deregulierten“, sprich ungesicherten Arbeitsverhältnissen gegeneinander ausspielen und mit dem sakrosankten Mittel der Konkurrenz ihre Lebensbedingungen nach unten nivellieren können? Die französischen Streikenden lehrten die Brüsseler Eurokraten und die bundesdeutschen Einpeitscher der WWU mit ihrem couragierten Widerstand das Fürchten. Gefallen ist die WWU damit noch nicht. Dazu braucht es EU-weite Mobilisierungen. Kohls „Kanzlerrunde“ ist die deutsche Antwort auf diese französische Herausforderung: In der einschüchternden Atmosphäre des Kanzleramtes sollen diejenigen, denen die Opfer aufgeladen werden, diesen gegen wohlfeile, aber unverbindliche Versprechungen zustimmen. Mehr als Krokodilstränen können dort von Kohl und Co. nicht vergossen werden, denn die schwindelnd wachsenden Arbeitslosenzahlen sind zwingende Folge der Maastricht- und Globalisierungspolitik. Die Kanzlerrunde ist ein Instrument zur Durchsetzung dieser Politik, nicht etwa ein Instrument zu deren Abschaffung. Zur Schaffung von Arbeitsplätzen ist sie daher ihrer Natur nach völlig ungeeignet.
Wenn wir davor nicht die Augen verschließen und klar sehen, daß die WWU zwar ein „Schlüsselfaktor“ ist, aber nicht, wie von der deutschen Bundesregierung behauptet, für „Beschäftigung und Wohlstand“, sondern für Arbeitslosigkeit und Sozialabbau, dann ist auch klar, daß wir das Thema, unter dem der Deutschlandfunk die französischen Mobiliserungen im November diskutierte: „Ist Frankreich noch zu helfen?“, umdrehen müssen in „Kann Frankreich, d.h. die dortigen Mobilisierungen, uns helfen?“ Eine für „Monitor“ [8] gemachte Umfrage unter Langzeitarbeitslosen ergab, daß nur 15% bzw. 31% von CDU und SPD Abhilfe gegen die Arbeitslosigkeit erwarten, die Mehrheit von gar keiner Partei, weswegen 62% zu Protestdemonstrationen und 24% sogar zu Blockaden (etwa von Autobahnen o.ä.) bereit wären. Das zeigt, die Menschen wollen sich mobilisieren und warten nur auf einen Anstoß dazu. In Frankreich, wo nur zirka 5% der ArbeitnehmerInnen gewerkschaftlich organisiert sind, kam der Anstoß nicht von den großen Gewerkschaften, ja nicht einmal von der KP, die sich alle zunächst eher abwartend verhielten und von der Basis erst auf Trab gebracht werden mußten. EU-weit käme dafür einem EU- und maastrichtkritischen, von Parteien unabhängigen Netzwerk eine wichtige Rolle zu. Wer, wenn nicht wir, verfügt über die Voraussetzungen, vorhandenes Unbehagen durch Information und Aktion in Mobilisierung umzuwandeln?
Ebene der Auseinandersetzung ist dabei natürlich nicht das Abstellgleis, auf das alle Maastricht-BefürworterInnen die Debatte gerne schieben möchten: nämlich DM-Nationalismus versus Internationalismus.
Vielmehr drängen sich zwei Stoßrichtungen des Angriffs gegen die Maastricht-Union auf:
- gegen die Währungsunion als zusätzliches Mittel des Markt-Totalitarismus, des Manchester-Liberalismus und des nach unten unbegrenzten Sozialabbaus;
- gegen die Währungsunion als Instrument des deutschen Kapitals zur Erhöhung seiner Hegemonie in Europa und weltweit.
Ralf Dahrendorf, seit Jahren Professor an der Universität Oxford, sagte kürzlich in einem „Spiegel“-Interview, daß eine Welle großer Erleichterung durch Europa gehen würde, wenn die Wirtschafts- und Währungsunion nicht realisiert würde, genauso wie 1954 in Wirklichkeit niemand die Europäische Verteidigungsgemeinschaft wollte und alle an dem Tage aufatmeten, als die französische Nationalversammlung sie ablehnte. [9] Tun wir das Unsrige dazu, damit die Menschen in der EU auch diesmal wieder befreit aufatmen können, weil ihnen dieses monetaristische, deutsche Europa erspart bleibt!
[1] Entspricht den österreichischen Stipendien.
[2] Bundesministerium für Wirtschaft. Studienreihe Nr. 79, Wirtschaftspolitische Konsequenzen der Wirtschafts- und Währungsunion, Okt. 1992, S. 12-13.
[3] Le Monde, 9.2.1996.
[4] Zit. aus: Dominique Torres, Esclaves. in Le Monde, 26.1.1996.
[5] Europäische Wirtschaft, Nr. 44, Okt. 1990, S. 198.
[6] Europäische Wirtschaft, Nr. 44, S. 203.
[7] Le Monde, 6.2.1996.
[8] Zit. in der Monitor-Sendung am 15.2.1996.
[9] Zitiert nach Le Monde, 19.12.1995.