Context XXI » Print » Jahrgang 2005 » Heft 1-2/2005
Birgitt Wagner

Von Namibia nach Auschwitz?

Die Genozidforschung scheint deutschen Traditionen auf der Spur

Kolonialhistoriker stellen an Hand des Völkermords an den Herero und Nama einen Zusammenhang zwischen kolonialem Genozid und Holocaust her — und sehen keinen Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus.

Angesichts der expliziten Vernichtungsabsicht der deutschen „Schutztruppe“ während des Kolonialkriegs 1904 - 1908 in Deutsch-Südwestafrika liegt die Überlegung nahe, ob dieser Völkermord als isoliertes Ereignis in der deutschen Geschichte gesehen werden kann oder nicht vielmehr in die Entwicklung hin zum Holocaust eingebettet werden muss. In der Context XXI-Ausgabe 8/2004 hat Thomas Schmidinger in seiner Rezension des Sammelbandes „Völkermord in Deutsch-Südwestafrika“ die Ereignisse bereits ausführlich beschrieben: die explizite Absicht des neuen militärischen Befehlshabers von Trotha, die Herero in ihrer Gesamtheit zu vernichten, die er noch vor seinem Eintreffen geäußert hatte; der Dursttod der bereits geschlagenen Herero in der Wüste und das massenhafte Sterben der wenigen Überlebenden nach Aufhebung des Schießbefehls in Konzentrationslagern, an bewusster Vernachlässigung und Zwangsarbeit.

Kolonialkriege unterliegen keiner Regulierung

Im Krieg gegen die Herero und Nama trafen zwei theoretische Linien zusammen: seit etwa 1870 war die Militärtheorie Clausewitz’ vom „totalen Krieg“, nach der moderne Kriege mit extremer Härte geführt werden müssten, um den Gegner bereits mit dem ersten Schlag zu besiegen, besonders in Deutschland hegemonial geworden. Wichtiger noch war mit Sicherheit der koloniale Kontext für den Schritt zum Völkermord, da aus europäischer Perspektive ein Unterschied bestand zwischen „zivilisierten“ Gegnern, denen man mit einem gewissen Maß an Achtung und Respekt begegnete, und dem Kampf gegen „unzivilisierte Völker“, der derartige Rücksichtnahme nicht erforderte. Ganz folgerichtig galten denn auch Abkommen zur Regelung von Kriegshandlungen wie die Haager Landkriegsordnung von 1899 für einen Krieg von Weißen gegen Weiße - der Krieg gegen kolonial beherrschte Bevölkerungen war davon ausgenommen. [1]

Aber auch die Vorstellung eines „Rassenkrieges“ war ideologische Unterfütterung einer Kriegsführung, die für den Gegner keinen Respekt entwickeln wollte. In dieser Vorstellung des Kampfes zwischen der „weißen“ und der „schwarzen Rasse“ war es geradezu Kennzeichen der Situation, dass es einen totalen Sieger und einen totalen Verlierer geben musste. Die Theorien des Sozialdarwinismus boten so gleich doppelten Nutzen: zum Einen konnte sich ein Mann wie von Trotha gleichsam in einer Verteidigungsstellung wähnen, die jeglichen Schlag gegen den Gegner rechtfertigte — gekämpft musste schließlich werden, und einer musste unterliegen. Zweitens bot der Sozialdarwinismus ein scheinbar wissenschaftliches Argumentationsmuster, dessen neutraler Jargon die Täter als Werkzeuge der Geschichte von jeglicher persönlicher Verantwortung freisprach: die „schwächeren Völker“ seien ohnedies zum Untergang bestimmt.

Auf dieses biologistische Konzept von „Rasse“ stützt sich die Argumentation zu Gunsten einer Kontinuität: im anthropologischen Rassismus treffen sich die Beschreibung und Definition kolonisierter Bevölkerungen genauso wie der slawischen Bevölkerung Osteuropas, und auch die Entstehung des Antisemitismus speiste sich aus der neu entstandenen „Wissenschaft“ der Rassenlehre.

Der deutsche Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer beispielsweise sieht als einigendes Band divergierender Aspekte der NS-Ideologie und der NS-Politik zum einen den Rassismus und zum anderen die Großraumpolitik mit der damit verbundenen „Ökonomie der Vernichtung“. Wenn man Rassismus zudem als umfassende ’Biologisierung des Gesellschaftlichen’ betrachte, würden die Opfer der Zwangssterilisation, der Ermordung „lebensunwerten Lebens“, die sowjetischen Kriegsgefangenen und die Juden als Opfer der gleichen menschenverachtenden Ideologie erkennbar. Der Krieg gegen die Herero und Nama weise bei genauerem Hinsehen deutliche Parallelen zum dem zwischen 1941 und 1945 geführten „Vernichtungskrieg im Osten“ auf; auf Grund des geringen zeitlichen Abstands von nur 40 Jahren könne von einer militärischen Tradition des „Rassen“- und Vernichtungskrieges gesprochen werden. [2]

Das „Volk ohne Raum“ blickt jetzt nach Osten [3]

Die These, dass die grausame Behandlung der slawischen „Untermenschen“ der des Gegners in einem Kolonialkrieg entspreche, hat viel für sich. Osteuropa wurde von den Nationalsozialisten als angestammter deutschen Kolonial- und Siedlungsraum betrachtet. Adolf Hitler: „Der Kampf um die Hegemonie der Welt wird für Europa durch den Besitz des russischen Raumes entschieden; er macht Europa zum blockadefestesten Ort der Welt. [...] Die slawischen Völker hingegen sind zu einem eigenen Leben nicht bestimmt. [...] Der russische Raum ist unser Indien, und wie die Engländer es mit einer Handvoll Menschen beherrschen, so werden wir diesen unseren Kolonialraum regieren.“ [4]

Und ganz offensichtlich war der Krieg in Osteuropa, anders als die Feldzüge in Westeuropa, eben ein Vernichtungskrieg. Die Genfer Konvention wurde zwar sehr wohl auf die Gefangenen der westlichen Alliierten, nicht aber auf die sowjetischen Kriegsgefangenen angewendet, die zu Millionen erschossen wurden oder in Lagern zugrunde gingen. Und auch die slawische Zivilbevölkerung wurde massenhaft getötet, um „Lebensraum“ zu gewinnen. Hier trifft sich die nationalsozialistische Planung mit der Utopie einer Siedlungskolonie wie Deutsch-Südwestafrika, was die Imagination eines „reinen“ Neuanfangs mit idealen Ausgangsbedingungen angeht. Gleichzeitig ist diese Argumentation jedoch wenig geeignet, eine Verbindung zum Holocaust herzustellen.

Wenn Dominik Schaller von der Arbeitsgruppe für Genozidforschung. an der Universität Zürich schreibt, dass „Juden, Polen und Russen zur potentiellen Kolonialbevölkerung eines deutschen Reiches in Osteuropa [mutierten], als völkische Gruppen nach dem Ersten Weltkrieg den Osten Europas als neuen“Lebensraum„entdeckten“, [5] so vereinfacht er in unzulässiger Weise: Auch wenn der Holocaust und der Vernichtungskrieg in Osteuropa — nicht ganz zufällig — räumlich und zeitlich parallel stattfanden, so handelt es sich doch um zwei geschichtliche Phänomene, die eine getrennte Betrachtung erfordern. Ähnlich argumentiert Jürgen Zimmerer, wenn er auf die strukturellen Parallelen des biologischen Rassismus gegenüber Schwarzen wie gegenüber Slawen und Juden hinweist. [6]

Beide Argumentationen sind nur tragfähig, wenn die Unterschiede zwischen anthropologischem Rassismus und Antisemitismus ignoriert bzw. abgestritten werden. Der Antisemitismus spielt jedoch in der deutschen Tradition eine fundamental andere, geradezu die zentrale Rolle — auch wenn in beiden Fällen eine Gegnerschaft in einem imaginierten „Rassenkrieg“ konstruiert wird.

Ohne Antisemitismus ist Deutschland nicht zu denken

Seit Beginn der Definitionsbemühungen, was „deutsch“ sei, also mit der Entstehung der deutschen Nation seit Beginn des 19. Jahrhunderts, bildete „jüdisch“ den ideellen Gegensatz, an Hand dessen die Konstruktion des Deutschen vorgenommen werden konnte. Schon bei Fichte findet sich die Behauptung einer vollkommenen Unvereinbarkeit, der zufolge es unmöglich sei, einem Juden deutsche Bürgerrechte zu gewähren. Diese Rolle als „Gegenrasse“ blieb eine Konstante und wurde mit Vorliebe in Zeiten des deutsch-nationalen Aufbruchs manifest — so zum Beispiel während der so genannten Revolution von 1847/48, die von den schlimmsten Pogromen seit den „Hep-Hep-Unruhen“ begleitet wurde.

Weiter vorangetrieben wurde diese Entwicklung durch den modernen Antisemitismus, für den die Juden die leibhaftige Personifizierung aller als negativ abgelehnten Aspekte der Moderne abgaben - vom Kapitalismus über den sozialen Wandel bis hin zur allgemeinen Undurchschaubarkeit und Unberechenbarkeit des Weltgeschehens. Das Phantasma des „Weltjudentums“ mit seinen allgewaltigen Herrschaftsplänen war entstanden, immer aufs Schönste kontrastiert durch das angeblich bodenständige und verwurzelte „Deutschtum“. [7]

Rassismus und Antisemitismus spielen hierbei für den psychischen Haushalt des bürgerlichen Subjekts zwei völlig unterschiedliche Rollen. Wo die rassistische Wahrnehmung einen „Untermenschen“ ortet, der als Inbegriff aller vor-bürgerlichen Eigenschaften und Triebe verabscheut wird, sind die Jüdinnen und Juden dem Antisemiten die Verkörperung des Widerspruchs, den das bürgerliche Subjekt in sich selbst zu ertragen hat: der Abstraktheit von Markt und Staat, die die Erfüllung seiner Rolle als Warenbesitzer und Staatsbürger fordern, ohne dem konkreten Individuum jemals seine weitere Notwendigkeit und damit Existenz garantieren zu können. In Zeiten der Krise entfaltet sich diese Projektion in konkreter Vernichtung, um im Juden das eigene Bedrohtsein durch die Abstraktion auszumerzen und sich so zu stabilisieren — eine Vernichtung, für die heute als Chiffre „Auschwitz“ steht und die, auch wenn sie im besetzten Osteuropa stattfand, rein gar nichts mit kolonialer Expansion zu tun hatte. [8]

Gleichzeitig rückt bei einer Einengung des Holocaust auf die Geschehnisse im besetzten Osteuropa aus dem Blickfeld, dass die antisemitische Politik von Stigmatisierung, Diskriminierung und Beraubung in Deutschland sofort nach der Machtübergabe an die NSDAP 1933 begann. Diese „vorbereitenden“ Maßnahmen, besonders Definition und Kennzeichnung von Jüdinnen und Juden, waren aber Vorbedingung für die Durchführung des Holocaust. Eine Argumentation, die im Dienste der Kontinuitätsthese die Vernichtung der europäischen Juden und den deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa in Eins setzt, klammert dem gegenüber die deutschen genauso wie die aus den westeuropäischen Ländern deportierten Juden einfach aus, deren Ermordung wiederum keineswegs mit kolonialen Siedlungsplänen erklärt werden kann. Es wurden eben alle Juden umgebracht, derer die Deutschen habhaft werden konnten, und dies nicht als überzählige Bevölkerung, sondern als Vertreter des „Weltjudentums“.

Insofern scheint es wenig wahrscheinlich, dass die Deutschen — deren antisemitische Vordenker bereits in den 1880/90er-Jahren vom „Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum“ schwadronierten und von der Notwendigkeit, „den giftigen Tropfen der Juden aus unserem Blut [loszuwerden]“ — ohne den Völkermord an den Herero am „ultimativen Tabubruch der Vernichtung anderer Ethnien“ gescheitert wären. Groß genug war der wahnhafte Hass gegen die Juden schon lange; ihn auszuleben, fehlte bis 1933 weniger ein geeignetes Vorbild denn die Verfügungsgewalt über den staatlichen Machtapparat.

[1Christoph Marx: Kriegsgefangene im Burenkrieg. In: Rüdiger Overmans: In der Hand des Feindes. Köln 1999, S. 255-256.

[2Jürgen Zimmerer: Holocaust und Kolonialismus. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51/2003 S. 1103, 1117.

[3Das Motto ist dem 1926 erschienenen gleichnamigen Roman von Hans Grimm entnommen, dessen Handlung noch in Südafrika angesiedelt ist.

[4Rede Adolf Hitlers vom 17.9.1941.

[5Dominik Schaller/Rupen Boyadijan/Vivianne Berg/Hanno Scholtz (HgInnen.): Enteignet — Vertrieben — Ermordet. Beiträge zur Genozidforschung, Zürich 2004, S. 187.

[6Zimmerer, ebd., S. 1103 ff.

[7Zur deutschen Nationwerdung siehe Gerhard Scheit: Die Meister der Krise,. Freiburg 2001, sowie Gruppe r.a.be.: Auf Deutschkurs, http://deutschkurs.open-lab.org

[8Joachim Bruhn: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation. Freiburg 1994.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
2005
, Seite 40
Autor/inn/en:

Birgitt Wagner:

Historikerin und Übersetzerin, von Mai 2005 bis 2006 Redaktionsmitglied von Context XXI.

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