Streifzüge » Print-Ausgaben » Jahrgänge 2011 - 2020 » Jahrgang 2019 » Heft 76
Götz Eisenberg

Vom Recht auf Stille

Zusammen mit der Zeit wird aber auch Stille zu einem raren Gut.

(Lothar Baier)

Sollten irgendwann irgendwelche Aliens die verwüstete Erde besuchen und aus unseren Erbstücken rekonstruieren, wer bzw. was wir waren, werden sie wahrscheinlich in ihren Abschlußbericht schreiben: ‚Zwei Dinge konnten diese Wesen richtig gut – Lärm und Dreck.‘

(Kay Sokolowsky)

„Tag gegen Lärm“

Während ich mir einen Kaffee zubereitete, hörte ich mit halbem Ohr aus dem Radio, dass am 24. April 2019 zum 22. Mal der Tag gegen Lärm stattfindet. Da es ein sonniger Frühlingstag war, trug ich mein Frühstück auf den Balkon und ließ mich dort nieder. Kaum saß ich und freute mich, dass vom Dachfirst des gegenüberliegenden Hauses eine Amsel sang, begann ein Nachbar den Rasen zu mähen. Kurz darauf warf jemand in einem Hinterhof einen Laubbläser an. Der menschliche Laubbläser trägt, während er das Gerät benutzt, einen Ohrenschutz, aber eigentlich müssten an die Nachbarn Ohrenschützer verteilt werden. Laubbläser sollten zu den Schallwaffen gezählt und genauso geächtet werden wie Bluetooth-Boxen und Soundgeneratoren in Autos und Motorrädern, dachte ich auf meinem Balkon. Da wurde schräg gegenüber bei geöffneten Fenstern zu allem Überfluss auch noch Staub gesaugt. Die diversen Maschinen-Geräusche verbanden sich mit dem städtischen Grundlärm zu einer schrillen Kakophonie. So begehen die Leute also den Tag gegen Lärm, indem sie ihn ignorieren und es noch doller treiben, dachte ich und zog mich fluchtartig ins Innere der Wohnung zurück. Was nützt einem die schönste Frühlingssonne, wenn man von allen Seiten mit Lärm traktiert wird? Im alten China hat man Kriminelle, die sich eines besonders schweren Verbrechens schuldig gemacht hatten, durch Lärm hingerichtet. Der Verurteilte wurde unter eine große Glocke gelegt, die anschließend vom Henker geschlagen wurde. Es soll der qualvollste Tod sein, den ein Mensch erleiden kann. Ungefähr so fühle ich mich manchmal in dieser Wohnung, in dieser Stadt, in dieser Gesellschaft wie unter einer chinesischen Hinrichtungsglocke.

Alltäglicher Krieg

Ich fahre mit dem Rad zum Einkaufen. Ein Autofahrer stößt seine Wagentür auf und holt mich beinahe aus dem Sattel. Sein Beifahrer und er amüsieren sich darüber, dass sie mich beinahe zu Fall gebracht haben. Würde ich sie zur Rede stellen, riskierte ich einen Kieferbruch. Eine Passage aus Adornos Minima Moralia fällt mir ein, wo er feststellt, dass Autofahrer dazu neigen, Fußgänger, Radfahrer und Kinder als „Ungeziefer der Straße“ zu betrachten, das man zuschanden fahren kann. Beim Einkaufen fährt mir jemand mit dem Einkaufswagen in die Hacken. Kein Wort der Entschuldigung. Ein hoch aggressiver Mann wirft seine Einkäufe meterweit in seinen Wagen und brüllt herum. Lemmy Kilmister hat gegen Ende seines Lebens mal gesagt: „Die Regel lautet: acht von zehn … Acht Idioten an einem guten Tag. Sonst: neun. An einem schlechten Tag triffst du zehn Leute und einer wie der andere ist ein kompletter Vollidiot.“ Heute ist so ein Tag, der in Richtung zehn von zehn weist oder hundert von hundert oder hundertzehn von hundert. Gedränge und Geschiebe, als eine weitere Kasse aufgemacht wird. Der Kassierer redet, während er meine Einkäufe über den Scanner zieht, laut mit einer Kollegin an der Nachbarkasse. Geräusche dringen von überall her wie Speere in mich ein. Auf dem Heimweg überholt mich ein röhrendes Motorrad, wenig später ein zu einer Klangbombe umgebautes Automobil. Auspuff-Sound und Lautstärke sollen Stärke und Virilität demonstrieren: je lauter, desto männlicher! Autos als männliche Selbstwert-Prothesen und lackierte Kampfhunde, die ihre Besitzer aufeinander loslassen. Unglaubliches Gedränge in der Fußgängerzone, die ich überqueren muss. Digitale Somnambule kreuzen meinen Weg. Dumme Handysätze dringen an mein Ohr. Was ich von den anderen sehe, sind tote Augen, stumpfe oder brutale Gesichter, Hass, Ärger und Gereiztheit. Bloß ab und zu einmal ein menschliches Antlitz. Ich habe das Gefühl, in jedem Augenblick könnte jemand ein Messer hervorziehen – einfach so. Dieser Jemand könnte auch ich sein, denke ich. Es wird mir alles zu viel. Unter einer dünnen Oberfläche des Alltags herrscht Krieg.

Im Lärm steckt eine Gewalt, vor der ich fliehen muss. Ich ziehe mich für eine Weile an den Fluss zurück. Stille gibt es in der Stadt nur noch als Taubheit. Auf einem Baum, der flussabwärts auf einer kleinen Insel steht, hocken ein Dutzend Kormorane. Ein paar Spatzen fliegen zwischen Bäumen hin und her. Auf keinem Ast hält es sie lange. Kaum sitzen sie, heben sie schon wieder ab, schwirren hinüber zum Nachbarbaum, nur um rasch zurückzukehren. Schon als Kind habe ich mich gefragt, was die Vögel veranlasst, von hier nach dort zu fliegen. Es muss mehr und etwas anderes sein als Nahrungssuche. Vielleicht einfach pure Lebensfreude. Ich gehe am Fluss entlang zu einem Steg. Ich stelle mich mitten auf dem Steg ans Geländer und schaue auf den Fluss. Beim Anblick der ruhigen Strömung werde ich selbst ruhig. Zwei alte türkische Männer sitzen auf Steinen unten am Fluss. Sie sitzen schweigend nebeneinander und hängen ihren Gedanken nach. Sie tragen beide einen Wollschal. In dessen Falten, im Gewebe oder in der Art, wie sie ihn um den Hals schlingen, hängt ein Rest ihrer Vergangenheit. Dies wirkt wie eine Art von Isolierung gegen die trostlose und kalte Gegenwart.

Theodor Lessings „Antilärm-Verein“

Ständiger Lärm löst Alarm im Körper aus und wird zu einer Quelle von Gereiztheit und ohnmächtiger Wut. Um diese zu sublimieren, beginne ich unter dem Stichwort „Lärm“ im Netz zu recherchieren und stoße auf Aufsätze des Philosophen Theodor Lessing, die er zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben hat. Es handelt sich unter anderem um einen programmatischen Text für „Den ersten deutschen Antilärm-Verein“, der im Jahr 1908 in Hannover gegründet wurde und dessen Vereinsorgan Der Antirüpel hieß. Verein und Zeitschrift traten für ein „Recht auf Stille“ ein und wandten sich gegen „Lärm, Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben“. Im Zentrum der Lessing’schen akustischen Qualen standen das „Teppich-, Polster- und Bettenklopfen, das Peitschenknallen der Kutscher, das Kreischen der beschlagenen Wagenräder auf dem Pflaster und die grauenhafte Unsitte öffentlichen musikalischen Dilettierens“. Die von Lessing aufgelisteten und vor ihm schon von Schopenhauer beklagten Lärmquellen muten uns heute wie die Geräuschkulisse eines romantischen Films an und gehörten auch zu Lessings Zeiten eigentlich zu einer im Untergang begriffenen agrarisch-handwerklichen Welt.

Damals fuhren die neuen Lärmquellen den Zeitgenossen wie ein Schock in die Glieder. Die Menschen mussten die überfallartigen Schübe der kapitalistischen Modernisierung über sich ergehen lassen und waren dem plötzlichen Einbruch ganz neuartiger Geräusche hilflos ausgeliefert. Stampfen, Bohren, Pressen, die Erschütterung von Materie, die Materie schlägt, und von Materie, die an Materie scheuert. Akustische Begleitung einer neuen Stufe der Naturbeherrschung. Natur wird nicht behutsam angeeignet, sondern unterworfen und vergewaltigt. Der Lärm selbst schlägt und scheuert gegen weitere Materie und dringt in die Köpfe der Menschen. Selbst nach dem Verlassen der Fabriken finden sie keine Ruhe, der Lärm hallt in ihnen nach. Die hartnäckigen, verstümmelten Rhythmen existieren immer noch in den Köpfen und Körpern und verfolgen sie bis in die Betten.

Rauchende Fabrikschlote, zersiedelte Landschaften und die um sich greifende allgemeine Beschleunigung des Lebenstempos, die Hektik und Anonymität, das waren nicht zu übersehende und zu überhörende Einschnitte in die traditionellen Lebensformen der Städte und Dörfer. Neurasthenie lautete eine neue medizinisch-psychiatrische Modediagnose, eine allgemeine Nervosität bemächtigte sich der Menschen. 1911 verabschiedete sich Lessing von den Lesern des Anti-Rüpels mit den Worten: „Unsere Sache kam noch zu früh, wird sich aber immer wieder melden und wird siegen.“ Einstweilen versank ganz Europa im Getöse der Geschütze und Explosionen des Ersten Weltkrieges.

Städtisches Lärmprotokoll

Die Lektüre der Lessing’schen Kampfschrift hat mir zu einer Distanz zur unmittelbaren Unerträglichkeit des Lärms verholfen und die Unmöglichkeit des Lebens unter solchen Bedingungen vorübergehend aufgehoben. „Wohin“, fragte Lessing 1908, „sollen wir Träumer entfliehen? Vielleicht zu den Sternen hinauf?“ Wir Heutigen liefen Gefahr, bereits auf dem Weg Zeugen eines Satelliten-Zusammenstoßes zu werden und nach unserer Ankunft selbst dort auf Bohrmaschinen, Dampframmen und andere Insignien der Zivilisation zu stoßen.

Lessings Aufsatz hat mich inspiriert, in meiner mitten in der Stadt gelegenen Wohnung eine Art Lärmprotokoll von einer beliebigen halben Stunde zu erstellen. Beim Rechtsanwalt gegenüber werden quietschend die metallenen Rollläden hochgezogen. Zwei Häuser weiter wird ein Gerüst aufgebaut. Metallstangen fallen scheppernd zu Boden. Laute Zurufe und gellende Kommandos. In der Wohnung über mir zieht jemand einen Stuhl übers Linoleum, was ein kreischendes Geräusch erzeugt, das durch Mark und Bein dringt. Stampfende Schritte von hier nach dort. Eine Tür wird krachend zugeschlagen. „Es gibt ein Wesen, das vollkommen unschädlich ist, wenn es dir in die Augen kommt, du merkst es kaum und hast es gleich wieder vergessen. Sobald es dir aber unsichtbar auf irgendeine Weise ins Gehör gerät, so entwickelt es sich dort, es kriecht gleichsam aus, und man hat Fälle gesehen, wo es bis ins Gehirn vordrang und in diesem Organ verheerend gedieh, ähnlich den Pneumokokken des Hundes, die durch die Nase eindringen. Dieses Wesen ist der Nachbar“, heißt es bei Imre Kertész.

Im Garten gegenüber wird ein Baum abgesägt und das Geäst geschreddert. Unten auf der Straße fahren zwei Jungen auf ihren Skateboards vorüber. Wie kann ein so kleines, harmloses Gefährt so einen Lärm erzeugen? Ein Motorradfahrer lässt die Maschine aufröhren. Beim Nachbarhaus fällt das Hoftor krachend ins Schloss. Aus vorbeifahrenden Autos dringt wummernde Musik nach oben. Ein Autofahrer tritt, obwohl ein paar hundert Meter weiter die Ampel rot ist, noch einmal das Gaspedal voll durch, um in den Genuss des Sounds zu kommen und dann quietschend zu bremsen. Der Deckel eines Müllcontainers wird scheppernd fallen gelassen. Ein hupender Autokonvoi auf dem Anlagenring zeugt davon, dass irgendwelche Menschen in die Ehefalle gegangen sind, aus der sie sich mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit in ein paar Jahren unter Schmerzen und großen Kosten, aber wenigstens ohne öffentlichen Lärm, wieder befreien werden. In der Wohnung über mir beginnt die Waschmaschine ihren Schleudergang. Minutenlang dröhnt, wackelt und klirrt alles.

Abends, wenn der allgemeine städtische Lärmpegel etwas absinkt, schlägt die Stunde der Hausmeister und Hobby-Bastler. „Das gewöhnliche Unglück tritt ein“, heißt es bei Wilhelm Genazino, „wenn ein Mann und eine Maschine zueinander finden“, und er stellt die Gleichung auf: Mann + Motor = Lärm. Das gilt besonders fürs Wochenende, wenn die Zeit der rasenden Heimwerker anbricht. Überall heulen Bohr-, Schleif- und Fräsmaschinen auf, Rasenmäher, elektrische Heckenscheren und Hochdruckreiniger werden angeworfen.

In Dave Eggers neuem Roman Bis an die Grenze, in dem er davon erzählt, wie eine Frau ihr bisheriges Leben aufgibt und mit ihren Kindern in einem Wohnmobil nach Alaska aufbricht, stieß ich auf folgende Passage: „Die Dummheit und die fehlgeleiteten Hoffnungen der gesamten Menschheit lassen sich am einfachsten erleben, wenn man zwanzig Minuten zuschaut, wie ein Mensch einen Laubbläser benutzt. Mit diesem Gerät, sagte der Mann, werde ich alle Stille ermorden. Ich werde die Ebene des Gehörs zerstören. Und ich werde das mit einem Gerät tun, das eine Arbeit weitaus weniger effizient erledigt, als ich es mit einer Harke könnte.“

Universum des Lärms

Jeder zweite Passant telefoniert im Gehen mit seinem Handy und lässt einen, wenn man auf dem Balkon sitzt oder die Fenster offen stehen hat, an diesen Gesprächen teilhaben. „bin jetzt götestraße, gehe jetzt mc donald“ ist so ein typischer Handy-Stakkato-Satz, der zu mir hinaufweht. Immer öfter frage ich mich, was in den letzten Jahren passiert ist, dass es plötzlich so viel zu sagen gibt. Und dass so vieles derart dringend ist, dass es unmittelbar gesagt werden muss und keinen Aufschub duldet. Wie haben die Menschen es vor noch nicht allzu langer Zeit ausgehalten, allein und unüberwacht durch die Straßen zu gehen? Wo ist die Scham geblieben, die die Menschen früher davon abhielt, intime Details ihres Lebens in aller Öffentlichkeit zu enthüllen? Sämtliche Peinlichkeitsschwellen, die Norbert Elias für eine zivilisatorische Errungenschaft hielt, scheinen geschliffen. Nachts ziehen betrunkene junge Männer grölend durch die Straße, stürzen Mülltonnen und Blumenkübel um und werfen leere Flaschen gegen die Häuserwände. Radfahrer und Passanten beschallen zu jeder Tages- und Nachtzeit ihre Umgebung mit Bluetooth-Boxen, die sie in Rucksäcken mit sich führen.

Vor zwei Jahren habe ich mich in der Lokal-Presse gegen eine drei Tage währende Beschallung mit Techno-Musik durch eine sogenannte Pop-up-Bar gewehrt, die sich in einem benachbarten Blumengeschäft eingenistet hatte. Dagegen halfen keine doppelt verglasten Fenster und keine Ohrenstöpsel. Ich fühlte mich wie ein Guantanamo-Häftling, der rund um die Uhr mit ohrenbetäubender Musik traktiert wird, um ihm ein Geständnis zu entlocken. Und das nur, damit die Betreiber Pizza und Prosecco an den Mann und die Frau bringen und ihren Reibach machen konnten. Mit den Worten meines Kabarett-Heroen Gerhard Polt fragte ich die Verantwortlichen: „‚Muss das sein? Braucht’s des?‘ Wollen Sie aus der Stadt eine einzige Party-Zone machen? Sollen die (älteren) Innenstadtbewohner in nicht allzu ferner Zukunft evakuiert oder gleich ganz zwangsumgesiedelt werden, damit die Innenstadt frei wird für die sinnentleerten Exzesse der Spaßkultur und den ungehinderten Absatz der Waren rund um die Uhr? Stören wir bei der totalen Durchökonomisierung der Stadt?“

Der Tenor der auf meinen Zwischenruf folgenden Kommentare war: Wer keinen Lärm ertragen kann, gehört nicht in die Stadt! „Leute wie Herr Eisenberg gehören nicht in die Innenstadt. Wer Ruhe will, gehört in einen Vorort oder aufs Land. Eine Stadt lebt.“ Wenn der Lärm einer kommerziellen Veranstaltung mit Lebendigkeit gleichgesetzt wird, gehört, wer gegen ihn protestiert, auf den Friedhof so die Logik vieler Kommentare. Es gibt aber unterschiedliche Formen von Lärm. Es gibt Lautbekundungen des Lebendigen und es gibt den Krach, den die „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) im Dienst der Reklame und im Interesse eines gesteigerten Warenabsatzes erzeugt. Ständig dröhnt aus dem Eingang eines neu eröffneten Geschäfts laute Musik, beim Einkaufen wird der Kunde permanent mit verkaufsfördernder Musik beschallt. Dann gibt es den Lärm, den eine Demonstration für ein freies Rojava mit sich bringt, die gerade unter meinem Fenster vorüberzieht. Selbst bei gleicher Dezibel-Zahl macht es für mich einen großen Unterschied, ob Lärm im Dienst der Lebenstriebe steht oder der Geldvermehrung und letztlich der Destruktion. Aus der Psychologie ist bekannt, dass der Rasenmäher von nebenan umso mehr stört, je weniger man den Nachbarn mag. Und ich mag einfach den Beschleunigungs-, Vermehrungs- und Anpreisungslärm nicht. Den Lärm der Revolution dagegen hoffe ich ertragen zu können.

Meine innere Mongolei

Der Lärm nimmt keinen Anfang und findet kein Ende. Wie soll man da nicht krank oder verrückt werden? Vielleicht ist mein beinahe phobisches Verhältnis zum Lärm auch eine Begleiterscheinung meiner Leidenschaft fürs Schreiben und Lesen. Beides sind monologische Tätigkeiten und gedeihen nur unter leidlich ruhigen Umständen. In einem Roman von Ralf Rothmann fand ich in der Schilderung der Lärmempfindlichkeit eines Schriftstellers eine Bestätigung: „Er fühlte sich wie gehäutet von der Scharfkantigkeit der Geräusche und machte die banale Erfahrung, dass Sprache, in der mehr anklingt als das Alltägliche, nicht ohne Stille zu haben ist.“

Statt „monologisch“ hatte ich eben zunächst „mongolisch“ geschrieben, ein keineswegs zufälliger Verschreiber, denn tatsächlich verhalte ich mich vielen Phänomenen der so genannten Modernisierung gegenüber „mongolisch“, was auf Herbert Achternbuschs „Rede zum eigenen Land“ zurückgeht, die er irgendwann in München gehalten hat. Dort hat er gesagt: „Die Chinesen, die ich eigentlich nur rühmend erwähnen möchte, nennen die Mongolen die Affen. Die Mongolen schauen der selbstlosen Betriebsamkeit der Chinesen blasiert zu. Die Chinesen bauen den Mongolen Schulen und Fabriken, die die Mongolen meiden. Die Mongolen machen den Eindruck, als wären sie mit etwas anderem beschäftigt, vielleicht mit nichts. Wenn die fleißigen Chinesen meine Achtung haben, so haben diese Mongolen mein, wie soll ich es nennen? Was soll ich ihr Eigenleben irgendwie noch bezeichnen? Sie haben mein Vertrauen. Ich bin ihnen irgendwie zu eigen. Die Mongolei ist das Land meiner inneren Emigration.“

Von manchen traumatisierten Menschen wird berichtet, dass sie derart geräuschempfindlich werden, dass sie bereits das Ticken einer Uhr in den Wahnsinn treiben kann und sie die berühmten Flöhe husten hören. Gelegentlich liest man von Kriegsveteranen, die auf spielende Kinder schießen, die unter ihren Fenstern lärmen. Die ausgeprägte Empfindlichkeit gegenüber dem Lärm reflektiert die lebensgeschichtliche Beschädigung von Ich-Funktionen, die für die Reizverarbeitung zuständig sind und normalerweise dafür sorgen, dass Lärm durch selektive Wahrnehmungsprozesse derart gefiltert wird, dass wir nur hören, was wir hören wollen.

Während der Blütezeit der Anti-Psychiatrie war folgende Geschichte in vielen verschiedenen Varianten im Umlauf: Ein Mann schaut in einem psychiatrischen Krankenhaus aus dem Fenster und sieht Männer, die mit Motorsägen Bäume fällen. „Warum werden diese wunderbaren alten Ulmen gefällt“, fragt er einen Arzt. „Wir müssen Platz schaffen für einen Erweiterungsbau“, erwidert dieser. „Warum müssen Sie anbauen?“, fragt der Besucher weiter. „Weil so viele Menschen wegen der gefällten Ulmen verrückt werden“, erläutert der Arzt.

Für Traumatisierte und andere Empfindsame hielt Kierkegaard den Rat bereit: „Wenn ich Arzt wäre und man mich fragte: Was rätst Du? Ich würde antworten: Schaffe Schweigen.“

Stille auf Rezept

Inzwischen ist der Kierkegaard’sche Rat in der Ratgeberliteratur und auf den Lifestyle-Seiten der Zeitschriften angekommen. Medien, Wissenschaft und Medizin entdecken die Stille, den Müßiggang, das Nichtstun und das Tagträumen. Gestresste Manager und Banker ziehen sich in Klöster und zu Schweigeretreats nach Nepal zurück. Lärmgeplagten Großstädtern wird das „Waldbaden“ als Therapie empfohlen. Das Erleben von Stille und Natur senke den Blutdruck, heißt es, steigere das körperliche Wohlbefinden und sorge für emotionale Ausgeglichenheit. Nichts entgeht der Verwurstung und der Indienstnahme. Letztens hörte ich einen Radiobeitrag, in dem ein Neurowissenschaftler sagte: Musik und Tanz heilen und halten fit! Aber: Muße, die in einen von Hektik geprägten Alltag „eingetaktet“ wird, ist keine Muße; Stille, die das Wachstum von Gehirnzellen fördert, ist keine wahre Stille; eine Stille, die einen fit machen soll für das Ertragen und Erzeugen von Lärm, zerstört sie. Alles, was ein Um … zu mit sich führt, wird von der ökonomischen Vernunft angesteckt und büßt seine Transzendenz ein. Durch ihre Einbeziehung in die Sphäre der Nützlichkeit werden all diese Dinge entzaubert und um ihre Wirkung gebracht. So paradox es klingen mag: Sie wirken nur, solange sie nichts bewirken wollen und sollen. Wir dagegen sollen die Stille aufsuchen, um den Lärm besser ertragen zu können! Statt das Tempo zu drosseln, den Lärm zu reduzieren und die Arbeit menschenförmig zu gestalten, hält sich der entfesselte Kapitalismus am Leben, indem er sich noch die letzten Reservate einverleibt, in denen bislang eine alternative Logik durchgehalten hat. Je brutaler es in der Sphäre der Arbeit zugeht und je mehr die Mitarbeiter aufeinandergehetzt werden, desto mehr ist in den Leitbildern der Firmen von wechselseitiger Wertschätzung und Achtsamkeit die Rede. In der Mittagspause wird zu Powernapping und Yoga geraten.

Henry David Thoreau, der vor 200 Jahren geboren wurde, zog es in die Wälder, wo er „nur den Wind im Schilf flüstern“ und „das Murmeln der Bäche“ hörte. Er würde sich im Grabe rumdrehen, müsste er diese neuen Varianten des Kolonialismus miterleben. Heute drohte er am Ufer des Walden-Sees auf eine Motorsense oder einen Volkshochschulkurs in Turbo-Waldbaden zu treffen.

Amok und Lärm

Ständiger Lärm, so hatte ich gesagt, versetzt den Körper in einen Alarmzustand. Damit ruft er uns die Herkunft seines Namens ins Gedächtnis. Das Wort „Lärm“ leitet sich etymologisch vom italienischen Ausruf „all’arma“ ab, der so viel bedeutete wie: „Zu den Waffen!“ Dieser Ruf war vor allem in den Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts in Gebrauch, aber auch wir Heutigen werden durch Lärm zu den Waffen gerufen, alarmiert, aber zu welchen Waffen sollen wir greifen und gegen wen sie kehren? Uns bleibt gegen Lärm-Attacken nur eine hilflose Defensive: Plastik- oder Wachsstöpsel – mit begrenzter Wirksamkeit und den bekannten Nachteilen. Die Unmöglichkeit, auf eine im Grunde unerträgliche Situation mittels Angriff oder Flucht zu reagieren, wird zur Quelle von Stress, der auf Dauer krank machen kann. Zielgehemmte Aggressionen verwandeln sich in ein chiffriertes Ausdrucksgeschehen. Teilweise entspannen sie sich dabei und bleiben nach außen hin stumm, oder aber sie erzwingen einen Daueralarm vegetativer Leistungen. Wegen der blockierten Handlung kommt es zu einer Aggressionsbereitschaft im physiologischen Bereich, die sich nicht mehr zurückbildet und die Form diverser Krankheiten, zum Beispiel eines chronisch gesteigerten Blutdrucks, annehmen kann.

Angesichts eines Alltags aus Überfüllung, Lärm, Hektik und Nervosität stoßen unsere aggressiven Impulse ins Leere. Die Wut dreht sich im Kreis und wendet sich – je nach Temperament und Charakter – gegen Sündenböcke im Nahbereich (Frauen, Kinder, Haustiere) oder in Gestalt von Krankheiten gegen die eigene Person. Die ins Leere laufende Wut droht sich zum Hass zu verallgemeinern, der nach einem Ausbruch nicht mehr verraucht, sondern wächst und sich versteift, sich in uns einfrisst, unser Wesen verzehrt und schließlich zerstört. Überliefert sind als extreme Reaktionen auf lärminduzierten Stress sowohl Fälle von Selbsttötung als auch raptusartige Gewaltausbrüche, die sich gegen die Lärmquelle oder zufällig gewählte Opfer wenden und die wir „Amok“ nennen. So hat im Oktober 2009 ein 55-jähriger Mann in der Nähe von Paris vier seiner Nachbarn erschossen, deren Neigung zum nächtlichen Feiern ihm offenbar schon länger auf die Nerven gegangen war. Anschließend tötete er sich selbst.

Menschen, die etwas nicht mehr aushalten, ertragen es oft noch lang, bis dann irgendein für sich genommen läppisches Ereignis die ganze gestaute Wut zur Explosion bringt. Michael Douglas hat in dem Film „Falling down“ vorgeführt, wie am Ende ein Verkehrsstau, Hitze und eine Schmeißfliege zu Auslösern eines sich entgrenzenden Hasses werden können, der alles in den eigenen Untergang mit hineinziehen möchte. Vor einiger Zeit stieß ich in der Zeitung auf die Meldung, dass ein Rentner aus dem Elsass aus Zorn über nächtlichen Lärm in eine Gruppe Jugendlicher geschossen und dabei einen von ihnen getötet und einen anderen schwer verletzt hat.

Bedürfnis nach Stille

Der Durchschnitts-Lärmpegel in den Industrieländern ist seit Lessings Zeiten pro Jahr um rund ein Dezibel gestiegen. Hätten wir also nicht triftige Gründe, flächendeckend „Antilärmvereine“ ins Leben zu rufen und angesichts der grassierenden Rücksichtslosigkeit Zeitschriften mit dem Titel Der Antirüpel zu gründen? Es stünde der Linken gut zu Gesicht, Begriffe wie Langsamkeit, Stille und Schweigen kritisch zu besetzen und für sich zu reklamieren.

Also: Weg mit diesen Fastfood-Lokalen und dem im Stehen und Gehen hinuntergeschlungenen Scheißfraß; weg mit den ganzen Fernsehprogrammen mit hohem Verblödungskoeffizienten; weg mit den lärmenden Quads und Soundgeneratoren, den Smartphones und Spielekonsolen; Schluss mit dem motorisierten Individualverkehr, der die Städte an den Rand des Kollapses gebracht hat; weg mit dem Coffee to go in diesen unsäglichen Bechern, von denen in Deutschland stündlich 320.000 verbraucht werden; weg mit den Laubbläsern und Hochgeschwindigkeitszügen und der ganzen sinnlosen Fliegerei von einem gesichtslosen Ort zum anderen. Schluss mit diesem grässlichen, krank machenden Lärm. Das Recht auf Stille wird eine entscheidende Qualität einer neuen Gesellschaft sein, die sich vom Fetisch Wachstum verabschiedet hat und ihren Zusammenhalt nicht auf Geld und Konsum gründet. Wir benötigen stattdessen Tugenden des Unterlassens, Prämien aufs Nichtstun, Kontemplation statt Produktion, Faulheit statt rastlosem Tun. „Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen“, schrieb Adorno in seinem Buch Minima Moralia. Rund einhundertzwanzig Jahre früher lässt Büchner in Leonce und Lena den Valerio, einen Gefährten von Leonce, der eigentlich ein Vagabund und früher Anarchist ist, sein Programm in deftiger Sprache und ohne akademische Krawatte so formulieren: „Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht.“ Valerio setzt hinzu: „Und ich werde Staatsminister, und es wird ein Dekret erlassen, dass, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird; dass, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; dass jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft für gefährlich erklärt wird; und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!“

Herbert Marcuse hielt den Lärm für die akustische Begleitung eines im Kern gewaltförmigen und destruktiven kapitalistischen Fortschritts, das Bedürfnis nach Ruhe für ein revolutionäres Ferment und Stille für eine wesentliche Qualität einer befreiten Gesellschaft. In einem 1968 geführten Gespräch „Über Revolte, Anarchismus und Einsamkeit“ sagte er: „Es gibt keine freie Gesellschaft ohne Stille, ohne einen inneren und äußeren Bereich der Einsamkeit, in dem sich die individuelle Freiheit entfalten kann.“

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
2019
, Seite 3
Autor/inn/en:

Götz Eisenberg:

Geboren 1951, ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er ist Mitinitiator des Gießener Georg-Büchner-Clubs. Eisenberg arbeitet an einer „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, deren dritter Band unter dem Titel „Zwischen Anarchismus und Populismus“ 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

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