Einige der genannten Vorhaben stützen sich auf die Umverteilungsstudie des WIFO, die auf Anregung des Nationalrats und im Auftrag des Finanzministeriums durchgeführt wurde.
Bereits nach deren Präsentation im August wollte Ex-Kanzler Vranitzky prüfen lassen, „wo es möglich ist, sozial zu staffeln“. Dabei nannte er Familienleistungen und die Mitversicherung von Haushaltsangehörigen. Die Reaktion von Vizekanzler Schüssel fiel erwartungsgemäß aus. Über Staffelungen der Familienleistungen könne man mit ihm reden, allerdings will er nicht zu einkommensschwachen, sondern kinderreichen Familien umverteilen. Zurückgewiesen hat er das Ansinnen, die Mitversicherung bei höheren Einkommen in Frage zu stellen. Dennoch trat nun Ex-Sozialminister Hums mit diesem Vorhaben an die Öffentlichkeit, wohl um einen Beitrag zur Profilierung der Sozialdemokratie als Partei der „Verteilungsgerechtigkeit“ zu leisten.
Untersucht wurde vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung die „Umverteilung durch öffentliche Haushalte in Österreich“. Der generelle Befund lautet, daß trotz einer auf die OECD bezogen überdurchschnittlich hohen Abgabenquote die Umverteilungswirkung vergleichsweise gering
Stephan GANGLBAUER ist. Die Gründe dafür sind: die Höchstbeitragsgrundlage zur gesetzlichen Sozialversicherung, ein gegenüber dem OECD-Durchschnitt deutlich niedrigerer Anteil der Einkommenssteuern (um knapp 12 Prozent) und (bis zu deren Abschaffung) der Vermögenssteuer (nur halb so hoch) am gesamten Steueraufkommen, der hohe Anteil der indirekten (Umsatz-) Steuern auf Konsumgüter und Dienstleistungen. „Die Schweiz, USA und Japan — Länder mit geringer genereller Steuerbelastung und niedrigen Steuersätzen — weisen dagegen mit einem Anteil an Einkommens- und Ertragssteuern von über 40 Prozent (gegenüber 27 Prozent in Österreich) und hohen Vermögenssteueranteilen, aber geringen indirekten Steuern eine sehr progressive Steuerstruktur aus“, heißt es im Bericht. Die Umverteilungswirkung kommt in Österreich generell dadurch zustande, daß die oberen Einkommensschichten zwar von den Transferleistungen des Staates pro Kopf im allgemeinen ebensoviel erhalten wie die unteren Einkommensschichten, doch weniger als sie einbezahlt haben, während es sich bei ärmeren Haushalten umgekehrt verhält. Das gilt aber nicht für alle Transferleistungen: „Eindeutig mehr profitieren die oberen Einkommensschichten von den direkten Wirkungen der Ausgaben für das Hochschulwesen und von der Wohnbauförderung — darüber hinaus auch noch für die Ausgaben für die Zinszahlungen für die Staatsschuld, den Straßenverkehr und die Kultur. Die Zinszahlungen für die Staatsschuld fließen zu mehr als zwei Drittel an das obere Haushaltsdrittel.“
Damit ist ein grundlegendes Folgeproblem unbeabsichtigter Umverteilungswirkungen schuldenfinanzierter staatlicher Beschäftigungs- und Konjunkturpolitik angesprochen. Während die (um die Verschiebung des Anteils der Unselbständigen an allen Erwerbstätigen) bereinigte Lohnquote seit 1970 relativ stabil geblieben ist, haben sich innerhalb der Nichtlohneinkommen gravierende Anteilsverschiebungen ergeben: „Während 1970 die Gewinneinkommen (Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, freiberuflicher Tätigkeit und unverteilte Gewinne der Kapitalgesellschaften) noch 90 Prozent der Einkünfte aus Besitz und Unternehmung ausgemacht hatten, belief sich ihr Anteil in den neunziger Jahren nur mehr auf rund 70 Prozent. Der Anteil der Besitzeinkommen ist dagegen im gleichen Zeitraum von 7 Prozent auf 25 Prozent gestiegen. Die Besitzeinkommen nahmen in diesen zwei Jahrzehnten um das 18-fache zu, die Gewinneinkommen nur um das 4-fache.“ Ab Anfang der achtziger Jahre entwickelten sich Gewinnentwicklung und Investitionsbereitschaft deutlich auseinander. Auch in Österreich, so das Ergebnis einer in der genannten Studie angeführten Bilanzanalyse, expandierte der Anteil des Finanzanlagevermögens von Industrieunternehmen an ihrem Gesamtvermögen zu Lasten des Sachanlagevermögens seit Mitte der siebziger Jahre rasch. „Der Anteil der Finanzanlagen an der Bilanzsumme der Großunternehmen der österreichischen Industrie stieg von 11,5 Prozent 1973 auf 15,7 Prozent 1980 und danach doppelt so rasch auf 24 Prozent im Jahr 1988.“ Für diese Entwicklung waren zwei Gründe maßgeblich. Der Zuammenbruch des Systems von Bretton Woods 1971 bedeutete das Ende eines festen Wechselkurssystems. Daraus entstanden die in astronomische Höhen getriebenen Währungsspekulationen. Zur Ausdehnung der Finanzmärkte in Größenordnungen von bald annähernd dreistelligen Dollarbillionenbeträgen trugen maßgeblich die ursprünglich zur Sicherung von Wechselkursrisiken dienenden sogenannten derivativen Finanzgeschäfte bei. 1993 hat nach Schätzungen der Bank für internationalen Zahlungsausgleich der Derivatenhandel an den Börsen ein Volumen von rund 8 Billionen Dollar erreicht, zu dem ein etwa gleich hoher Umsatz außerbörslicher Derivatengeschäfte hinzukommt. Der zweite Grund ist in der seit dem Kriseneinbruch Mitte der siebziger Jahre im wesentlichen unabhängig von der Zusammensetzung der Regierungen betriebenen Politik des deficit spending zusammen mit der schuldenfinanzierten Industrialisierungspolitik der sogenannten Schwellenländer zu sehen. Damit stieg die Nachfrage nach Geldkapital stark an, was eine Verteuerung der Kredite bewirkte, und das bedeutet: steigende Renditen für Finanzanlagen.
In den oben angeführten Zahlen drückt sich ein Wandel aus, der vom Paradeliberalen Ralf Dahrendorf, also keineswegs von prinzipiell kapitalismuskritischer Seite, als Übergang zum „Casino-Kapitalismus“ bezeichnet wurde. Zusammen mit der raschen Entwicklung weltumspannender Informations- und Kommunikationstechnologien bringt die enorme Ausweitung der Finanzmärkte sowohl eine rasante Beschleunigung der Akkumulationsprozesse im globalen Maßstab mit sich als auch kaum noch behinderte Mobilität von Kapital. Die Frage ist zwar nicht neu, doch stellt sie sich dringlicher denn je, ob an diese Vorgänge und an deren Folgen in irgend aussichtsreicher Weise das Kriterium der Gerechtigkeit angelegt werden kann und ob diese überhaupt moralischen Urteilen zugänglich sind. Aufschlußreich ist, was die Apologeten hoher Kapitalrenditen anführen, beispielsweise über die Wirkungszusammenhänge von Vorgängen auf den Finanzmärkten und Entwicklungen der Beschäftigtenquote. Immerhin handelt es sich weder um zufällige noch einmalige Ereignisse, daß die New Yorker Aktienkurse steigen, wenn höhere Arbeitslosenzahlen gemeldet werden, und sie zu sinken pflegen, wenn Lohnsteigerungen bekannt werden. In solchen Wirkungszusammenhängen gibt sich zu erkennen, wofür ein Vokabel steht, das hierzulande vor zwei Jahren noch unbekannt war. Auf den Finanzmärkten wird tatsächlich der Vorrang des shareholder value gegenüber allen anderen Interessenten im ökonomischen Geschehen durchgesetzt. Die Apologeten dieser Entwicklung nennen es gerecht, daß die Risiken der Geldanlagen mit entsprechend hohen Renditen belohnt werden. Überdies sei es gesamtwirtschaftlich zweckmäßig und rational, weil nur auf diesem Weg der effektivste Einsatz der Mittel zu gewährleisten sei. Hinzu kommt das entscheidende Argument. Es ist pragmatischer Natur und besagt: Die globalisierte Konkurrenz erzwinge höchst ertragreiche Anlagemöglichkeiten zur „Standortsicherung“.
„Herrenlose Sklaverei“
Bereits Max Weber hielt, nicht zufällig im Kapitel über „Herrschaftssoziologie“, fest: „Im Gegensatz zu allen anderen Herrschaftsformen ist die ökonomische Kapitalherrschaft ihres ,unpersönlichen‘ Charakters halber ethisch nicht reglementierbar. Sie tritt schon äußerlich meist in einer derart ,indirekten‘ Form auf, daß man den eigentlichen ,Herrscher‘ gar nicht greifen und ihm daher auch nicht ethische Zumutungen stellen kann. Man kann an das Verhältnis des Hausherrn zum Dienstboten, des Meisters zum Lehrling, des Grundherrn zum Hörigen oder Beamten, des Herrn zum Sklaven, des patriarchalen Fürsten zu den Untertanen, weil sie persönliche Beziehungen sind (...), mit ethischen Postulaten herantreten und sie inhaltlichen Normen zu unterwerfen suchen (...) Dagegen sehr schwer das Verhältnis des Direktors einer Aktiengesellschaft, der die Interessen der Aktionäre als der eigentlichen ,Herren‘ zu wahren verpflichtet ist, zu den Arbeitern von deren Fabrik und gar nicht dasjenige des Direktors der die Aktiengesellschaft finanzierenden Bank zu jenen Arbeitern (...) ,sachliche‘, weder ethische noch antiethische, sondern einfach anethische, jeder Ethik gegenüber disparate Erwägungen bestimmen das Verhalten in den entscheidenden Punkten und schieben zwischen die beteiligten Menschen unpersönliche Instanzen. Diese ,herrenlose Sklaverei‘(...) ist nur als Institution ethisch diskutabel (...)“ (Wirtschaft und Gesellschaft, 708f.).
1875 notierte Karl Marx in den „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“: „Behaupten die Bourgeois nicht, daß die heutige Verteilung ,gerecht‘ ist? Und ist sie in der Tat nicht die einzige ,gerechte‘ Verteilung auf Grundlage der heutigen Produktion?“ (MEW Bd. 19, 18). Die Bemerkung war gegen die Forderungen nach „gerechtem Lohn“ und „dem vollen Arbeitsertrag“ gerichtet und sie war konsequent im Sinn seiner früh schon unüberbietbaren Verachtung für die moralische Empörung, die „ultima ratio des mit sich selbst einigen Egoisten“, als welche diese in der Deutschen Ideologie gekennzeichnet wird (MEW Bd. 3, 387). Und davor schon hieß es in der Heiligen Familie, der mit Engels gemeinsam verfaßten Polemik gegen die moralisierende „kritische Kritik“, es handle sich hierbei um eine idelle Erhebung über die Welt, welche der ideologische Ausdruck der Ohnmacht der Philosophen gegenüber der Welt sei (ebenda 363). Die Empörung sei alles, nur keine Tat; und: „Die Philosophie der Empörung (...) ist in letzter Instanz nichts als eine bramarbasierende Apologie der Parvenuewirtschaft (Parvenu, Emporkömmling, Emporgekommener, Empörer). Jeder Empörer hat (...) ein spezielles Bestehendes sich gegenüber, worüber er sich zu erheben strebt, unbekümmert um die allgemeinen Verhältnisse. Er sucht das Bestehende nur, insoweit es eine Fessel ist, loszuwerden, im Übrigen dagegen sucht er es sich vielmehr anzueignen.“ [1]
Von solchen in großer Zahl beibringbaren Belegen für Marxens beißenden Hohn über die moralisierenden „Philosophen“ sollte sich niemand darüber täuschen lassen, daß sein Wirken und sein Werk getragen ist von den zeitgenössisch zahlreichen und vielfältigen Beleidigungen eines intakten Gerechtigkeitsempfindens. Zu beachten ist, daß sich die Polemiken gegen die „Philosophen der Empörung“ richten, nicht aber gegen wirkliche Erhebungen wie in der französischen Revolution, in der das Levons-nous! gegen die Selbsterniedrigung gerichtet war, aus der heraus die Großen erst groß erscheinen würden. [2]
Klassenverhältnisse
Sowohl die Verachtung für die Maulhelden und die Hochschätzung für diejenigen, die wirkliche Freiheitskämpfe führen, als auch die Einsicht in die Verselbständigung der von den Menschen hervorgebrachten Produktionskräfte teilt Max Weber mit Karl Marx. Dieser betonte: Nicht als wirkliche Menschen, sondern als Mitglieder der verschiedenen Klassen, denen sie wesentlich aber nur als Durchschnittsindividuen angehörten, würden sie gemeinschaftliche Verhältnisse bilden, bedingt durch ihre gemeinschaftlichen Interessen gegenüber Dritten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, wofür die Rede von der sachlichen Macht des Geldes nur ein anderer Ausdruck ist, [3] hätten sich verselbständigt auch gegenüber den Mitgliedern der herrschenden Klasse, wenngleich diese ihr Leben in der Selbstentfremdung erträglich einzurichten in der Lage seien. Damit habe jene scheinbare Albernheit zu tun, welche die mannigfaltigen Verhältnisse der Menschen zueinander in das eine Verhältnis der Brauchbarkeit auflöse, diese scheinbar metaphysische Abstraktion gehe daraus hervor, daß innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft alle Verhältnisse unter das eine abstrakte Geld- und Schacherverhältnis praktisch subsumiert seien (...) „Die eigentliche Wissenschaft dieser Nützlichkeitstheorie ist die (zur besonderen Fachwissenschaft erhobene, Anm. S.G.) Ökonomie; in den Physiokraten erhält sie ihren wahren Inhalt, da diese zuerst die Ökonomie systematisch zusammenfassen (...) Die vollständige Subsumtion aller existierenden Verhältnisse unter das Nützlichkeitsverhältnis (...) finden wir erst bei Bentham, wo nach der französischen Revolution und der Entwicklung der großen Industrie die Bourgeoisie nicht mehr als eine besondre Klasse, sondern als die Klasse auftritt, deren Bedingungen die Bedingungen der ganzen Gesellschaft sind“ (MEW Bd. 3, 397f.).
Mit gutem Grund polemisierte Marx gegen „die guten Menschen“, gegen jene moralisierenden Empörer, die nicht zu begreifen in der Lage sind, daß an sachliche Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse ethische Ansprüche nicht gestellt werden können. Sie können keinen Adressaten finden als imaginierte Personifikationen dieser Verhältnisse. Bei Marx zurückgetreten und in der Rezeption verlorengegangen ist der zunächst noch betonte Unterschied „zwischen dem Leben jedes Individuums, soweit es persönlich ist und insofern es unter irgendeinem Zweig der Arbeit und die dazugehörigen Bedingungen subsumiert ist“. Ausdrücklich wird dazu erläutert: „Dies ist nicht so zu verstehen, als ob zum Beispiel der Rentier, der Kapitalist pp. aufhörten, Personen zu sein; sondern ihre Persönlichkeit ist durch ganz bestimmte Klassenverhältnisse bedingt und bestimmt, und der Unterschied tritt erst im Gegensatz zu einer andern Klasse und für sie selbst erst dann hervor, wenn sie bankrott machen“ (ebenda 76). „Die Arbeit“, genauer: die freie Lohnarbeit, ist auf dieser höchsten Abstraktionsstufe nicht weniger die Existenzbedingung der Lohnarbeiter als die der Kapitalisten. Wiewohl ihre Stellung in diesem Verhältnis die der Verfügenden, der Inhaber der Befehlsgewalt gegenüber den von ihnen in Arbeitskontrakt genommenen Arbeiter ist, [4] vermögen sie doch nicht, weder im Verband miteinander noch gestützt auf die Staatsmacht, den Gesamtprozeß der Kapitalverwertung zu beherrschen und unter ihre Kontrolle zu bringen.
Es ist in sich stimmig, daß Marx keine Idee der Gerechtigkeit vor sich her trägt, sondern sie implizit entwickelt als (das kommunistische) Ideal einer gerechten, das ist eine den wirklichen Menschen mit allen ihren Eigenarten, in ihrer Verschiedenheit gerecht werdenden, Ordnung, die in eins fallen würde mit der freien Gesellschaft, das wäre die Gemeinschaft mit allen anderen, worin jedes Individuum die Mittel hätte, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden, worin so verstandene persönliche Freiheit erst möglich wäre. Marxens Werk ist zu entschlüsseln als Ausfluß ungebrochenen Vernunftglaubens, der allerdings nicht mehr meinte, die Ordnungen der Welt ließen sich nach einer vernünftigen Idee gestalten, sondern vermeinte, die gesellschaftlichen Kräfte identifiziert zu haben, die aus ihrer Lage heraus geradezu dazu gezwungen wären, mit der Durchsetzung ihrer Interessen zugleich die Befreiung der gesamten Menschheit von Herrschaft, Not und selbstgeschaffenem „Sachzwang“ zu bewirken. Bei Marx ist die vernünftige Ordnung identisch mit gesellschaftlichen Verhältnissen gedacht, worin die Menschen sich keinen, seiner Auffassung nach letztlich aus Armut resultierenden Entwicklungsschranken gegenübersehen würden. Dies ist bei ihm weder als „Himmelreich philosophischer Ideen“ vorgestellt, also nicht mehr als ein Ideal, wonach sich die Wirklichkeit zu richten hätte, noch als lokal begrenzter und „roher Kommunismus“. Ein hoher Grad der Entwicklung der Produktivkräfte sei „auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige immer wieder beginnen (...) müßte“ (MEW Bd. 3, 34f.). Den „noch ganz rohen und gedankenlosen Kommunismus“ seiner Zeit hält er für noch in der „Kategorie des Habens“ befangen, was verursacht sei durch die Herrschaft des Privateigentums.
Die gegenwärtig häufig zu hörende Rede von den Zwängen zur „Standortsicherung“ wird selbstverständlich zur Durchsetzung der spezifischen Interessen an Gewinnmaximierung benützt. Doch liegt es keineswegs allein im Ermessen von Kapitaleignern, ob sie unter tatsächlich verschärften Konkurrenzverhältnissen den Zwängen zur Steigerung der Renditen gehorchen. Marx analysierte das Kapitalverhältnis immer schon als ein sachliches, „der Kapitalist“ galt ihm nicht als wirkliche Person, sondern als „Charaktermaske“, als ein Individualitätstypus, der bei Strafe seines Untergangs als Agent des Akkumulationsprozesses von Kapital den Funktionserfordernissen Genüge tun müßte. Seither hat sich jener Prozeß soweit funktionell und institutionell ausdifferenziert, vertieft und verallgemeinert, daß Privateigentum an Großkapital in gewisser Weise tatsächlich herrenlos und anonym geworden ist. Symptomatisch dafür ist, daß die Karikatur mit Zigarre und Melone hoffnungslos anachronistisch geworden ist, ein anderes Sinnbild jedoch nicht gefunden wurde, wohl auch nicht wird, wiewohl einige „Reiche und Superreiche“ bekannt sind.
Gefährdetes Wohlstandsniveau
Da nun die erreichten Wohlstandsniveaus in den reichen Ländern gefährdet scheinen, hält sich die Ohnmacht gegenüber den Verwertungszwängen an die sichtbaren Repräsentanten des Systems, an die Politiker also, die in besseren Jahren den ökonomischen Erfolg für sich reklamiert haben. Prekär wird die Situation absehbar dann, wenn die verschiedenen Sozialleistungen in der bisherigen Form ganz einfach nicht mehr finanzierbar sein werden. Das gilt für die Alterssicherung, die Krankenversicherungen und die Arbeitslosenversicherung. Aus verschiedenen Gründen geht bei allen drei Systemen die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben weiter auseinander. Es bedarf keines prognostischen Scharfsinns, um das Ende der herkömmlichen Sicherungssysteme, das heißt mit etwa gleichbleibenden Anspruchsberechtigungen vorauszusehen.
An den gegenwärtigen politischen Veränderungen ist ablesbar, daß die Bereitschaft, sich für ein höheres Maß an gerechter Verteilung des nach wie vor großen Reichtums zu engagieren, erheblich geringer ist als die Bereitwilligkeit zur Gefolgschaft für denjenigen, der behauptet, er würde „Ordnung schaffen“ und „Sicherheit bieten“. Die SPÖ ist zu lange führend an der Regierung beteiligt, als daß ihr großes Vertrauen entgegengebracht würde, wenn sie nun den Mangel an sozialer Gerechtigkeit zu ihrem Thema zu machen versucht. Zumal sie seit Vranitzkys Kanzlerschaft das dem Gerechtigkeitsempfinden zugehörige Protestideal der Gleichheit eher zu desavouieren beigetragen hat, als daß sie Egalität glaubhaft vertreten hätte gegen den vordringenden Neoliberalismus. Nicht zuletzt deshalb gelingt es Haider so leicht, die Empörung derer zu bedienen, deren Gerechtigkeitsgefühl so weit reicht wie das der „Empörungsphilosophen“, denen Marx mit Verachtung begegnete. Intaktes Gerechtigkeitsempfinden bewährt sich durch die Wahrnehmung des Unrechts, das anderen zugefügt wird, dessen Beseitigung die eigenen Annehmlichkeiten womöglich beeinträchtigt. Eine „objektive“ Grenze zur Selbstgerechtigkeit gibt es nicht und kann es sowenig geben wie eine allgemeine Defintion dessen, was gerecht ist. Gerechtigkeit ist eine Frage der Urteilskraft, die (scheinbar paradox) immer subjektiv und nie beliebig ist. Ob Institutionen und politische Gruppierungen die Bildung erweiterter Denkungsart fördern oder behindern, ist eines der wesentlichen Kriterien zu deren Beurteilung im Hinblick auf ihre Rolle in den Auseinandersetzungen darum, wie eine den wirklichen Menschen gerecht werdende Ordnung ihres Zusammenlebens geschaffen werden könne.
Hinsichtlich der SPÖ muß diesbezüglich auf Züge nostalgischer Verklärung der Kreisky-Ära aufmerksam gemacht werden. Bereits die letztmalige absolute Mehrheit bei Nationalratswahlen hatte die SPÖ keineswegs mit Gerechtigkeitsforderungen, sondern maßgeblich deshalb errungen, weil ihr noch zugetraut wurde, sie könnte Sicherheit gewährleisten. Damals erschien in der Juniausgabe nach Kreiskys größtem Wahlsieg vom 6. Mai ein Beitrag in der »Zukunft«, in dem kritisch vermerkt wurde: „Sicherheit hatte eine jener sozialdemokratischen Wahlparolen gelautet, die wahrscheinlich viel zum unerwartet großen Erfolg des 6. Mai beigetragen hat. Aber ,Sicherheit‘ ist eine Losung, die ansonsten von konservativen Parteien bevorzugt wird, und die sich eigentlich schlecht mit dem Willen zur Veränderung der Gesellschaftsordnung verträgt: Denn Veränderungen bringen naturgemäß auch Risken und Unsicherheiten mit sich“ (»Zukunft« 6/1979, 26).
Der Beitrag stammt von Josef Cap, der in weit kürzerer Zeit ebenso in Vergessenheit geraten ist, wie sein damaliger Gedanke. Oder wie hieß das zentrale Thema der Wiener SPÖ im Gemeinderatswahlkampf 1996?
[1] MEW Bd. 3, 366. In der 1847 erschienenen Polemik gegen einen anderen Moralisten stellt Marx den „dünkelhaften Grobianis- mus des ,gesunden Menschenverstandes‘“ bloß, der Banalitäten ausposaunt, die er als ewige Wahrheiten und unerschütterliche Dogmen ausgeben möchte. So „schafft er sich die erwünschte Situation, seine moralische Entrüstung über die ,Blindheit‘, ,Torheit‘ oder ,Schlechtigkeit‘ der Widersacher solcher Glaubensartikel auszuschütten - ein Selbstgenuß, der in seinen polternden Expektorationen zugleich den rhetorischen Brei hergeben muß, worin die paar dürftigen, knöchernen Wahrheiten schwimmen“ (MEW Bd. 4, 340).
[2] Das Levons-nous! war eine Parole der von Juli 1789 bis Februar 1794 erschienenen revolutionär-demokratischen Wochenschrift »Revolutions de Paris«. Die Selbstaufforderung stand wörtlich in folgendem Kontext: „Die Großen erscheinen uns nur deshalb groß, weil wir selbst auf den Knien liegen. Erheben wir uns!“ (zitiert nach: MEW Bd. 3, Anm. 138, 562).
[3] Bd. 3, 380f.: „In der Macht des Geldes, in der Verselbständigung des allgemeinen Tauschmittels, sowohl der Gesellschaft wie den Einzelnen gegenüber, tritt die Verselbständigung der Produktions- und Verkehrsverhältnisse überhaupt hervor.“
[4] Im ersten Band des Kapitals findet sich auch folgende Formulierung: „nicht genug, daß die Arbeitsbedingungen auf den einen Pol als Kapital treten und auf den andren Pol als Menschen, welche nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft (...) Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt“ (MEW Bd. 23, 765).