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Friedrich Margreiter

Tirol: Dicke Luft

Wald und Mensch gefährdet

Für den Laien oft nicht erkennbar, weiß der Fachmann: Bruder Wald ist auch in Tirol in Not! Sind in ganz Österreich 15% des Waldes geschädigt, so sind es in Tirol im Schnitt erst 8%, in einzelnen Forstbezirken jedoch ist das Waldsterben schon unfaßbar weit fortgeschritten. Hinter dem Fremdenverkehrsprospekt-Tirol schaut es mit dem Wald und der Luft im „heiligen Land“ düster aus.

Stromstadt mit Nordkette — Wall(nöfer)fahren

Im Bereich der Forstinspektion Kufstein sind insgesamt 22% des Waldes geschädigt, in einzelnen Orten, die vor allem im Inntal liegen, bereits mehr als die Hälfte:

Waldschadensflächen in Prozent (Forstbezirk Kufstein):
Schwoich 48%
Langkampfen 24%
Kufstein 51%
Ebbs 33%
Niederndorf 49%
Erl 26%
Ellmau 9%
Scheffau 19%
Söll 26%
Niederndorferberg 25%
Rettenschöß 22%
Walchsee 17%
Thiersee 9%

Das Waldsterben vollzieht sich hauptsächlich in Höhen zwischen 500 und 1000 Metern und vorwiegend im Inntal, ist also „hausgemacht“. Im Inntal zwischen Telfs und Kufstein leben drei Viertel der Tiroler Bevölkerung, hier ist der Großteil der Tiroler Industrie angesiedelt. Die Inntalautobahn ist eine der frequentiertesten Autobahnen Europas: rund 30.000 Fahrzeuge benutzen sie täglich, davon sind 6.000 LKW, dazu kommt noch die stark befahrene Bundesstraße. Die Topographie des „Landes im Gebirge“ führt dazu, daß die mit giftigen Abgasen angereicherte Luft oft nicht aus dem Tal kann. Der Smog hängt oft wochenlang über der ganzen Länge von 80 Kilometern von Kufstein bis Innsbruck.

Im Naherholungswald „Elfenhain“ am Stadtrand von Kufstein gibt es keine einzige intakte Fichte mehr. Die kranken Bäume haben eine herbstliche Färbung, die Entnadelung von innen nach außen ist weit fortgeschritten: der Nadelverlust beträgt 30-50%. Aber auch Kiefern, Buchen (seit 1983) und Eschen sind betroffen.

Schlimmer mit dem Wald sieht es nur mehr im „Rauchschadensgebiet“ (Definition in einem Bericht des Bundesinstitutes für Gesundheitswesen) Brixlegg aus: hier sind 94% des Waldes geschädigt, hier liegt das einzige Stück Wald in Tirol, das bereits vollkommen abgestorben ist. Außer Efeu und Rasenschmiele wächst hier nichts mehr! Zur allgemeinen Belastung kommen in dieser Gegend noch die SO2- und Schwermetallemissionen der Kupferhütte Brixlegg (Montanwerke) hinzu.

Die Forstbehörde hat in den Gebieten Brixlegg, Reith, Münster und Kramsach (zum Forstbezirk Rattenberg/Wörgl zählend) nicht weniger als 1.080 ha Wald untersucht. Das Ergebnis ist schockierend: 784 ha sind stark geschädigt, 262 hahaben bereits leichte oder mittlere Schäden und nur mehr 34 ha Wald konnten als gesund bezeichnet werden. Von den schwer geschädigten Bäumen (73% des Bestandes) werden im Laufe der Zeit 20-30% Dürrlinge und mit ziemlicher Sicherheit absterben, so Oberforstrat Dipl.Ing. Herbert Riedl von der Forstinspektion.

Im allgemeinen, so stellte Riedl fest, weist der Wald in diesem Forstbezirk zu über 20% bereits starke Immissionsschäden auf, weitere 20% haben leichte Schäden durch die Luft- und Umweltverschmutzung.

Auf wieviele Bäume nun der Tod wartet, läßt ein kleines Zahlenspiel erahnen. Pro Hektar werden durchschnittlich 3.500 bis 4.000 Bäume stehen. Nehmen wir an, in einem Mischwald stehen 1.500 Bäume/ha, und 20-30% der untersuchten Bäume werden voraussichtlich absterben, dann kommen wir im Gebiet Brixlegg und Umgebung auf die unglaubliche Zahl von über 300.000 Bäumen, die zu Dürrlingen werden.

Obwohl es viele immer noch nicht wahrhaben möchten: der Wald stirbt in Tirol — und neben dem materiellen Verlust ist der Verlust an Landschaft, an Schönheit, an Lebensqualität unermeßlich und unersetzbar. Vor 10-15 Jahren hat es im Erzgebirge ähnlich ausgesehen wie bei uns heute — und in der CSSR stehen zur Zeit 1 Million Festmeter Holz „trocken“, d.h. es stehen nur mehr dürre Stämme als Baumruinen in der Landschaft — Wallfahrtsziel zahlreicher beunruhigter Politiker und Verantwortlicher auch aus Tirol. Bei uns wird es in 10-15 Jahren ebenso ausschauen, wenn nicht rasch Maßnahmen zur Rettung des: Waldes ergriffen werden.

Der Holzzuwachs am Baum sank in den letzten Jahren drastisch: als im Vorjahr eine 130jährige Fichte im Bannwald Fürhölzl bei Kufstein geschlägert wurde, konnte festgestellt werden, daß in den letzten 10 Jahren ein Jahresring im Schnitt nur mehr 1,2 mm ausmachte. In den 30 Jahren vorher waren es 2,3 mm jährlich — der Zuwachs hat sich also halbiert, und damit auch der Ertrag für den Waldbesitzer.

75% des Waldes sind in bäuerlicher Hand, beinahe jeder Bauernhof steht zur Existenzsicherung mit einem Bein im Wald. 1983 wurden im Tiroler Wald insgesamt 873.548 Erntefestmeter Holz genutzt. Der Wert des Holzeinschlages wird mit 895,39 Millionen Schilling angenommen.

Tirol hat die Waldentwicklungspläne im Sinne des Forstgesetzes bereits fertiggestellt. In diesen Plänen wurden auch die Vorrangfunktionen für Nutz-, Schutz-, Erholungs- und Wohlfahrtsleistung des Tiroler Waldes ausgewiesen. Die Tabelle zeigt die Verteilung dieser Funktionen:

Vorrang für:
Schutzfunktion 51%
Nutzfunktion 45%
Erholungsfunktion 3%
Wohlfahrtsfunktion 1%

Wenn auch der Vorrang für Erholungs- und Wohlfahrtsfunktion flächenmäßig klein ist, so ist dabei besonders zu bedenken, daß diese beiden Funktionen vom überwiegenden Teil des gesamten Waldes erbracht werden, auch wenn dabei Nutz- oder Schutzfunktion Vorrang genießen.

Im vernetzten Ökosystem Wald verursachen Immissionsschäden nicht nur Funktionsverluste, sondern auch zusätzliche Gefährdung: Das aus der Vitalitätsverminderung resultierende Forstschutzrisiko ist heute in seinem ganzen Umfang noch nicht erkannt. Der Tiroler Wald ist im wesentlichen ein Ökosystem mit einer Baumartenzusammensetzung, die vom natürlichen Optimum nicht weit entfernt ist. Solche Waldbestände sind gegenüber tierischen und pilzlichen Schädlingen widerstandsfähig, weil sie noch über ein starkes Selbstregulierungsvermögen verfügen. Das ist auch die Ursache dafür, daß es im Tiroler Wald bisher keine ausgedehnten Insekten- oder Pilzschäden gibt, die in vielen anderen Ländern Anlaß für massive chemische Bekämpfungsmaßnahmen sind. Wenn der Wald aber großflächig durch Immissionseinflüsse vorgeschwächt ist, dann schwindet seine Widerstandskraft und auch sein Selbstregulierungsmechanismus leidet Schaden. Tirols Landesforstdirektor Dipl. Ing. Herbert Scheiring, der den Zustand des Tiroler Waldes solcherart beschrieb und genau kennt, zur Notwendigkeit umweltentlastender Maßnahmen: „Mutige, verantwortungsbewußte und weitblickende Entscheidungen sind verlangt!“

Blickpunkt: Vor (dem) Arlberg

Die Leiden des Menschen

Die dicke Luft, die es in Tirol in manchen Landesteilen gibt, schädigt jedoch nicht nur den Wald und das gesamte Ökosystem, sondern auch den Menschen. Genauso wie die Umweltgifte Schwefeldioxid, Stickoxide, Stäube, Schwermetalle, Kohlenwasserstoffe, Chlorwasserstoff, Fluorwasserstoff, Ozon u.a. den Bäumen die Luft nehmen, nehmen sie sie auch den Menschen.
Der Ablauf der Schädigungen gleicht sich fatal.

Baum:

  1. Ein Geflecht von feinsten Wachsröhrchen schützt die 500 Atmungs-Öffnungen jeder Nadel.
  2. Durch Einwirkung von Ozon z.B. wird das Wachs geschädigt — Schädlinge breiten sich aus, das Geflecht verklebt.
  3. Das Schutzgeflecht fällt ab, die Atmungsöffnungen sind ungeschützt, Nährstoffe werden ausgewaschen.
  4. Der saure Regen verbindet sich mit dem ausgewaschenen Calzium, Gipskristalle bilden sich, Nadeln und Baum ersticken.

Mensch:

  1. In der menschlichen Luftröhre sorgen Flimmerhärchen dafür, daß feste Fremdkörper wieder zur Nase zurücktransportiert werden.
  2. Geringste Schadstoffmengen wie Schwefeldioxid oder Kohlenwasserstoffe greifen die Flimmerhärchen an und zerstören sie.
  3. Auf dem schutzlosen Gewebe reichern sich die Giftstoffe an. Das Gewebe verändert sich, der Mensch wird anfälliger für Infektionen.
  4. Durch kontinuierliche Schadstoffaufnahme kann es zu Gewebswucherungen kommen.

Längst haben Untersuchungen bewiesen: Je stärker die Luftverschmutzung und die Waldschäden, umso häufiger die Atemwegserkrankungen. Mehr als 10 Jahre alt ist z.B. die Studie des Frankfurter Kinderarztes Dr. Steffen W. Bender. Umfangreiche Messungen erlaubten ihm den Nachweis, daß Pseudo-Krupp-Anfälle (krampfartiger.
Husten bei Kindern) dann gehäuft auftreten, wenn besonders hohe SO2-Werte in der Luft gemessen werden. Der Hustenstreß für ein Baby wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es, bezogen auf Gewicht und Körperoberfläche, doppelt soviel Sauerstoff braucht wie ein Erwachsener.

Tirols Schwerpunkte in Bezug auf schlechte Luft sind Innsbruck, Brixlegg, Kufstein und der Raum St. Johann-Kitzbühel. Während es im Innsbrucker Gemeinderat hitzige Debatten vor der Veröffentlichung der Ergebnisse der Luftgütemessungen gab, weil die Stadtväter um den Fremdenverkehr fürchteten, müssen Brixlegger Bürger in ihre Häuser flüchten, wenn die SO2-Schwälle drei- bis viermal am Tag aus den Montanwerken über den Ort driften. Zitat aus einem Bericht der messenden Behörde des Landes Tirol an die Gemeinde Brixlegg: „Wegen des nunmehr gehäuften Auftretens dieser Spitzenbelastungen stellt die Immissionssituation in und um Brixlegg längerfristig eine unmittelbare Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung dar. Zusätzlich erschwerend ist zu berücksichtigen, daß ein Teil der als SO2 registrierten Belastung in Wirklichkeit als SO, bzw. H2SO2, also reine Schwefelsäure, vorliegt. Dies bedeutet eine starke weitere Erhöhung des Gefährdungspotentiales der menschlichen Gesundheit.“ Im Juni 1983 unterzeichneten dreizehn Ärzte aus Brixlegg und Umgebung eine gemeinsame Resolution, in der sie feststellten, daß „im Raum Brixlegg durch sehr hohe Schwermetall- und Schwefeldioxidwerte eine Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung gegeben ist.“

Als das Nachrichtenmagazin „profil“ in der Nummer 43 vom 22. Oktober 1984 einen Krebsatlas von Österreich veröffentlichte, stand demnach der Tiroler Bezirk Kitzbühel in der Häufigkeit des Krebses der Lunge, Bronchien und Luftröhre bei Männern und Frauen 1980-1982 österreichweit an erster Stelle. Innerhalb dieses Zeitraumes starben 74 Menschen an dieser Krankheit, das Lungenkrebsrisiko mit Todesfolge ist rund 40% höher als im österreichischen Durchschnitt. Mögliche Ursache: bereits 1974 wurde im Raum Kitzbühel/St. Johann Luftgüte 3 gemessen, in neuerer Zeit kam es zu enormer Verschmutzung der Luft durch Staub aus dem Raum St. Johann, in dem ein Spanplattenwerk angesiedelt ist, das schon seit Jahren durch seine Emissionen die Bevölkerung beunruhigt und die Behörden beschäftigt.

Die Luft ist kostbar
für den roten Mann,
denn alle Dinge teilen denselben Atem,
das Tier, der Baum, der Mensch,
sie alle teilen denselben Atem.

Der weiße Mann scheint die Luft,
die er atmet, nicht zu bemerken;
wie ein Mann, der seit vielen Tagen stirbt,
ist er abgestumpft gegen den Gestank.

(Häuptling Seattle, 1885)

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1985
, Seite 20
Autor/inn/en:

Friedrich Margreiter:

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