MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 55
Andrea Komlosy
Grenzkonflikte anno 1830

Steuerprotest am Wiener Linienwall

Der Auflauf, der letzthin an der Lerchenfelder Linie stattfand, und eine ähnliche, obwohl weniger ernste Szene an der Taborlinie, gleichfalls aus Anlaß der Verzehrssteuer, haben nur dargetan, wie auch in Wien das Volk bereit ist, zu Gunsten desjenigen, den es in seinen Rechten gekränkt glaubt, sich tätlich gegen die Behörden zur Wehr zu setzen.

Mit diesen Worten berichtet der in Wien stationierte Schweizer Botschafter seiner Regierung von der empörten Ansammlung tausender WienerInnen, die am Abend des 30. August 1830 in die Polizeiwachstube des Lerchenfelder Linienamtes eindrangen.

Die Mariahilfer Linie nach dem Brand, März 1848

Wien — das umfaßte um 1830 die von der Stadtmauer umgebene Innenstadt sowie die innerhalb des heutigen Gürtels gelegenen Vorstädte. Von den umliegenden Vororten war die Stadt — damals von 300.000 Menschen bewohnt — durch den sogenannten Linienwall getrennt: ein meterhoher Erdwall mit vorgelagertem Graben, ursprünglich als militärische Abwehranlage errichtet, im 19. Jahrhundert jedoch ausschließlich als Steuergrenze genutzt. Innerhalb der Linien der Stadt wurden Nahrungsmittel erheblich höher besteuert als draußen am flachen Land. Wein beispielsweise kostete vor den Toren um fast zwei Drittel weniger als im Stadtgebiet. 13 Durchlässe erlaubten den Zutritt zur Stadt. An den hier befindlichen Linienämtern mußten für mitgeführte Waren Steuern bezahlt werden.

Aufruhr an der Lerchenfelder Linie

Zu Tausenden drängten am Abend des 30. August die WienerInnen an der Lerchenfelder Linie in die Stadt zurück. Es waren städtische Unterschichten, die in der Altlerchenfelder Vorstadt zu Hause waren und den Sommerabend in den Gastgärten der Handwerkssiedlung Neulerchenfeld verbracht hatten. Das „größte Wirtshaus im Heiligen Römischen Reich“ wurde dieses Dorf am Rande von Wien wegen seiner zahlreichen Wirtshäuser, Branntweinschenken und Tanzsäle genannt, die an Sonn- und Feiertagen bis zu 30.000 StädterInnen Erholung boten. Speisen und Getränke waren hier erschwinglich, und man nutzte die Gelegenheit, billig erworbene Lebensmittel mit nach Hause zu nehmen.

Die heitere Stimmung der Wartenden konnte leicht in Ungeduld umschlagen, wenn die Abfertigung am Linienamt ins Stocken geriet. Gegen 9 Uhr abends, knapp vor Torschluß, war es soweit. Als ein Ehepaar die Versteuerung eines mitgebrachten Sacks Mehl verweigerte und festgenommen wurde, drang die Menge kurzerhand in die Wachstube ein. Bald waren 5.000 Menschen vor dem Lerchenfelder Linienamt versammelt und protestierten lauthals gegen die ungerechte Verzehrungssteuer. Mit Steinen attackierten sie Steueramt und Polizeiwache und lösten sich erst auf, als eine Kompagnie Kavallerie gegen sie aufgeboten wurde. Mehrere Personen wurden verhaftet.

Eine Steuer wider die Armen

Schon ein Jahr zuvor, im November 1829, waren die vielerlei Abgaben am Stadttor einer einheitlichen Verzehrungssteuer gewichen. Verbunden war dies mit Steuererhöhungen bis zu 50 Prozent sowie einer Systematisierung der Eintreibung. Je höher der Anteil vom Einkommen, den eine Familie für Nahrungsmittel ausgab, desto höher die Steuerbelastung. Wiener Taglöhner- und Handwerksfamilien, die oft weit über die Hälfte ihres Einkommen für Ernährung aufwandten, waren von der neuen Verzehrungssteuer daher besonders stark betroffen. Ein Schlupfloch verhinderte zunächst jedoch den Protest der Volksmassen: lag die Steuer unter 3 Kreuzern, sah die Staatsverwaltung von der Einhebung ab. 6 Kilogramm Brot etwa konnten derart steuerfrei in die Stadt gebracht werden. Die Folge war ein stetiger Reiseverkehr an den Linien. Wer wenig Geld hatte, nahm den Weg in die Vororte auf sich, um einzukaufen. Kleine Gewerbetreibende und Händler schickten ihre Verwandten und Bekannten gar gruppenweise aus, um billige Waren und Vorprodukte in die Stadt zu bringen.

Im Juni 1830 machten die Behörden diesem regen Leben und Treiben ein Ende und hoben den 3 Kreuzer-Freibetrag auf. Die Folge: Empörung und Protest der vielen kleinen GrenzgängerInnen, die sich die hohen Wiener Lebensmittelpreise nicht leisten konnten. Der Vorfall am 30. August stand im Zeichen dieser Aufregung. Ob die beiden Mehlkäufer von der Aufhebung des Freibetrags noch nichts wußten oder bewußt dagegen opponierten, weiß niemand. Fest steht jedoch, daß die rückkehrende Menge ihre Verhaftung nutzte, um aufgestautem Unmut freien Lauf zu lassen. Steuern zahlte an diesem Abend niemand.

Tatsächlich nahm die Regierung den Protest ernst. „In Erwägung, bei der Einbringung der Verzehrungssteuer mit besonderer Umsicht und Mäßigung zu Werke zu gehen und Anlässe zur Unzufriedenheit und Mißstimmung so viel möglich vorzubeugen“, wurde der 3 Kreuzer-Freibetrag am 16. September wieder eingeführt. Mehr als die Revolte vom 30. August dürfte allerdings die Absetzung des französischen Königs in der Pariser Julirevolution zu dieser Konzessionsbereitschaft beigetragen haben.

Das Fest geht weiter

Die Linie als Symbol von Staatsmacht und Diskriminierung hatte damit nichts an ihrer Bedeutung eingebüßt. In einer Zeit, in der politische Versammlungen undenkbar waren, bot das Warten vor den Toren eine seltene Möglichkeit, Protest kollektiv zu äußern. Oft genügte ein kleiner Anlaß, damit die Menge die Kontrolle am Linienwall durchbrach — als heiterer Abschluß eines durchzechten Feiertages, spielerisch im Umgang mit sozialem Protest. Feiertage beflügelten also die Steuerverweigerung. Zu Weihnachten des Jahres 1830 etwa endete kein Tag, ohne daß die Personen, „welche sich vor der Linie zusammenrotten und sodann damit gewaltsam hereindringen, ohne auf die Weisung des Amtspersonals zu achten“ (Originalton Polizeibericht), sich nicht die Steuerleistung ersparten.

Auch in den Revolutionstagen des März 1848 stand die Linie erneut im Mittelpunkt der Revolte. Beim Sturm auf die Linienämter ging die Mariahilfer Linie in Flammen auf. Diesmal schoß das Militär auf den Pöbel, aber dennoch: schon 5 Tage später wurden die Grundnahrungsmiltel der Armen von der Verzehrungssteuer befreit. Milch und Erdäpfel, Kraut, Rüben und andere ‚gemeine‘ Gemüse durften fortan steuerfrei in die Stadt gebracht werden.

Die Verzehrungsstever als solche wurde in Wien bis zum Jahr 1922 beibehalten. Im Zuge der Stadterweiterung verschob sich der Ort der Einhebung im Jahr 1891 allerdings auf die Vorortelinie. Ihre Brisanz als Ort des Pıotests — so stellt die Historikerin Edith Saurer in ihrem Buch über die Mechanisierung von Zeit, Raum und Bewegung treffend fest — hat die Linie mit dem Vordringen der industriellen Lohnarbeit jedoch verloren, denn: „Wer über die Linie geht, um billige Waren einzuschmuggeln, braucht Zeit.“

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
1990
, Seite 74
Autor/inn/en:

Andrea Komlosy:

Geboren 1957 in Wien, Wirtschafts- und Sozialhistorikerin ebenda.

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