Streifzüge » Print-Ausgaben » Jahrgänge 2001 - 2010 » Jahrgang 2010 » Heft 48
Petra Ziegler
Mattersburger Kreis (Hg.):

Solidarische Ökonomie zwischen Markt und Staat

Gesellschaftsveränderung oder Selbsthilfe?

Journal für Entwicklungspolitik 2009/3, Wien: Mandelbaum Verlag, 2009, 120 Seiten, 9,80 Euro

Die Krise des Kapitals lässt die Linke merkwürdig kalt. Nicht viel mehr als Altbekanntes wird da ventiliert: wir zahlen nicht, wir wollen Arbeit, der Staat soll sozial sein. So wichtig Abwehrkämpfe sind, eine Perspektive ergibt sich daraus nicht. Bis dato hält der beklagenswerte Zustand der gesellschaftlichen Opposition – letzter Grund der scheinbaren Alternativlosigkeit der herrschenden Zustände – leider an.

Kontext

Dass die gegenwärtige Krise nicht nur das Ende eines systemischen Akkumulationszyklus darstellt, sondern dieser unter den Vorzeichen einer historisch beispiellosen Energie- und Klimakrise eine völlig neue Zerstörungsqualität gewinnt, die sich in massenhaftem Hunger, Zwangsmigration und einer weiteren Verhärtung staatlichen Autoritarismus andeutet und weiter verdeutlichen wird, bleibt zumeist ausgeblendet. Was dabei auf dem Spiel steht, ist die Möglichkeit und existenzielle Notwendigkeit der Emanzipation. Eine Gesellschaft des Kapitals, die keine Wachstumsräume mehr aufmacht, ist hegemonieunfähig. Sie wird einer neuen, vermutlich brutalen Herrschaftsweise, mit untergeordneten kapitalistischen Elementen, weichen – oder aber durch soziale Bewegungen, die eine kooperative, bedarfsorientierte und egalitäre Produktions- und Lebensweise entwickeln, überwunden.

Vor diesem Hintergrund sind Debatten um eine Solidarische Ökonomie als Alternative zum Kapitalismus ebenso notwendig wie seltsam blass. Das lesenswerte Heft des Journals für Entwicklungspolitik, herausgegeben vom Mattersburger Kreis für Entwicklungspolitik, bleibt deshalb – im größeren Problemzusammenhang gesehen – zwiespältig.

Solidarische Ökonomie – „was Bessres haben wir nicht“

Um die Bedeutung der Solidarischen Ökonomie einzuordnen, ist ein Blick auf die linke Diskurslandschaft von Nutzen. Momentan gibt es dort vier perspektivisch ausgerichtete Debatten mit einer gewissen Breitenwirkung. Sie gruppieren sich um folgende Ansätze: bedingungsloses Grundeinkommen, „Commons“, „Green New Deal“ und „radikaler Keynesianismus“, Solidarische Ökonomie. Die Debatten um den (illusionären) Green New Deal und der (interessanteren) Variante eines „radikalen Keynesianismus“ (Heinz Steinert) haben mit der Diskussion des bedingungslosen Grundeinkommens gemein, dass sie keine sozialen Kämpfe oder Experimente anstoßen. Das teilt mit ihnen der Diskurs der Commons. Dieser bezieht sich zwar auf eine Vielfalt widerständig-konstruktiver Praxen, verbleibt bisher jedoch zum Großteil auf einer akademischen oder bewegungsintellektuellen Ebene.

Die Solidarische Ökonomie vereint im Unterschied dazu zwei vorteilhafte Elemente: Sie entspringt der popularen Praxis einer „anderen Ökonomie“ und entwickelt sich zugleich als weitgespanntes Diskursfeld, das von Lateinamerika ausstrahlt. Das neue JEP-Heft „Solidarische Ökonomie zwischen Markt und Staat. Gesellschaftsveränderung oder Selbsthilfe?“ macht dies sichtbar. So skizzieren zwei Mitarbeiter_innen des brasilianischen Staatssekretariats für Solidarische Ökonomie, Maurício Sardá de Faria und Gabriela Cavalcanti Cunha die Herausforderungen der besetzen Betriebe in Brasilien; Astrid Hafner beschreibt die Organisationsweise und Entwicklung des baskischen Kooperativen-Komplexes Mondragón; Andreia Lemaître analysiert die Institutionalisierung der „sozialen Ökonomie“ in Belgien und Manfred Moldaschl und Wolfgang Weber nähern sich einer Antwort auf die Frage, ob organisationale Partizipation zur gesellschaftlichen Demokratisierung beiträgt.

Dieser Palette an Beiträgen geht ein mit Gewinn zu lesender Überblicksartikel von Markus Auinger voran, der Solidarische Ökonomie zwischen emanzipatorischem sozialen Wandel und Selbsthilfe verortet. Auinger verknüpft darin die Theorie der langen Wellen kapitalistischer Akkumulation mit den Konjunkturen systemverändernder Bewegungen. Er verweist in seiner Diskussion der Chancen und Limitierungen Solidarischer Ökonomie auf das „Transformationsgesetz“ von Franz Oppenheimer (1896), wonach Genossenschaften – als ein Beispiel Solidarischer Ökonomie – entweder in einer kapitalistischen Umwelt reüssieren und ihren systemverändernden Charakter verlieren, oder aber diesen aufrecht erhalten und aber über Selbsthilfe auf Armutsniveau nicht hinauskommen.

Diesem Dilemma stellt Auinger ein Konzept des Brasilianers Euclides André Mance gegenüber, der den Aufbau solidarischer Produktionsketten, als Schutz gegen die Konkurrenz des kapitalistischen Sektors, propagiert. Die starke Vernetzung Solidarischer Ökonomie mit Teilen von Gewerkschaften und Universitäten, die in Brasilien besteht, noch verstärkt durch das Staatssekretariat für Solidarische Ökonomie, lässt eine solche Perspektive zumindest in den Bereich des Denkbaren rücken. Eine solche Entwicklung, so Auinger, könnte auch ein Mittel gegen die Tendenzen eines „Neoliberalismus von unten“ darstellen, der im Modell der Kooperative seinen Ausdruck finden kann.

Ohne Zweifel bleibt keiner Bemühung, Auswege aus der Herrschaft des Kapitals zu finden, erspart, sich der Widersprüchlichkeit eines jeden solchen Versuchs zu stellen. Das tun die Beiträge zur Solidarischen Ökonomie im neuen JEP-Heft ohne Scheu. Was dabei jedoch auf der Strecke zu bleiben droht, ist erstens die Frage nach den notwendigen Elementen einer nicht-kapitalistischen Produktionsweise und zweitens jene nach den Ansatzpunkten, solche Elemente gegen die kapitalistische Umwelt zu stärken und sukzessive auszuweiten.

„Die Kooperativfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, das erste Durchbrechen der alten Form, obgleich sie natürlich überall, in ihrer wirklichen Organisation, alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren und reproduzieren müssen. Aber der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist innerhalb derselben aufgehoben, wenn auch zuerst nur in der Form, daß die Arbeiter als Assoziation ihr eigener Kapitalist sind, d. h. die Produktionsmittel zur Verwertung ihrer eignen Arbeit verwenden.“ (MEW 25, S. 456) Dieser Analyse von Marx aus dem 3. Band des Kapital ist kaum etwas hinzuzufügen; der Klassenantagonismus wird in der Solidarischen Ökonomie internalisiert. Faria und Cunha nennen das Kind beim Namen: häufig werde die „absolute Mehrwertproduktion“ ausgeweitet (S. 35). Die Rede von der „Selbstausbeutung“ trifft diesen Punkt.

Genau hierin liegt jedoch der Haken, weshalb, wie Marx festhält, „...das Kapital notwendig zugleich Kapitalist“ ist – „...und der Gedanke von einigen Sozialisten, wir brauchten das Kapital, aber nicht die Kapitalisten, ist durchaus falsch. Im Begriff des Kapitals ist gesetzt, daß die objektiven Bedingungen der Arbeit – und diese sind ihr eigenes Produkt – ihr gegenüber Persönlichkeit annehmen, oder was dasselbe ist, daß sie als Eigentum einer dem Arbeiter fremden Persönlichkeit gesetzt sind.“ (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Heft V, S. 417, Ausgabe 1974) Das Kapital jedoch existiert zugleich und in innerem Zusammenhang mit der allgemein gewordenen Waren- und Geldform: „Marktwirtschaft“ ohne kapitalistische Produktionsweise ist nicht möglich. Unternehmensintern lässt diese Produktionsweise Spielräume durchaus zu; allein durch unternehmensinterne Veränderungen ist diese jedoch nicht außer Kraft zu setzen. Beides ist an der Solidarischen Ökonomie zu sehen, wie das JEP-Heft auf instruktive Weise zeigt.

Solidarische Ökonomie wird demnach ihre eigentliche Bedeutung erst im Zusammenspiel mehrerer Momente realisieren können – und zwar von anwachsenden sozialen Auseinandersetzungen in den kapitalistischen Sektoren im engeren Sinn und gegen die Lohnarbeit, Widerstand gegen staatliche Einhegungen und weiteren Sozialabbau, Kämpfen für den kostenlosen Zugang zu Infrastrukturen und Ressourcen, der Popularisierung egalitärer Ordnungsvorstellungen und, was entscheidend ist, der Entwicklung eines gesellschaftlichen Stoffwechsels, der die Formen von Markt, Kapital und Staat überschreitet.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
2010
, Seite 34
Autor/inn/en:

Petra Ziegler:

Geboren 1969. Mitglied im Kritischen Kreis.

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