Streifzüge » Print-Ausgaben » Jahrgänge 2001 - 2010 » Jahrgang 2009 » Heft 47
Franz Schandl

Raum für die meiste Zeit

Lose Vermutungen zur alltäglichen Praxis des Wohnens

Wenn wir wohnen − was tun wir, was geschieht uns? So ungefähr lauten unsere Ausgangsfragen, von denen aus wir unsere Überlegungen entwickeln möchten.

Wohnen könnte man vorerst einmal umschreiben als das regelmäßige Dasein in einer Behausung, die Realisierung exklusiver Verfügung von Räumlichkeiten. Es geht um ein (in doppeltem Wortsinn) festes Zuhause in einem überschaubaren und abgeschlossenen Bereich. Der Bezug zur Wohnung ist geprägt von einer sich stetig durchsetzenden Hingezogenheit, die mehr als episodischen Charakter hat, sie ist permanenter Natur. Im Wohnen drückt sich aus ein mächtiges Wo, welches das Wohin immer an das Woher verweisen will. Wohnen hat was von Zurückkommen und Zusichkommen.

Tür und Tor sind Scheidepunkte der Welt in ein Innen und ein Außen. Und diese Grenze will jeder und jede wahrgenommen sehen. Durch die Wohnung setze ich anderen eine Schranke, die nicht verletzt werden soll. Eine Wohnung ist so betrachtet der Prototyp des nichtöffentlichen Raumes. Die Möglichkeit des Versperrens, des unbegründeten Abschließens und Abschottens hat gewährleistet zu sein. Das bürgerliche Wohnen baut auf einem sehr strikten Gegensatz von Exklusion und Inklusion. Der Wohnraum selbst ist nach innen weniger porös als der Staat, die Eigner verfügen rigoros, nach außen zu freilich soll jener absolut durchlässig sein. Alle sollen raus dürfen, aber nur wenige rein.

Existenzielle Verortung

Die Zeit, in der wir leben, die ist uns vorgegeben. Der Ort, an dem wir leben, da sind wir relativ autonom. Die Wohnung als Immobilie ist in ihrem empirischen Sosein die Konkretion eines aktuell unversetzbaren Sitzes. Sie verortet die unmittelbare Existenz oder noch genauer: die Koordinaten räumlichen Existierens. So könnte man die Wohnung definieren als physische Behausung mit metaphysischem Gehalt. Nicht nur wir sitzen in der Wohnung, die Wohnung sitzt auch in uns, weil wir ihr Teil geworden sind. Ähnlich der Nahrung und der Kleidung verkörpert die Wohnung wohl die erste Kategorie der Lebensmittel.

Existenzielle Bedürfnisse sind hier zugegen: Schlafen, Essen, Vögeln, Kleiden, Waschen, Pflege, Erziehung oder Spiel, aber auch sehr lästige Pflichten wie Putzen oder Bügeln, Aufräumen oder Verstauen. Die notwendige Ausdifferenzierung der Genannten kann aber bloß angedeutet werden; insbesondere auch das ausufernde Fernsehen oder das Internet-Surfen müssten als Gelegenheiten, die a priori nicht existenziell sind, wohl aber so erscheinen, in die Analyse der Struktur des Wohnens noch einbezogen werden.

Die Wohnung ist ein Ort, der die Regelmäßigkeit des Alltags ordnet, primär den Reproduktionsbereich. Berufsleben und öffentliches Leben finden anderswo statt, wenngleich in den letzten Jahren Ersteres immer mehr in den privaten Raum zurückgedrängt wird, Heimarbeit zusehends obligat werden möchte, um Kosten auszulagern.

In der Wohnung hat alles seinen Platz, was in der Unmittelbarkeit der Reproduktion vonnöten ist: Kochstellen, Ruhestätten, Esstische, Rückzugsorte, Waschgelegenheiten, Aborte, Aufbewahrungsräume. In den bürgerlichen Haushalten sind diese zu erkennen als Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Kinderzimmer, WC, Badezimmer, Speisekammer. Alles fein separiert und arbeitsteilig angelegt.

Im Wohnen drücken sich ganz wichtige Aspekte profaner Begehrlichkeiten aus. Die Wohnung garantiert an sich Widersprüchliches: Sie gewährleistet das Vereinzeln ebenso wie das Verrudeln mit bestimmten Leuten. Die Frage, wer da zusammen wohnt, ist eine Frage nach der Typologie der Bewohner. (Vgl. ausführlich Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Soziologie des Wohnens, Weinheim und München, 2. Aufl. 2000, S. 322ff.) Wir unterscheiden etwa in Großfamilien, Kleinfamilien (mit und ohne Patchwork), Kernfamilien, Alleinerziehende mit Kind(ern), Wohngemeinschaften, Singlehaushalte, Heime, Klöster, Kinderdörfer, Haftanstalten etc. − Vorherrschend ist wohl immer noch die neuzeitliche Kleinfamilie, das heterosexuelle Paar und seine ein bis zwei Kinder. Anzumerken bleibt aber, dass der allen geläufige Zentralbegriff der Familie erst im 18. Jahrhundert seinen Eingang in die Umgangssprache gefunden hat.

Abgewandter Lebensmittelpunkt

Das Wohnen ist einem nahe, nicht fern. So nahe, dass man sich kaum distanzieren kann. Eben weil Personen und Gegenstände des Alltäglichen in und um die Wohnung anzutreffen sind und dies alles als emotionale Einhegung wahrgenommen wird. Schon das Kind greift mangels Alternative eifrig danach, ohne es auch nur begreifen zu können. Einhegung ist in ihrem ersten Erleben eine unwidersprochene Vorgabe für jeden Menschen.

Die Wohnung bildet einen sinnlichen Lebensmittelpunkt, d.h., sie ist ein Platz, der (von Ausnahmen abgesehen) täglich angesteuert wird, die permanente Anlaufstelle, der Ort des Niederlegens und des Aufstehens. Zentral sind das Private und das Intime, das der übrigen Welt Entzogene. Wohnen erfährt sich als sinnliche Hingabe nach innen, eins will dabei nach außen unsichtbar und unhörbar, unberührbar und unriechbar bleiben. Natürlich ist dieser Abschluss einmal rigider, einmal offener, aber Abschluss bleibt Abschluss. Am allerwichtigsten ist ja auch nicht, dass die Wohnung geschlossen ist, sondern dass sie schließbar ist.

Die häusliche Intimität ist gezeichnet durch das Geborgene wie das Verborgene. Intimität ist drinnen, nicht draußen. Wohnung kann verstanden werden als die der Öffentlichkeit abgewandte Seite. Hier will man seine Eigenheiten entfalten, ohne auf Äußerlichkeiten Rücksicht nehmen zu müssen. Die Wohnung gilt als nichtbeobachtetes Kontinuum, als Ort diverser Geheimnisse des Lebens, als Heimstätte für das vermeintlich Individuelle, wenngleich bei näherer Sichtung dieses so individuell wiederum nicht ist.

Diese Abgeschiedenheit entfaltet eine eigene Ordnung, wo etwa der Rhythmus, die Gerüche oder die Lichtverhältnisse charakteristische Potenzen entfalten. Die darin Lebenden begreifen alles als unmittelbar, weil es für sie das Unmittelbare ist. Aber auch dieses Begreifen ist (gleich dem Kind) ein Betätigen, mehr Können als Kennen, mehr Kennen als Erkennen.

Wohnen ist fixierter Bestandteil des Lebens, ohne dass dieses in jenem aufgeht. Die Wohnung ist der Raum für die meiste Zeit, wenngleich der Großteil dieser Zeit wohl Schlafenszeit ist. Das eigene Bett erscheint so als hohes Gut und ist wohl der privateste Platz menschlicher Wesen. Zweifellos, dort finden wichtige Dinge statt, vor allem was Geborgenheit und Verborgenheit betrifft. Wenn die Wohnung eine Zelle ist, dann ist das Bett der Zellkern. Was aber auch heißt: Der Raum für die meiste Zeit ist nicht der Raum für die meiste Tätigkeit.

Die Tür

Fenster und Tür sind Stellen der Öffnung (aber nicht der Offenheit) wie der Schließung (aber nicht der Geschlossenheit). Ob diese Möglichkeiten realisiert oder sistiert werden, soll ganz den Inhabern überlassen sein. Tür und Fenster sind so fest verankerte, aber bewegliche Teile des unbeweglichen Ganzen. Eine Phänomenologie zentraler Wohnungsbestandteile und deren Entzifferung wäre sicher eine reizvolle Aufgabe. Eminent erscheint insbesondere die Disproportion einiger Objekte, was das Innere und Äußere betrifft. Fenster: etwas, wo es leichter ist, rauszuschauen als reinzuschauen; Tür: etwas, wo es leichter ist, rauszugehen als reinzukommen; Bett: etwas, wo es leichter ist, reinzuhüpfen als aufzustehen. Versuchen wir trotzdem, einige Gedanken anhand der Tür zu präzisieren.

„Die Tür!“, schreit Gaston Bachelard, „sie ist ein ganzer Kosmos des Halboffenen …“ (Poetik des Raumes, Frankfurt am Main 1987, S. 221) Ihre Dialektik besteht tatsächlich darin, dass sie offen nach innen und außen, aber auch geschlossen nach innen und außen sein kann. Von drinnen nach draußen lässt sie einen ins Freie laufen. Von außen nach innen lässt sie uns in die Geborgenheit flüchten. Draußen ist immer, zumindest in letzter Konsequenz, das Unbestimmte, es kann alles Mögliche passieren. Drinnen hingegen soll das Bestimmte sein, wenn es geht, gar das Selbstbestimmte, es hat nichts zu passieren.

Den Gesetzen der formalen Logik folgend haben Innen und Außen hohe Eindeutigkeit. Das Eine kann nicht das Andere sein. Hier macht sich eine antagonistische Differenz geltend, die an Vehemenz nicht zu wünschen übrig lässt. In etwa: Alle, die drinnen sind, dürfen rausgehen, aber nicht alle, die draußen sind, dürfen reingehen, abgesehen davon, dass sie ob des Platzmangels sowieso nicht reingehen dürften. Drinnen und Draußen können nicht einfach umdefiniert werden, vor allem dann nicht, wenn wir Innen als das Umschlossene erkennen und Außen als das Umschließende.

In einem metaphysischen Anfall hat Gerhard Ruiss das in seinen Mani-Matter-Übersetzungen treffend und glänzend besungen:

es is oft a viaeggaz loch in der waund
und in dem loch drinnen aum seitlichn raund
a viaeggaz brettl zum draan darau, dafia
kauns das aufduan und zuaduan; ma nennt des a dia
 
a dia hod noamal, ob glaa oda groos
a schnoin drau zum druggn und meisdns a schloos
waunst de dia aufmochsd, kaunsd aus und kaunsd ei
waun d dia auwa zua is, daun loss besser sei
 
es gibt nua zwa oatn: offn und zua
is offn is offn, is zua daun is zua
is offn kaunsd eine und aussa dazua
nua waun zua is is zua und is zua daun is zua
 
(Gerhard Ruiss/Herbert Prenn/Manni Matter, Gö, Wien 1994)

Der häusliche Kosmos wird komplizierter, je genauer wir ihn anschauen und uns jenseits sinnlicher Gewissheiten postieren. Das Innen ist das Geschlossene, das Außen ist das Offene, das Außen kann verschlossen bleiben, aber nie geschlossen werden. Das Innen kann geöffnet werden, aber nie das Offene sein. Betrachten wir das Wohnen vom Standpunkt des Erlebens, dann gilt: Das Draußen ist weiträumiger − und macht uns deswegen kleiner; das Drinnen ist kleinräumiger, aber macht uns daher größer.

Eigenheim als Eigenheit

Die Wohnung möchte jedenfalls die Eigenheiten der Wohnenden erlauben und fördern. Denken wir bloß an die Möbel, die zentralen Gegenstände der Einrichtung. Gar nicht wenige Eigentümlichkeiten sind allerdings mehr die Folge des schnöden Mammons bzw. umgekehrt die eines eklatanten Geldmangels. Werfen wir einen Blick in unsere Wohnung, wo sich einiges eingerichtet hat, was wir so nicht eingerichtet hätten, etwa die Küche, die mein Großvater im Jahre 1974 meinen Eltern spendierte. Unser Wunsch wäre die nie gewesen, doch die Geldbörse sagte 1996 nur: Nehmt sie, seid froh, dass ihr sie habt. Und so nahmen wir sie, da wir keine neue kaufen konnten, in Kauf. Dieses Relikt aus vergangenen Tagen erfüllt zwar einige Notwendigkeiten, ist aber jenseits praktischer Kompatibilität, von der Ästhetik ganz zu schweigen. Mit unserem Geschmack hat diese Küche absolut nichts zu tun. Diese Einrichtung sagt nichts über unsere Ausrichtung, wohl aber über unsere finanzielle Lage in einer bestimmten Situation.

Geschmack ist natürlich auch keine Geldfrage. Selbst ausfinanzierte Eigenheiten in Eigenheimen stellen sich oft als Multiplikationen der Konvention heraus, an denen nichts Eigenes zu erkennen ist. Man kann, aber muss da gar nicht an IKEA denken. Trotzdem erscheint das Häusliche als das einem unbedingt Zurechenbare. Ein Winkel kann noch so daneben, ein Zimmer noch so verunglückt sein, es sind doch eigene. „Hier bin ich“, schreit dann eine Identität, die mehr aus Referenzen denn Reflexionen besteht. Die Angst, nichts Eigenes zu sein, ohne Eigentum zu haben, sitzt tief, und sie ist der bürgerlichen Konstitution, die Freiheit nur über Rechtstitel zulässt, entsprechend.

Demobilisierung und Etappe

Die Wohnung dient als Ruhe- und Fluchtpunkt vor der andauernden Mobilisierung und den Zwängen. Jene will sich behaupten als der abgedichtete Raum gegen die Außenwelt, als Schutz und Aufgehobenheit, als Innenraum des menschlichen Lebens, sowohl verstanden als innerster als auch als innigster. Daheimsein meint Schonzeit, weil sie der unmittelbaren Konkurrenz entzogen ist. Wohnen ist verbunden mit Rasten und Ruhen. Doch dieses Schonen ist nicht Selbstzweck, sondern komplementär zu einer äußeren Zweckentsprechung der Verwertung.

Die Demobilisierung ist der Mobilisierung vor- und nachgeordnet, sie gleicht der Etappe im Krieg. Die Regeneration dient vornehmlich dem Fit-Machen für Job und Schule, Geschäft und Markt. Der von Konkurrenz und Kampf weitgehend geschützte Raum erfüllt also gerade wegen dieser Schonung seinen Zweck für jene. Die Begriffe „Freizeit“ und „Erholung“ drücken das vorzüglich aus.

Freizeit und Erholung sind wiederum unterbrochen, ja oft dominiert durch unvermeidbare Haushaltstätigkeiten. Das Reaktive als das zu Reaktivierende, die Reproduktion als das zu Reproduzierende beherrschen den Alltag, geben ihm Struktur durch die Notwendigkeit der Verrichtungen. Diese sind nach wie vor geschlechts- und generationsspezifisch strukturiert. Auch Draußen und Drinnen sind männlich und weiblich codiert. Wobei dies heute weniger eine Konsequenz patriarchaler Zuschreibung ist als eine Folge traditioneller Trägheiten. Nach wie vor leisten Frauen den meisten Reproduktionsdienst, Männer noch immer weniger.

Gewohnheit und Gewöhnung

„In seinen Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da“, schrieb Gaston Bachelard in seiner „Poetik des Raumes“ 1957. (S. 35) „Für solche Untersuchungen sind die Träumereien nützlicher als die Träume.“ (Ebenda) Zweifellos, da wird auf einen ganz wichtigen Aspekt verwiesen. Unsere Träumereien mögen so gar nicht stimmen, aber sie erscheinen uns stimmig. Sie sind positive Projektionen, d.h. spezifisch angereicherte Partikel des Vergangenen, die nun als geschönte und harmonisierte Sequenzen uns laben. Das, was man haben will, verlegt man in die Vergangenheit und tut so, als ob man es je schon gehabt hätte. Es ist keine aufgespürte Erinnerung, sondern eine gespürte Innerung, die sich als beständige Äußerung gewisser Sentimentalitäten zu erkennen gibt. Diese sind jedoch allzu oft auch das Grab von Praxis und Perspektive, eben weil man sich einer nostalgischen Utopie hingibt.

Die Wohnung jedenfalls ist unser Bewahrungsort, ein Gehäuse, das als entrückter Raum einen bedächtigen Kreislauf ermöglichen soll. Dieser Raum muss nicht immer aufs Neue erkundet werden, wir sind durch Gewohnheit kundig. Gewohnheit hängt ganz eng mit Wohnen zusammen, die Sprache verrät das auch. Wohnung ist das, wo ich schon öfter, ja regelmäßig gewesen bin. Sie ist Anziehungspunkt, der Ort, der mich abseits bestimmter Anlässe stets attrahiert. Das bedeutet aber nicht, dass man dort, wo man einst seinen Sitz hatte, sesshaft bleiben muss. Wohnung ist keineswegs an eine originäre Herkunft geknüpft, sie kann sich von dieser gänzlich entfernen. Auch muss es nicht nur einen Wohnort geben, wenngleich es nicht viele davon geben kann, sondern maximal einige wenige, um überhaupt eine Ansässigkeit und Vertrautheit begründen zu können, die jenseits eines formalen Besitztitels sich geltend machen.

Das Zuhause könnte man mit Marcel Proust wohl beschreiben als „die regelmäßig wiederkehrenden Abweichungen, die innerhalb der bestehenden Einförmigkeit eine zweite Art von Ordnung etablieren“. (Marcel Proust, In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil, Frankfurt am Main 1981, S. 148-149) Und an anderer Stelle sagt er: „Ja, die Gewohnheit! Sie ist eine geschickte, wenn auch langsame Umzugskünstlerin, die zunächst einmal unseren Geist wochenlang in einem Provisorium schmachten lässt; aber man ist doch froh über ihr Vorhandensein, denn ohne sie und aus eigener Kraft wäre man außerstande, ein Heim bewohnbar zu machen.“ (Ebenda, S. 16)

Ohne Gewohnheit wäre es uns unmöglich, sich an das Leben zu gewöhnen. Diese Selbstvergewisserung ist eine der Grundlagen unserer vermeintlichen Sicherheit. Zu untersuchen wäre, was an der Gewohnheit historischen Charakter hat, aber auch, was darüber hinausreicht oder hinausreichen könnte. Gewohnheit sagt aber nicht, dass es immer so gewesen ist, sondern bloß, dass das Durchgesetzte sich Raum und Zeit verschafft hat und nun meint, Gültigkeit als Ewigkeit suggerieren zu können. Durch Tradition und Brauch versucht sich die Gewohnheit als Ontologie zu verfestigen. Die Vergangenheit sagt der Gegenwart, dass sie Zukunft sein will.

Eins ist dieser Wohnraum jedenfalls nicht: der Raum der gesellschaftlichen Transformation. Wohnen hat sogar eine eminent affirmative Seite, man hat sich eingerichtet und man möchte einen Kreislauf aufrechterhalten. Der Identifizierung ist schwer zu entgehen: Wenn ich mich andauernd hineinlege in mein Bett, dann identifiziere ich mich früher oder später damit. Egal, ob es mir passte, hat es mir zu passen, bis es mir passt. Das gilt für die Couch genauso wie für den Schrank, ja für die gesamte Räumlichkeit. Denn in einer gewissen Hinsicht müssen sie mir entsprechen, sonst hätte ich sie nicht, so der Zirkelschluss. Und die Außensicht widerspricht dieser Innensicht gar nicht.

Eine zu große Portion an Häuslichkeit neigt indes zu Biederkeit und Stupidität, sie verwandelt das Heim in eine Konservendose ewig gleichen Geschmacks. Diese Beständigkeit wirkt abgestanden, es riecht muffig. Und doch würden wir die Langeweile, die sich aus den Kontinuitäten des Eigenheims ergibt, durchaus zweischneidig betrachten. Einerseits als Fadesse und Tristesse des Alltags, andererseits aber auch als Voraussetzung, überhaupt Gedanken jenseits der Funktionalität fassen und schöpfen zu können. Selbst das Dämmern ist mitnichten eine bloß zu verachtende Größe. Auch es kennt zwei Richtungen und ist nicht nur Oblomowerei.

Die Gewohnheit ist also weniger eine Folge der Gestaltung als der Gewöhnung. Das hat schon was von einer resignativen Anpassung an die Verhältnisse. Der konkrete Fall oder besser noch: Zufall erscheint als Vorgegebenheit, eben weil jene sich täglich reproduziert und ihre Veränderungen bedächtig, wenn auch inzwischen immer weniger langsam vor sich gehen. Die temporalen Disparitäten betreffend die Gewohnheit wären aber auch schon wieder ein eigenes Thema. Die Gewohnheit, so sehr sie uns als Sicherheit dienlich ist, wird zusehends selbst zu einer antiquierten Größe, wenngleich die Wohnung noch zu den Einheiten größerer Resistenz zu zählen ist als etwa das Auto, der Computer oder gar das Handy. Die Grundtendenz ist wohl diese: Wir können uns an nichts mehr richtig gewöhnen, sind aber gewöhnt, uns an alles zu gewöhnen. Das postmoderne Subjekt ist ein in Raum und Zeit zerrissenes.

Wonne und Behagen

Letztlich möchte die Wohnung gar der Ort des unbedingten Behagens sein, mehr als eine Unterkunft. Wohnen und Wonne haben ja die gleichen etymologischen Wurzeln. Das Verhältnis zur Wohnung ist emotional, nicht pragmatisch. Die Wohnung ist auch ein mentales Gehäuse, eine dritte Haut. Dort, wo Wohnen gelingt, sprechen wir von einer wohltemperierten und harmonischen Fügung der Sinne im Sinne des Behagens oder einfach der Gemütlichkeit. Doch geht das? Ohne Schummeln – um hier ein freundlicheres Wort als das des Verdrängens zu gebrauchen – wohl kaum.

„Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt. (Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Gesammelte Schriften 4:42) Indes, wir sind nicht jenseits, und so sind der wahre Zug und die richtige Spur nur als Teil des Falschen zu haben. Man sollte jene genießen, ohne sie zu idealisieren. „Das beste Verhalten all dem gegenüber scheint noch ein unverbindliches, suspendiertes: das Privatleben führen, solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so belasten, als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen.“ (4:43) Geradewegs so.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
2009
, Seite 6
Autor/inn/en:

Franz Schandl:

Geboren 1960 in Eberweis/Niederösterreich. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Wien. Lebt dortselbst als Historiker und Publizist und verdient seine Brötchen als Journalist wider Willen. Redakteur der Zeitschrift Streifzüge. Diverse Veröffentlichungen, gem. mit Gerhard Schattauer Verfasser der Studie „Die Grünen in Österreich. Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft“, Wien 1996. Aktuell: Nikolaus Dimmel/Karl A. Immervoll/Franz Schandl (Hg.), „Sinnvoll tätig sein, Wirkungen eines Grundeinkommens“, Wien 2019.

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