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Emmerich Nyikos

Private Gains and Public Disasters

Oder: Die Unsichtbare Hand spielt verrückt

Nur wenn man oben steht, kann man die Sachen recht übersehen und jegliches erblicken, nicht wenn man von unten herauf durch eine dürftige Öffnung geschaut hat.

(Hegel)

1.

Konkurrenz ist, einfach gesagt, nichts als das plan- und bewusstlose Zusammentreffen (concurrere) von Privatproduzenten unterhalb der Schwelle der bewussten Gestaltung. Warenproduktion, um hier den terminus technicus zu gebrauchen, impliziert zwar Kooperation, die aber spontan ist, da die völlige Gleichgültigkeit für das übergeordnete Ganze ganz in der Natur des Privateigentums liegt. Die Privateigentümer nehmen daher nie die Perspektive der Gesellschaft ein, von der aus allein man die Zusammenhänge im Blick hat, sondern immer nur die des persönlichen Vorteils, von der aus man nun einmal nicht über den Kirchturmhorizont der „eigenen lieben Person“ hinausblicken kann.

2.

Die Philosophen der Formationsperiode des Kapitals hatten genau dies im Blick, als sie die Essenz des Warensystems in seiner embryonalen Gestalt in den Rang einer philosophischen Wahrheit erhoben: Alle verfolgen ihre privaten Belange und herauskommt, was niemand gewollt hat, das allerdings – gleichsam durch Zauberhand – sich stets als das Beste für die Gesellschaft erweist. In diesem Zusammenhang sei etwa an die göttliche Vorsehung Vicos erinnert, an die eher profane und nüchterne Ansicht der Bienenfabel Mandevilles (private vices, public benefits), an den klassischen Topos der invisible hand Adam Smith’ und schließlich und nicht zuletzt an die Hegelsche List der Vernunft, die sich der Handelnden als eines Werkzeugs für ihre höheren Zwecke bedient. So sagt Hegel, der seinen Smith wohl studiert hat,

dass in der Weltgeschichte durch die Handlungen der Menschen noch etwas anderes überhaupt herauskomme, als sie bezwecken und erreichen, als sie unmittelbar wissen und wollen; sie vollbringen ihr Interesse, aber es wird noch ein Ferneres damit zustande gebracht, das auch innerlich darin liegt, aber das nicht in ihrem Bewusstsein und in ihrer Absicht lag.

(G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12, Suhrkamp 1986, S. 42f.)

3.

Nun hatte, bevor das Kapital sich der Produktionssphäre zu bemächtigen wusste, diese Auffassung des Warenverkehrs – das bornierte Streben der Subjekte führt zum Wohle der Gesamtheit – durchaus einiges für sich. Zitiert sei hier nur die berühmte Stelle aus dem Opus magnum des Altmeisters Smith:

So grob und derb beispielsweise der Wollrock des Tagelöhners auch aussehen mag, er ist das Produkt der gemeinsamen Arbeit einer Vielzahl von Handwerkern. Schäfer, Wollsortierer, Wollkämmer oder Krempler, Färber, Hechler, Spinner, Weber, Walker, Zurichter und viele andere müssen alle ihre verschiedenen Fertigkeiten vereinen, um auch nur dieses einfache Produkt fertig zu stellen. Wie viele Händler und Fuhrleute müssen sich ferner damit befassen, um das Material von einigen Handwerkern zu anderen, die häufig in entfernten Landesteilen leben, zu transportieren! Wie viel Handel und Schifffahrt sind insbesondere notwendig – neben den vielen Schiffbauern, Seeleuten, Segelmachern und Seilern, die hierzu beschäftigt werden müssen – um die meist aus allen Ecken und Enden der Welt stammenden Färbermittel zusammenzuholen! Welche vielfältigen Arbeiten sind außerdem zur Produktion der Werkzeuge der geringsten dieser Handwerker notwendig! Von solchen komplizierten Maschinen wie dem Segelschiff, der Walkmühle oder gar dem Webstuhl soll überhaupt nicht geredet werden.

(A. Smith, Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen, Akademie-Verlag 1963, Bd. 1, S. 17f.)

Smith, der an anderer Stelle den Menschen kurzerhand als „tauschendes Wesen“ begreift und daher den Austausch voraussetzt, beschreibt hier ein Kooperieren ohne Koordinieren, das allen zum Vorteil gereicht, eben weil, und dies sei nur nebenhin erwähnt, über ein kybernetisches feedback – den Preismechanismus – Bedarf und Output im Gleichgewicht sind oder zumindest zu einer Gleichgewichtslage tendieren, ohne dass hier – aufgrund der Primitivität dieses Vorgangs – weitere Implikationen zu gewärtigen sind. Wir sind in diesem Falle demnach mit einer Kooperation ohne bewusste Koordination konfrontiert, einem anarchischen Zusammenspiel, das jedoch dadurch gekennzeichnet ist, dass sich im Prinzip die Belange der Privateigentümer nicht widersprechen. Und dies, weil diese Art des Warensystems – auf Vorsintflutniveau – sich noch nicht am Tauschwert (G–W–G‘), sondern vielmehr, so wie alle präkapitalistischen Gesellschaftssysteme, am Gebrauchswert der Dingwelt orientiert (W–G–W). Oder anders gesagt: Der Gebrauchswert ist Zweck, der Tauschwert ist Mittel. Zwar sind hier – aufgrund des spontanen Charakters – Schwankungen vorprogrammiert, die aber sich stets unterhalb des Katastrophenniveaus des Raubtier-Beute-Schemas bewegen.

4.

Mit dem Vordringen des Kapitals in die Produktionssphäre ändert sich indessen die Lage diametral: Auch hier ist es zwar so, dass jeder Privateigentümer seine privaten Belange verfolgt und schließlich herauskommt, was keiner gewollt hat – doch dieses Mal ist es für die Gesamtheit fatal. Warum? Weil im Kapitalsystem zwar die Privatpersonen nach wie vor kooperieren – ohne bewusst zu koordinieren –, ihre Aktionen jedoch dem anthropologischen Grund der Produktion auf lange Sicht widersprechen. Denn aus dem Mittel, dem Tauschwert, wurde der Zweck, und aus dem Zweck, dem Gebrauchswert, wurde das Mittel. Oder anders formuliert: kapitalistische Produktion ist tauschwertorientiert, d.h. es geht hier immer nur um die Maximierung des Tauschwerts, des abstrakten Reichtums, also des Geldes, sei dies der Profit oder der Lohn (Profit- oder Lohnmaximierung). Dieser Drang zur Maximierung des Tauschwerts dynamisiert nun aber das Warensystem, und zwar dergestalt, dass sich, weil der Gebrauchswert als Mittel aufgrund der Maßlosigkeit des übergeordneten Zwecks (also der Tauschwertvermehrung) denaturiert, seiner Bestimmung entfremdet, d.h. in falsche Bahnen gelenkt wird, unvermeidlicherweise Resultate ergeben, die die tiefer liegenden Zwecke (den Gewinn des Lebensunterhalts in seiner physischen Dimension) ironischerweise durchkreuzen, so dass jedes Tun darauf hinauslaufen wird, dass sich auf lange Sicht infolge des modus operandi des kapitalistischen Warensystems (insbesondere der Produktion des relativen Mehrwerts) ein Zustand ergibt, der sich als verhängnisvoll für die Gesellschaft erweist. So müssen alle Kapitalentitäten, um überleben zu können, unentwegt „wachsen“, welches Wachsen jedoch mit dem begrenzten Ressourcenbestand kollidiert. Und dies hat auf lange Sicht durchaus katastrophale ökologische Folgen. Die Entwaldung etwa des Amazonasgebiets bringt den daran beteiligten Firmen Profit, den lokalen Arbeitern Jobs, Brasilien Devisen und den Konsumenten in Übersee Edelhölzer, Soja als Futter, Agrokraftstoffe und Fleisch. Allein, vom Standpunkt der volonté générale der globalen Gesellschaft ist dies ein völliger Schwachsinn, weil es die Welt einer ihrer Lungen beraubt.

Oder aber, um nicht von der Kapitalkonkurrenz, die nie schläft, ausgestochen zu werden, wird allenthalben ein Extramehrwert durch die Anwendung der Wissenschaft in der Produktion produziert, eine Tendenz, die schlussendlich in die Automatisierung des Produktionsablaufs mündet und somit in den Kontrast zwischen dem Überfluss auf Seiten der Kapitalentitäten und den Mangel auf Seiten der Lohnarbeitskräfte, die sich durch diesen Prozess für immer freigesetzt sehen.

Der klassische Fall jedoch ist die kapitalistische Krise: Aufgrund der Produktion des relativen Mehrwerts produziert das System zugleich einen Mangel an finalem Konsum, welcher klassischerweise durch ein überproportionales Wachstum der Abteilung I, des Produktionsmittelsektors, wettgemacht wird – bis zu dem Punkt, wo die production pour la production aufgrund des spekulativen Charakters der Nachfrage nach Maschinen und Rohstoff sich in einer Krise entlädt. Oder aber, wenn, wie zur Zeit, aufgrund der vertikalen Verflechtung die Hypertrophierung des Produktionsmittelsektors immer unwahrscheinlicher wird, so kann als Abhilfe nur – sobald der steuerbasierte Konsum infolge der Renaissance des Manchestertums zum großen Teil wegfällt – die Verschuldung des Staates sowie die der privaten Haushalte dienen – freilich nur bis zu dem Punkt, wo die Schulden nicht mehr rückzahlbar sind, und dann folgt die Krise.

5.

Das alles hat vor langer Zeit schon Friedrich Engels auf klassische Art formuliert:

Denn was jeder einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen.

(F. Engels, Brief an J. Bloch vom 21./22. 9.1890, in: MEW 37, S. 463f.)

Es wäre daher an der Zeit, das Privateigentum mit seiner Planlosigkeit durch das Gemeineigentum und die Planung auf Computerniveau zu ersetzen, um so den letzten Schritt aus dem geistigen Tierreich in die eigentliche Geschichte, die bewusst gemachte Geschichte, zu machen. Allein, auch wenn die objektiven Voraussetzungen dafür schon längst alle da sind, es fehlt das Bewusstsein, dass die bürgerliche Gesellschaft unwirklich ist. Unwirklich nämlich, weil sie vor unseren Augen dabei ist, aller Notwendigkeit verlustig zu gehen.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
2012
, Seite 15
Autor/inn/en:

Emmerich Nyikos:

Geboren 1958. Historiker, lebt als freier Autor in Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozess. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems (2010).

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