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Friedrich Geyrhofer

Preußens erster Maoist

Fichtes geschlossener Handelsstaat

Johann Gottlieb Fichte: Ausgewählte Politische Schriften. Herausgegeben von Zwi Batscha und Richard Saage, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1977, 416 Seiten, DM 10, öS 77.

Johann Gottlieb Fichte (1762-1814): Deutscher Revolutionär

Fichte gehört in die Reihe jener Theoretiker, die an der Wiege des modernen Staates stehen. In der Ära zwischen der amerikanischen Revolution und der Niederlage Napoleons leisteten sie Geburtshilfe bei der Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft. Am Ende des 18., am Anfang des 19. Jahrhunderts intervenierten das revolutionäre Naturrecht und die klassische politische Ökonomie direkt und erfolgreich in der Politik. Teils reformistische Nationalökonomen (Turgot unter Ludwig XVI., Ricardo im britischen Unterhaus), teils philosophische Juristen (Thomas Jefferson in der amerikanischen, die Jakobiner in der Französischen Revolution) haben die Theoretiker abstrakte und universale Grundsätze — die Menschenrechte und den Freihandel — von Papier in die Praxis übertragen.

In Mitteleuropa erschöpfte sich der politische Einfluß der Theorie in juristischen Kodifikationen: das Allgemeine Landrecht in Preußen, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in Österreich. Das einzige politische Resultat des deutschen Idealismus war die Autonomie der Hochschulen. 1821 ratifizierte Hegel in seiner „Rechtsphilosophie“ die Bedingungen, unter denen das deutsche Bürgertum seinen Frieden mit der Monarchie geschlossen hatte: Freiheit der Wissenschaft und der Berufswahl, Reservierung des Staatsapparates für Akademiker. Und doch gab es damals auch in Deutschland einen Zeitpunkt, an dem der theoretische Eingriff in die Politik denkbar schien.

Im Jahre 1800 publizierte Fichte sein Buch „Der geschlossene Handelsstaat“, die systematische Darlegung einer revolutionären Idealgesellschaft, die erste sozialistische Utopie mit solider ökonomischer Begründung. „Wenn man aus dem strengen Recht heraus disputiert, wird man immer recht behalten, daß die geborenen Herrscher kein Recht haben zur Herrschaft“ (p. 341). Aus diesem republikanischen Credo zieht Fichte auch für die Eigentumsverhältnisse egalitäre Konsequenzen. In diesem Punkt argumentiert er viel radikaler als Saint-Just, etwas vorsichtiger als Babeuf — immerhin sechs Jahre nach dem Sturz Robespierres, drei Jahre nach dem Schauprozeß gegen die „Verschwörung der Gleichen“, der die Jakobiner endgültig als politische Kraft in Frankreich liquidiert hatte.

Die vorliegende Auswahl politischer Schriften Fichtes ist keineswegs repräsentativ. Sie ergänzt zwar den „Geschlossenen Handelsstaat“ durch zwei spätere Texte („Vorlesungen über die Freimaurerei“ von 1802 und „Das System der Rechtslehre“ von 1812). Es fehlen aber die „Reden an die deutsche Nation“ von 1808, denen Fichte seinen Ruf als Chauvinist verdankt, sowie seine zwei anonym veröffentlichten Stellungnahmen zur Politik der Jakobiner aus dem Jahr 1793, in denen er den Terror indirekt verteidigt (nämlich die „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten“, und der „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution“, die beide von Bernard Willms unter dem Titel „Schriften zur Revolution“ im Ullstein-Verlag 1973 herausgegeben wurden).

In den Jahren von 1793 bis 1808, zwischen der revolutionären Agitation in der „Zurückforderung der Denkfreiheit“ und den sehr patriotischen Tönen der „Reden an die deutsche Nation“, liegt eine historische Zäsur: die Napoleonische Eroberungspolitik. Sie stellte nach 1800 die deutschen Intellektuellen und revolutionären Sympathisanten vor die Wahl: gemeinsam mit der französischen Fremdherrschaft auch die Errungenschaften der Revolution entweder zu akzeptieren oder total zu verwerfen.

Die Romantiker haben sich für die zweite Alternative entschieden. Typisch die Biographie Friedrich Schlegels. Zuerst ein Anhänger Fichtes (dessen „Wissenschaftslehre“ er ausdrücklich mit der Französischen Revolution verglich), im Kontakt mit den deutschen Jakobinern in Mainz (er schrieb einen Essay über Georg Forster), konvertierte Schlegel 1808 zur katholischen Kirche, verteidigte das Ancien régime und trat schließlich in den Dienst Metternichs. Auf der anderen Seite Hegel: er nahm die Partei Napoleons, glaubte bis zuletzt an den Endsieg der Franzosen und interpretierte die Restauration nach 1815 als eine Fortsetzung der Napoleonischen Reformen.

Fichte versuchte einen dritten Weg. Er wollte im Kampf gegen die französische Okkupation die revolutionären Ideale verwirklichen, aus dem Widerstand gegen die Fremdherrschaft eine nationale Revolution machen. Die „Freiheitskriege“ sollten auch vom Feudalismus befreien. 1814 ist Fichte gestorben, bevor er noch bitter enttäuscht werden konnte. In den „Reden an die deutsche Nation“ hat er die jakobinische Ideologie schon fast rassistisch umfunktioniert: die Deutschen als das „ursprüngliche“ Volk der Freiheit. Offenbar eine Kompensation für politische Schwäche. Auf diese Wunschträume berief sich der „Turnvater“ Jahn (er stand 1848 in der Paulskirche auf der Rechten) ebenso wie der linke Nationalismus eines Lassalle oder Kurt Schumacher.

Daß Fichtes Systeme fragmentarisch sind, daß eines das andere überholt, anstatt es zu ergänzen, erklärt sich aus dem politischen Tempo dieser Jahre. Die gesellschaftliche Dynamik riß die spekulative Philosophie mit. Wie eng die theoretische Entwicklung Fichtes mit der Geschichte seiner Zeit, sein scheinbar weltfremdes und abstraktes Denken mit den Interessen des deutschen Bürgertums verquickt ist, das lehrt ein Vergleich des „Geschlossenen Handelsstaates“ von 1800 mit dem „System der Rechtslehre“ von 1812. Der idealistische Jakobiner verwandelt sich in einen Propheten der industriellen Akkumulation. Während im „Geschlossenen Handelsstaat“ aus den Menschenrechten die ökonomische Demokratie abgeleitet wird, dominiert zwölf Jahre später, im „System der Rechtslehre“, die kapitalistische Entwicklung über das jakobinische Ideal. Dabei handelt es sich um keinen Verrat, vielmehr um einen Lernprozeß: das revolutionär gestimmte Bürgertum entdeckt allmählich seine wirklichen Interessen.

Der „Geschlossene Handelsstaat“ konstruiert eine Zukunftsgesellschaft von selbständigen Bauern, Handwerkern und Kaufleuten, ohne Lohnarbeit, ohne Ausbeutung, ohne Metallgeld und auf der Grundlage rigoroser Gleichmacherei (von der nur die Beamten und die Gelehrten ausgenommen sind). Der Staat kontrolliert bis ins kleinste Detail die Produktion und reguliert den Austausch. Um die wirtschaftliche Stabilität gegen externe Einflüsse zu sichern, tritt der Staat aus dem Weltmarkt aus, schließt seine Grenzen gegen das Ausland ab und führt eine Papierwährung ein, die nur im Inland Kaufkraft besitzt (die französische Doktrin der „natürlichen Grenzen“ wird auch für Preußen empfohlen).

Vom Programm Babeufs und der kommunistischen Jakobiner unterscheidet sich der „Geschlossene Handelsstaat“ durch seine sorgfältige ökonomische Planung. Das Ziel ist das gleiche: jeder soll leben können von seiner Arbeit, die ihm der Staat zuteilt und garantiert. Fichte schreibt: „Es sollen erst alle satt werden und fest wohnen, ehe einer seine Wohnung verziert, erst alle bequem und warm gekleidet sein, ehe einer sich prächtig kleidet ... Es geht nicht, daß einer sage: ich aber kann es bezahlen. Es ist eben unrecht, daß einer das Entbehrliche bezahlen könne, indes irgendeiner seiner Mitbürger das Notdürftige nicht vorhanden findet“ (p. 79). Bei den Anhängern Babeufs heißt es kurz und bündig: „Was nicht allen erreichbar ist, muß streng abgeschafft werden.“

Das revolutionäre Naturrecht hatte mit den Menschenrechten auch Gleichheit versprochen. Aber die revolutionäre Politik schaffte nur eine politische Gleichheit, die die ökonomischen Differenzen verschärfte. Ein Volkstribun der Sansculotten rief aus: Ist es ein Verbrechen, einen Magen und kein Geld zu haben? Ein Manifest aus dem Jahre 1792 empörte sich gegen die Getreidespekulanten: „Der Durst nach Reichtum kann nur mit Strömen von Blut gelöscht werden.“ Die periodischen Hungersnöte im Paris der neunziger Jahre haben Robespierre zuerst an die Macht und dann auf die Guillotine gebracht. Fichte begriff also sehr gut das zentrale Thema der Französischen Revolution: das Recht auf Existenz, die ökonomische Verwirklichung der Menschenrechte.

Er versuchte, das Problem zu lösen, an dem der Wohlfahrtsausschuß gescheitert war. Der „Geschlossene Handeisstaat“ liest sich wie ein posthumer Ratschlag an die versackte Französische Revolution — oder wie ein Programm für die kommende deutsche. Die Crux der Revolution war das Privateigentum. An diese Institution, die 1789 von den feudalen Fesseln befreit worden war, wagten sich die regierenden Jakobiner nicht einmal in Gedanken heran, obwohl sie von Rousseau eine rhetorische Verachtung des Reichtums gelernt hatten und obwohl sie vom Hunger der Pariser Massen vorwärtsgepeitscht wurden.

Direkte Eingriffe in das Eigentum hätten die Jakobiner mit ihrer Klientel, mit den Handwerkern, den Bauern und den Aufkäufern der Kirchengüter, in Konflikt gebracht. Gleichzeitig träumten diese Moralisten von einer Gesellschaft bescheidener („tugendhafter“) Kleinproduzenten ohne Luxus und ohne Elend. Robespierre, Saint-Just und Thomas Jefferson wünschten eine langsame Aufspaltung des großen Grundbesitzes durch Erbteilung und Verpachtung: also eine schleichende „Dekonzentration des Kapitals“. Alle Versuche aber, das Eigentum wenigstens durch Vermögensgrenzen anzugreifen, wurden unterdrückt. Erst nach dem Thermidor 1794 propagierte Babeuf eine wirklich kommunistische Politik.

Dieses Dilemma — Nivellierung und Verteidigung des Eigentums — beseitigte Fichte durch einen philosophischen Trick: durch eine originelle Neudefinition, die das Eigentum logisch mit der Gleichheit identifiziert. Fichte definiert nämlich das Eigentumsrecht als „das ausschließende Recht auf Handlungen, keineswegs auf Sachen“ (p. 73). Das Recht auf Arbeit, das die egalitäre Verteilung des Besitzes mit dem Privateigentum verträglich macht. Ein Grundstück kann mehreren Personen gehören, wenn sie es voneinander unabhängig benützen. Bei den Handwerkern (Fichte nennt sie „Künstler“, die kein Land besitzen, findet sogar ein „ausschließendes Recht auf Tätigkeit statt, ohne Eigentum irgendeiner Sache“ (p. 109).

Die bürgerliche Form des Eigentums: Was mir gehört, gehört nicht dir. Fichtes Neudefinition: Was ich arbeite, darfst du nicht arbeiten. Deshalb verlangt der „Geschlossene Handelsstaat“ die Wiedereinführung der Zünfte, die kurz vorher in Preußen abgeschafft worden waren. Fichtes Definition hat also mit dem bürgerlichen Eigentum nur den exklusiven Charakter gemeinsam. „Das ausschlieBende Recht auf Handlungen, keineswegs auf Sachen“: eine solche Definition des Eigentums schließt von vornherein den Kapitalismus aus, ohne ihn zu begreifen, ohne ihn zu kritisieren. Den Kapitalismus gibt es nicht.

Im transzendentalen Idealismus der „Wisschenschaftslehre“ schafft erst die subjektive Tätigkeit des Ich das objektive Sein des Nicht-Ich. Im revolutionären Naturrecht steht der einzelne Mensch unvermittelt, ohne sozialen Kontext, der Natur gegenüber. Er tritt in einen Gesellschaftsvertrag mit den anderen Menschen, durch den er aber nur Rechte gewinnt, keine Hilfe: „Jeder verpfändet einen Teil seiner Freiheit, um den übrigen als ein Recht zu erhalten“ (p. 236). Die Arbeit ist die Quelle des Reichtums, die Natur an sich wertlos. Auf derartige Behauptungen im Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokratie hat Marx 1875 mit dem materialistischen Hinweis geantwortet, daß auch das bloße Eigentum an der Natur sehr wohl wertvoll ist: es bringt die Kontrolle über die Arbeit anderer Menschen.

Fichtes Definition des Eigentums ignoriert das Privateigentum an den Produktionsmitteln: lediglich die individuelle Arbeit zählt. „Was der eine darf, darf durchaus kein anderer“ (p. 226). Vorausgesetzt wird die „natürliche“ Einheit des Arbeiters mit seinem Arbeitsmittel, das selbstverständliche Eigentum des Handwerkers an seinem Werkzeug. Fichte argumentiert, daß sich das Eigentum an einer Sache nur durch den Gebrauch manifestiert. Ein Eigentumsrecht ohne persönliche Tätigkeit des Eigentümers sei ein Hirngespinst, ein abstrakter Gedanke, eine juristische Fiktion. Wie könnte der Mensch Dinge besitzen, ohne aktive Beziehungen mit ihnen aufzunehmen?

Die Identität von Person und Sache, Arbeiter und Arbeitsmittel: das ist die „Natur“ des revolutionären Naturrechts. Natürlich weiß auch Fichte, daß in der bestehenden Gesellschaft der Eigentumsbegriff ganz anders aussieht — Denkfehler, den die Philosophie korrigiert. Wer an den konventionellen (kapitalistischen) Begriff des Eigentums glaubt, der leidet unter der Krankheit, „das Zufällige für notwendig zu halten“ (p. 113). Das revolutionäre Naturrecht konfrontiert die irrationale Wirklichkeit mit den rationalen Begriffen der Vernunft.

Fichte stellt sich die Gesellschaft als Gefüge von subjektiven Rechten vor, deren Herzstück die universalen Menschenrechte sind: „Der Form des Rechts gemäß kann die Staatsgewalt nur durch alle errichtet werden“ (p. 235). So muß man die Präambel der modernen Verfassungen lesen: „Alles Recht geht vom Volke aus.“ Nicht von der wirklichen Gesellschaft mit ihren Abhängigkeiten, Machtkämpfen und ihrer hierarchischen Gliederung. Vielmehr von der Summe souveräner Personen, die sich wie Atome im leeren Raum bewegen.

Das Eigentum, als Recht an Sachen verstanden, ist jedoch keineswegs universal. Es ist nur das spezielle Recht der Besitzenden an ihrem Besitz, nicht das allgemeine Recht aller Menschen. „Alle haben Anspruch auf alles“ (p. 241). Das Eigentum kann folglich kein Grundrecht sein, obwohl es im Naturrecht die Grundlage der Menschenrechte bildet. Diesen Widerspruch löst der bürgerliche Staat, indem er die staatsbürgerliche Gleichheit von der wirtschaftlichen Ungleichheit trennt. Fichte hingegen interpretiert das Eigentum in ein ökonomisches Menschenrecht um: in das Recht auf Arbeit, auf das Arbeitsmittel und auf den Ertrag der Arbeit. „Ihr sollt leben können, wenn ihr arbeitet“ (p. 270).

Deutsche Jakobiner in Aktion: 1848 in Frankfurt

Arbeiten kann und muß jeder. Im „Geschlossenen Handelsstaat“ sind Kategorien wie Mehrwert, Rente und Ausbeutung logisch unmöglich. Er ist als ein egalitärer Ständestaat organisiert, in dem jeder Berufsstand das Privileg auf eine bestimmte Tätigkeit besitzt. Es gibt kein Eigentum an Grund und Boden, nur das Recht der Bauern an ihrer Arbeit. Es gibt auch keine Manufakturen, keine Fabriken, keine industrielle Kooperation. Der durchdachte Planstaat Fichtes fußt auf individualistischen Prämissen, auf handwerklicher Technik und auf entsprechender Arbeitsteilung zwischen den Berufsständen. „Der Ackerbauer muß zu jeder Stunde ganz seiner Feldarbeit leben, der Verarbeiter dagegen seiner Arbeit. Keiner muß durch den anderen gestört werden“ (p. 268).

Bezeichnenderweise wird der Handwerker „Verarbeiter“ genannt. Das physiokratische Weltbild, in dem die Urproduktion die ganze Gesellschaft beherrscht. Fichte erwägt den Fall, daß die Landwirtschaft zuwenig Getreide produziere. Dann werden einige Handwerker Bauern. Es fällt ihm nicht ein, daß die Handwerker die agrarischen Produktionsmittel verbessern und damit die Ernten steigern könnten. Technischer Fortschritt und Steigerung der Produktivität würden das ausgeklügelte System nur in Verwirrung stürzen. Der geschlossene Handelsstaat realisiert das „Recht, unsere gesamten Rechte für alle Zukunft zu sichern“ (p. 248). Nichts bleibt dem Zufall überlassen.

Ein Postulat, das die Furcht des Kleinbürgertums vor der Proletarisierung, vor dem Verlust seiner Unabhängigkeit verrät. Niemand kann reich, niemand arm werden. Der Klassengegensatz von Lohnarbeit und Kapital wird ausgeschaltet, im geschlossenen Handelsstaat sind Gewerkschaften sinnlos (während der Französischen Revolution wurden sie von den Jakobinern verboten). Ein Wohlfahrtsstaat ohne Sozialleistungen, ein Sozialismus des individuellen Privateigentums, eine Planwirtschaft, in der jeder für eigene Rechnung arbeitet. Die Utopie kleiner Warenproduzenten, die unabhängig wirtschaften, minimalen Profit einstreichen, stabile Preise und stabilen Absatz brauchen.

Auf diesem Punkt — Sicherung der Nahrung — sind die Jakobiner stehengeblieben. Auguste Blanqui greift 1865 den Hochkapitalismus mit naturrechtlichen Argumenten an, die aus dem Arsenal des „Geschlossenen Handelsstaats“ von 1800 stammen könnten. Die Arbeitsteilung führt zur Entfremdung zwischen Produktion und Konsum. Blanqui erläutert seine Wirtschaftstheorie im Streitgespräch eines Wucherers mit einem verschuldeten Tischler. Der Wucherer wird immer reicher, weil er sich an die Devise hält: „Verkaufen wir viel, und kaufen wir möglichst wenig.“ Der Handwerker wird immer ärmer, weil er seine Familie anständig ernährt, doch für seine Möbel keine Käufer findet.

Die Planwirtschaft des „Geschlossenen Handelsstaats“ gleicht Konsum und Produktion aus. Der Staat bestimmt die Preise und hält sie stabil. Jedermann weiß zuverlässig, wieviel Geld er verdient und was sein Geld wert ist. Immerhin denkt Fichte schon in so modernen Kategorien wie Planwirtschaft, Gleichgewichtszustand und staatliche Währungspolitik. Das ist der Unterschied zu den älteren Utopisten. Während Platon, Thomas Morus, Rousseau und dessen jakobinische Schüler die Gesellschaft in erster Linie unter dem moralisch-politischen Gesichtspunkt des guten und glücklichen Lebens beurteilen, konstruiert Fichte erstmals einen Idealstaat auf wirtschaftlicher Basis und als ein konsequent ökonomisches System.

Fichte ist der erste sozialistische Nationalökonom, der erste Kritiker der politischen Ökonomie von links. Seine Kritik aber richtet sich nicht gegen das industrielle Kapital, sondern bloß gegen das kommerzielle. Er selbst erwähnt einmal seinen Ruf als Feind des Handels. Der geschlossene Handelsstaat — der in Wahrheit ein Zunftstaat ist — schließt sich gegen den Weltmarkt ab und beschränkt den Binnenhandel auf die Verteilung von Gütern zu den staatlich verordneten Preisen. Das Aushandeln von Preis und Ware — das „Markten“ — nennt Fichte empört „ein höfliches Ausforschen der Not des anderen“ (p. 289). In diesem Weltbild ist der Mehrwert mit dem Betrug identisch, entsteht der Profit aus der Übervorteilung des Kunden, nicht durch die Ausbeutung des Lohnarbeiters.

Der Handel verletzt die Menschenrechte. „Die Not macht den Kauf und so den Preis“ (p. 289). Hier spricht weniger der Schüler der französischen Jakobiner als der authentische Denker des preußischen Kleinbürgertums. Zum historischen Hintergrund des „Geschlossenen Handelsstaats“, der den Freihandel abschafft, gehören die merkantilistischen Handelskriege des 17. und 18. Jahrhunderts, die ihren Höhepunkt mit der Kontinentalsperre Napoleons erreichten. Ferner die internationale Arbeitsteilung, wie sie sich seit Anfang der Neuzeit zwischen West- und Osteuropa entwickelt hatte: In der Phase der ursprünglichen Akkumulation degradierten das französische und das englische Manufakturkapital die Wirtschaft Preußens, Polens und Rußlands auf den schon damals undankbaren Status des Rohstofflieferanten.

Zur gleichen Zeit, als in England Ricardo mit der Theorie der „komparativen Kosten“ den Weltmarkt und die internationale Arbeitsteilung rechtfertigte, entdeckte Fichte die Asymmetrie im Welthandel. „Hier ist Gewalt, durchaus nicht Recht“ (p. 289). Fichte beschreibt (p. 126) die ökonomische Auspowerung Norddeutschlands durch das englische Kapital: ein typisch „neokolonialistisches“ Verhältnis. Er bemerkt, daß die europäischen Staaten zusammen einen Interessenverband bilden, der die übrige Welt — die Dritte Welt — gemeinsam ausbeutet.

Ricardo empfiehlt die weltweite Ausdehnung des Freihandels, Fichte den Austritt aus dem Welthandel. 1833 hat Preußen mit der Gründung des deutschen Zollvereins einen Mittelweg eingeschlagen. Der geschlossene Handelsstaat trägt viele Züge einer ökonomischen Entwicklungsdiktatur, mit der sich ein unterentwickeltes Land gegenüber den überlegenen Metropolen zu behaupten versucht. Deshalb der nationale Sozialismus in den „Reden an die deutsche Nation“, ein Vorläufer des revolutionären Nationalismus in der Dritten Welt von heute. Deshalb aber auch die krassen Widersprüche in Fichtes Wirtschaftstheorie. zwischen dem „Geschlossenen Handelsstaat“ von 1800 und dem „System der Rechtslehre“ von 1812. Der Sozialismus wird dem industriellen Fortschritt geopfert.

In der Zwischenzeit nämlich hatte Napoleon mit der Kontinentalsperrre den geschlossenen Handelsstaat auf eine Weise verwirklicht, die definitiv diesen Gedanken diskreditierte. Fichte, der Widerstandskämpfer gegen die Napoleonische Eroberungspolitik, mußte 1812 den Wunsch nach staatlicher Autarkie aufgeben. Auf einmal heißt es: „Erhöhung des Weltwohlstandes durch den Handel der Staaten“ (p. 300). Das „System der Rechtslehre“ greift zwar auf die Konzeption des geschlossenen Handelsstaats zurück, präzisiert sie in vielen wichtigen Einzelheiten — gleichzeitig jedoch führt Fichte, ganz unvermittelt, in sein System die Akkumulation des industriellen Kapitals ein. Er zerstört durch diesen Gedankensprung die rigorose Gleichmacherei, „ewige“ Stabilität und konsequente Logik des jakobinischen Idealstaats.

Zwei miteinander unverträgliche ökonomische Modelle werden im „System der Rechtslehre“ entwickelt. Neben der egalitären, technisch konservativen Bedarfswirtschaft kleiner Handwerker und Bauern taucht urplötzlich ein moderner, industrieller Sektor mit Lohnarbeit und Kapital, Privatinitiative und technischem Fortschritt, Metallgeld und Anschluß an den Weltmarkt auf: alles Dinge, die ja zwölf Jahre früher streng verboten waren. In Fichtes Naturrecht, ging es schon 1812 so zu wie im heutigen China nach dem Sturz der „Viererbande“: Der Held ist nicht mehr der revolutionäre Handarbeiter, sondern der technische Erfinder und der vom Staat unterstützte Unternehmer.

Anscheinend ist Fichte diese Diskrepanz gar nicht aufgefallen. Ebensowenig bemerkte er, daß in seinem neuen System der Besitz von Geld das jakobinische Recht auf Arbeit verdrängt. In der Theorie von 1812 wird das Geld ausdrücklich als „Freiheit von der Arbeit“ definiert: als die Freiheit des einzelnen, „seine Freiheit zu brauchen, wie er will, auf welches absolute Eigentum der Staat gar kein Recht mehr hat“ (p. 303). Vor Tische las man’s anders. Im „Geschlossenen Handelsstaat“ hieß es klipp und klar: „Das Geld ist an und für sich selbst gar nichts; nur durch den Willen des Staates repräsentiert es etwas“ (p. 100).

Unverkennbar der Schwenk Fichtes von einer kleinbürgerlichen zur großbürgerlichen Ideologie. Das Zwangsrecht auf Arbeit, dieses Herzstück der Utopie von 1800, wird zwölf Jahre später durch das staatlich verbürgte Recht auf Muße, Bildung und Kultur modifiziert. Der schärfste Widerspruch im „System der Rechtslehre“ betrifft die Stellung zur Technik. Einerseits erklärt sich Fichte gegen den technischen Fortschritt: „Die Person hat das Recht zu fordern, daß in dem ganzen Bezirk der ihr bekannten Welt alles bleibe, wie sie dasselbe erkannt hat“ (p. 247). Andrerseits beugt er sich den Notwendigkeiten der industriellen Revolution: Die Handwerker werden gezwungen, mit Maschinen zu arbeiten, „und der, welcher derselben sich nicht bedient, geht ein und stirbt ab“ (p. 296).

Das Recht auf „leben können“, die Prämisse des geschlossenen Handelsstaats, wird damit negiert. Mit einem Wort, der Jakobiner ist weder ideologisch noch politisch der industriellen Revolution gewachsen. Konfrontiert mit dem Frühkapitalismus, verwickelt sich das revolutionäre Naturrecht in eklatante Widersprüche, die Theorie kapituliert vor der kapitalistischen Praxis. Das berührt auch die philosophischen Grundlagen. In den Jahren von 1800 bis 1812 mausert sich der subjektive Idealismus der „Wissenschaftslehre“ zum Subjekt-Objekt der Identitätsphilosophie. Schelling wirft in einer brieflichen Kontroverse aus dem Jahr 1801 Fichte vor, die Natur habe in der „Wissenschaftslehre“ bloß eine „teleologische Bedeutung“: Die Luft ist zum Atmen da, das Licht zum Sehen. Daraus spricht der naive Utilitarismus des Handwerkers, der seine bescheidenen Arbeitsmittel kontrolliert, der weiß, wofür er arbeitet.

Ein Utilitarismus, der von der gesellschaftlichen Entwicklung widerlegt wurde. Im Rahmen der industriellen Produktion reicht das simple Schema von Zweck und Mittel ebensowenig aus wie das Prinzip der individuellen Selbsterhaltung. Fichte, dessen Definition des Eigentums die Arbeitsmittel ignoriert, steht im „System der Rechtslehre“ vor dem Problem des konstanten Kapitals. Notgedrungen akzeptiert er die Unvermeidlichkeit von „Arbeiten, die unmittelbar gar nicht, sondern nur mittelbar zweckmäßig sind“ (p. 292) — z.B. Experimenten mit neuen Maschinen, Verbesserungen der Infrastruktur. Um dieses Problem zu lösen, führt Fichte den Kapitalismus und das Privateigentum an den Produktionsmitteln ein.

So zieht der Verfasser des „Geschlossenen Handelsstaats“ eigenhändig die historische Grenze des jakobinischen Sozialismus. Er hat die Träume Saint-Justs und Babeufs, die heute noch das ideologische Vokabular des modernen Staates in seinen bürgerlichen und „sozialistischen“ Varianten bilden, zu Ende gedacht und damit der Absurdität überführt. 1808 veröffentlichte Charles Fourier seine „Theorie der vier Bewegungen“. Fourier lehnte die Französische Revolution ab. Sein utopischer Sozialismus stellte dem jakobinischen Ideal kleiner Warenproduzenten den technischen Fortschritt entgegen, der moralischen Gleichmacherei die Befreiung der Triebe, der handwerklichen Arbeitsteilung die universelle Aneignung der industriellen Arbeit, dem Sozialismus des Mangels den Sozialismus des Reichtums.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Oktober
1977
No. 286, Seite 53
Autor/inn/en:

Friedrich Geyrhofer:

Geboren am 03.09.1943 in Wien, gestorben am 16.07.2014 ebenda, studierte Jus an der Wiener Universität, war Schriftsteller und Publizist sowie ständiger Mitarbeiter des FORVM.

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