Weg und Ziel » Jahrgang 1997 » Heft 5/1997
Roger Behrens

Popbiografien

Chris Cutler, File Under Popular. Texte zur populären Musik, aus dem Englischen von Troy Rapp, mit einem Nachwort von Stefan Leitner, Buchverlag Michael Schwinn, Neustadt 1995, 224 Seiten, 150 Schilling, 24 DM.

David Dufresne, Rap Revolution, Geschichte — Gruppen — Bewegung. Mit einem Update von Günther Jacob, aus dem Französischen von Jutta Schornstein, AtlantisSchott Verlag, Mainz et al. 1997, 457 Seiten, 182 Schilling, 24,90 DM.

Johannes Forner, Brahms, Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1997, 318 Seiten, 409 Schilling, 56 DM.

Der Kapitalismus ist den Künsten feindlich gesonnen, sagte Marx einmal beiläufig. Daß die auf Profit bedachte Warengesellschaft nicht die Brutstätte von Schönheit und Sinnlichkeit sein könne, klingt plausibel, obgleich unübersehbar ist, mit welchen sinnlichen Raffinessen der Kapitalismus die Welt des Scheins gerade ästhetisch überhöht. Hegel sprach idealistisch vom „Ende der Kunst“; die Anschauung ist weniger zur Darstellung des Absoluten geeignet als das begriffliche Denken. Das markierte bei Hegel die Wende der Kunst von der Antike zur Moderne. — Gegen den etwaigen Einspruch, daß doch allerdings in keiner Zeit soviel „Kunst“ sei wie in unserer, ist Hegels Gedanke und seine materialistische Wendung dialektisch gerüstet: denn die vermeintliche Vielfalt der Künste zeige den Verlust ihrer gesellschaftlichen Funktionen, verrät ihre Orientierungs- und Ortlosigkeit sowie Beliebigkeit. Gegen den Fortschritt der Menschheit, gegen Reflexion und Engagement scheinen die Künste gleichgültig geworden zu sein, nur sinnliche Reize bedienen sie. Hegel wertet das Ende der Kunst noch positiv: sie hebt sich auf in Höherem. Der Rückfall der Massenästhetik auf billigste Animationen des schönen Scheins, wo die Zwecke zur Reklame für die Welt diktiert sind, benennt das falsche Ende der Kunst. Zugleich erhält sich Kunst in diesem falschen Ende einen Rest, auch an Widerständigkeit. Daß Kunst heute sich reibungslos in den kulturindustriellen Markt als Ware einfügt, gibt Auskunft über eine umgreifende Demokratisierung, die so aussieht, daß jeder Zugriff auf Produkte hat, die in ihrer Verfügbarkeit unnütz und überflüssig sind. Daß gleichwohl der Bereich der Kulturproduktion zu einer der gewinnträchtigsten und umsatzstärksten Industrien sich entwickelte, dürfte weniger an der sinnlichen Macht des ästhetischen Scheins liegen, als vielmehr mit der Angst der Menschen zu tun haben, der Lüge von der Bedeutung kultureller Waren gewahr zu werden.

Davon profitieren vor allem die Musikrichtungen im Pop, ja der Pop als kulturindustrielle Sparte insgesamt. Die Attitüde vom „Ende der Kunst“ gebraucht der Pop noch nihilistisch; pseudoliberal bekämpft er den Popanz des Elitismus der Kunstmusik — um am Ende selbst wie Kunst dazustehen. Die gewieften Anführer des Popdiskurses wollen noch im Scheitern der Popkultur das ideologische Motiv retten, der Pop sei so etwas wie die Verwirklichung der künstlerischen Avantgardeforderung, die Spaltung zwischen Kunst und Leben zu annullieren. Daß durchaus die Grenzen zwischen Leben und Kunst verwischen, gerade in den Popkulturen, die den sozial Unterdrückten als ihr „authentischer Ausdruck“ vorbehalten sind, markiert keineswegs ein rebellisches und subversives Element: mit Kunst im Sinne des bürgerlichen Emanzipationspotentials hat es sowenig zu tun wie „Leben“ hier die freie Entfaltung von Subjektivität meint. Gerade um die avantgardistische Forderung gehaltvoll zu bewahren, appelliert kritische Theorie nicht für eine gewaltsame Reduktion der Sphären von Kunst und Leben, sondern als Anwalt des unterdrückten Lebens für Autonomie der Kunst.

In dieser Hinsicht sind Chris Cutlers Überlegungen zu lesen, um sie fruchtbar zu machen. Der Band „File Under Popular. Texte zur populären Musik“ enthält neben allgemeinen Ausführungen und Analysen zum Begriff der populären Musik und ihrer Formen Beiträge zu spezifischen Themen: „The Residents“; „Phil Ochs und Elvis Presley“; „Progressive Musik in Großbritannien“; „Plunderphonics“ (ebenfalls erwähnenswert: im Anhang findet sich auch ein Abschnitt mit Fotografien, vor allem unbekannten aus dem Cutler-Umfeld, das sind Henry Cow, Art Bears etc.). Aufschlußreich sind die Überlegungen in „Was ist populäre Musik“ und „Notwendigkeit und Auswahl musikalischer Formen“. Cutler versucht eine Genealogie der populären Musik, die sonst nur soziologisch abgeleitet wird, aus einer großgeschichtlichen Rückschau, sowohl musikalische, ästhetische wie technische Aspekte berücksichtigend. Für die Definition von „populär“ werden dabei auch Marxsche Kategorien wichtig, etwa die Arbeitsteilung, das Bandkollektiv und die Auseinandersetzung mit Produktivkräften. Zentral ist die geschichtliche Differenzierung von Volksmusik, Kunstmusik und Pop. In der populären Musik, so die These, konvergieren transformierte Volkstechniken und fortschrittliche Produktionsmedien, vermittelt durch die Kunstmusik, deren progressive Elemente gleichsam in den Pop eingehen. Will man Cutlers Empfehlung aufgreifen und sein Buch als „Anregung zur Diskussion unter Musikern und anderen Interessierten“ nehmen, so meldet sich erste Kritik in drei Punkten an: Cutlers Begriff der Volksmusik setzt zu affirmativ an, weil er nur die musikalische Formentwicklung — „das biologische Gedächtnis: Der Volksmodus“ (30ff.) — historisch analysiert, nicht aber die Entwicklung des sozial-historischen Gedächtnisses des musikschaffenden Menschen. So bleibt die Frage nach dem Zweck der Musik ausgespart. Daß im Pop die alten Kräfte der Volksmusik erneut zur Geltung kommen, verlangt den Hinweis, warum dies positiv sei. Cutler scheint dies jedoch primär aus den technischen Möglichkeiten abzuleiten — wie in der Volksmusik ist im Pop „Tonaufzeichnung (...) Klangerinnerung“ (39). Es will scheinen, als ob Cutler grundsätzlich einen musikalischen Fortschritt unterstellt — in seiner durchaus historisch und materialistisch angelegten Begriffsklärung populärer Musik läuft er Gefahr, aus Beschreibungen des empirischen Materialstands ästhetische Werturteile abzuleiten.

Dies ist nicht Cutler persönlich anzulasten, sondern gehört geradehin schon zum Mechanismus des Pop: Deskription in normative Sachurteile umschlagen zu lassen, darauf rechnet eine zur Ware gewordene Kunst, die innerhalb der Kulturindustrie sich qualitativ nicht mehr anders zu behaupten weiß. Neben dem Verfahren, vom empirischen Materialstand ästhetische Urteile zu deduzieren, hat sich gleichfalls die Popdiskurslogik etabliert, subjektives Wohlgefallen zum Maßstab der Objektivation zu erklären. Nicht von ungefähr fällt die Kulturindustrie in das Zeitalter bürgerlicher Wissenschaft, die zwischen Positivismus und postmodernem Relativismus rangiert. Im Pop zeigt das Resultate; gerade in den popkulturellen Feldern, die größte subjektive Affektion erregen und zugleich zur Legitimation des Geschmacks die objektivierende Diskursivierung erzwingen. Die Moden, die Streitpunkte waren, veralten hoffnungslos; an der kommenden Mode erregen sich die Gemüter wie am absoluten Novum. Heute wird über Techno diskutiert, als hätte es dieselben Diskussionen nicht schon hinsichtlich HipHop, Punk und dergleichen gegeben.

Wes Wilson

Neuauflagen von Büchern, die ihren zeitlichen Bezugspunkt haben, der eben zurückliegt, erhalten dabei den Charakter des historischen Dokuments. Dies gilt für David Dufresnes „Rap Revolution“ — sicher eines der besten Bücher, die zum Thema Rap zu haben sind. Dufresne schreibt die Geschichte des HipHop und Rap anhand von Musiker- und Bandgeschichten. Günther Jacob ergänzt dies durch Einbezug der Rezeptionsmechanismen und lieferte für das Buch ein (fast die Hälfte im Umfang ausmachendes) „Update“. „Während sich die Auseinandersetzung früher als Gegensatz zwischen ,Hochkultur‘ und angeblich trivialer ,Kulturindustrie‘ darstellte, hat sich diese Auseinandersetzung seit dem flächendeckenden Sieg der Kulturindustrie über das elitäre Bildungsbürgertum in die popkulturellen Sektoren selbst verlagert. Weil der Abgrenzungs- und Unterscheidungszwang in der kapitalistischen Gesellschaft nicht verschwindet, werden die Hierarchien in der Popkultur selbst reproduziert“ (Jacob 422). Dazu gehört auch, daß die gewählten Werkzeuge zur Distinktion den Legitimationsverfahren bürgerlicher Hochkultur, zu der man sich heute bewußt zu verhalten glaubt, unmittelbar entlehnt sind. Zum Problem wird dann immer — das war oben mit Positivismus und Subjektivismus auch in bezug auf Cutler gemeint — das Verwischen von Distinktionsebenen: zwischen dem E-/U-Diskurs, der sich in den Pop verlagert, dem Diskurs, der HipHop gegen andere Popmusik ausspielt, und dem Diskurs der im HipHop selber Unterscheidungen ansetzt, vollziehen sich Sprünge über Grenzen, die nicht klar ausgewiesen sind. Jacob gehört zu den wenigen, die nicht einem Kulturalismus blind erliegen: er bringt Pop immer wieder auf die politischökonomische Problematik zurück. Allerdings regt sich der Verdacht, daß die luziden Analysen etwa der Zusammenhänge zwischen europäischer Rap-Rezeption und Rassismus merkwürdig ziellos bleiben gegenüber Sätzen, in denen Forderungen kulminieren: „Für Leute, die gerne HipHop hören, sollte es völlig unerheblich sein, ob die Musik aus Los Angeles, Hamburg oder Rimini kommt. Neuveröffentlichungen können letztlich nur an genre-immanenten Kriterien beurteilt werden, etwa am Zusammenspiel von Groove und Rap oder am Pointenreichtum der Texte“ (Jacob 397). Was meint die Beurteilung des Zusammenspiels musikalischer Elemente (mit Jacob befinde ich mich über diesen Punkt in der Diskussion; bei Übereinstimmung unserer Positionen kritisiert er den Versuch, eine materialistische Materialästhetik zu begründen, den ich für notwendig halte; vgl.: Jacob, Vom Song zum Sound, in: »junge welt«, 5.3.1997)?

Dufresne verfährt mit seinem Buch weitgehend nach dem Vorbild der Biografie. Es war Leo Löwenthal, der schon für die früheste bürgerliche Literatur darauf verwies, daß das Verhältnis zwischen Hoch- und Massenkultur weniger durch Diskriminierung als durch abgrenzende Aneignungsund Aufwertungsstrategien funktioniert. Die Biografie bzw. die biografische Mode, so hat er gezeigt (vgl. Schriften 1, Frankfurt am Main 1990, 231ff.), gehört wesentlich für unsere Zeit dazu. Im Interesse am Subjektiven, am persönlichen Schicksal, soll sich künstlerische Qualität bestätigen. Der Rap eignet sich für das biografische Verfahren allerdings ebenso wie sein bürgerlicher Feind, die Kunstmusik. So ist aus gegebenem Anlaß — Johannes Brahms 100. Todestag — etwa auf Johannes Forners Biografie „Brahms“ zu verweisen. „Wäre nicht das Werk, wäre die Biographie heute ohne Interesse (...) Brahms hat nicht philosophiert, er hatte keine Schriften verfaßt, keine Revolution ausgerufen, keiner Partei angehört, keine Affären gehabt (...) Johannes Brahms war das Gegenteil einer schillernden Gestalt“(11). Und das Werk, was nun die Biografie rechtfertigen soll (deren These darin angelegt ist, Brahms als „Sommerkomponist“ auszuweisen), trifft auf einen Komponisten, der sich in seiner Musik, die Eduard Hanslick nicht umsonst als Paradefall der „absoluten Musik“ hörte, ganz zurücknimmt. Dem Interessierten mag die Biografie zusagen — sie empfiehlt sich denjenigen, die auf das Philharmonische Konzert abonniert sind, ebenso wie sich Dufresnes Rap-Buch dem versierten B-Boy und B-Girl schmackhaft macht.

Der Kapitalismus ist den Künsten feindlich gesonnen, die Künste sind in ihrem falschen Ende befangen. Vielleicht gibt es eine Geschichte, die sich im Beiläufigen sedimentiert: wenn es richtig ist, daß Kunst ihren Sinn, ihre Funktion eingebüßt hat, dann vermag sich für Augenblicke ein Sinnmotiv als Derivat des ästhetisierten Warenscheins konstellieren. Daß die Geschichte des Pop etwas meinen kann, was mit dem hergeholten Begriff von Kunst gar nicht greifbar ist, zeigt die Linie der Fotografien im Brahms-Buch, bei Cutler und in „Rap Revolution“.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1997
, Seite 44
Autor/inn/en:

Roger Behrens:

Geboren 1967. Lebt in Hamburg, Weimar und Belo Horizonte. Philosoph und Sozialwissenschafter. An mehreren Universitäten, bei testcard und Zeitschrift für kritische Theorie tätig. Buchautor, zuletzt: Verstummen. Über Adorno (2004).

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