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Raimund Löw • Nina Scholz

Politischer Islam – gibtʼs den denn?

Pro/Contra im „falter“ — Nina Scholz erschien dort im Druck gekürzt, online hinter Paywall versteckt; hier nicht, sondern wir beginnen damit den Islam-Diskurs im FORVM. Am 9. Dezember hat der „falter“ seine online-Version freigeschaltet. Sollte der Diskurs auch dort fortgesetzt werden? Gut wär´s.

Bange Frage im „falter“ Nr. 49 – Vorspann und zwei divergierende Antworten:

Die Rede vom politischen Islam hat Konjunktur. Die Regierung will daraus in den Nachwehen des Terroranschlags von Wien gar einen Straftatbestand formen. Bleibt nur noch zu klären, was unter dem Begriff eigentlich zu verstehen ist.

Die Politikwissenschaftlerin Nina Scholz beantwortet die Frage mit JA, der Leiter des Podcasts FALTER Radio mit NEIN.


 

JA

Kommentar von Nina Scholz

Nina Scholz ist Politologin und Autorin. Sie hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht. Zuletzt: „Alles für Allah: Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert“, Molden Verlag, Wien 2019

Lassen wir einmal diejenigen außer Acht, die mit Erdoğan behaupten, die Begriffe Politischer Islam und Islamismus seien eine Beleidigung des Islam und verfehlt, weil es nur EINEN Islam gebe und dieser alles umfasse. Lassen wir auch die Position einiger Islamverbände außen vor, die das mit dem Begriff Politischer Islam bezeichnete Phänomen für eine Erfindung „islamfeindlicher Kreise“ zur Diffamierung des Islam und aller Muslime halten möchten, und wenden uns stattdessen der Forschung zu, so zeigt sich, dass der Begriff etabliert und selbstverständlich auch definiert ist.

Der Politikwissenschaftler Arno Tausch hat sich in der Wiener Zeitung die Mühe gemacht, weltweite Datenbanken nach wissenschaftlichen Studien zum Thema Politischer Islam zu durchforsten. In der umfangreichsten Zeitschriftendatenbank der Welt, Scopus, finden sich 816 Studien zum Thema, darunter auch solche von Forscherinnen und Forschern aus islamischen Ländern. Im weltweiten Bibliotheks-Verbundkatalog OCLC Worldcat sind nicht weniger als 2923 Studien verzeichnet, die an mehr als 500 Bibliotheken vorhanden sind. Der Toplu-Katalog der Türkei, der die Bestände von Forschungszentren und akademischen Bibliotheken des Landes umfasst, listet 329 Studien auf. Eine Stichwortsuche in der Datenbank der Universitätsbibliothek Wien ergibt mehr als 4000 Treffer, die bis in die 1950er Jahre zurückreichen.

Wenn in diesen wissenschaftlichen Arbeiten nicht nur eine einzige, einheitliche Definition existiert, ist damit nicht, wie manche Aktivisten glauben machen möchten, der Begriff Politischer Islam diskreditiert. Es ist vielmehr ein Zeichen für einen funktionierenden wissenschaftlichen Diskurs, wie wir ihn auch aus anderen Bereichen der Kulturwissenschaften kennen. Auch für die Begriffe „Extremismus“, „Faschismus“ oder „Rassismus“ liegen keine einheitlichen Definitionen vor. Dennoch käme niemand auf die Idee, sie deshalb aus dem Diskurs streichen zu wollen. Diesen und vielen anderen Begriffen ist zu Eigen, dass sie, anders als Begriffe der Naturwissenschaften wie etwa Gravitationskraft oder Geschwindigkeit, nicht mittels einer Formel definiert werden können, sondern Gegenstand permanenter Debatten sind. Die bezeichneten Phänomene müssen dabei zunächst präzise beschrieben werden. Diese Auseinandersetzung um die Beschreibung ist dabei bereits Teil des wissenschaftlichen Diskurses. Ob eine Definition des zugrundeliegenden Phänomens im wissenschaftlichen Diskurs bestehen kann, hängt allein davon ab, ob sie in der Lage ist, die Wirklichkeit schlüssig zu erklären. Daher darf es nicht verwundern, dass für den Begriff Politischer Islam mehrere Definitionen vorliegen, die allerdings im Kern – auch wegen der schon lange anhaltenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema – weitgehend übereinstimmen.

Politischer Islam oder Islamismus – die Begriffe werden in der Forschung synonym verwendet – bezeichnen zunächst sowohl gewaltfreie als auch gewaltbereite Bestrebungen, islamischen Herrschaftsvorstellungen zu allgemeiner Gültigkeit zu verhelfen. Unter Politischem Islam versteht die Autorin dieser Zeilen eine radikale, kollektivistische politische Herrschaftsideologie, die von der Überlegenheit des Islam ausgehend, das utopische Fernziel einer islamischen Weltherrschaft anstrebt. Sie verfolgt das Konzept einer Transformation von Gesellschaften und Staaten hin zu einer normativen Ordnung nach den Regeln der Scharia und zeichnet sich durch das öffentliche Einfordern von sozialen Verhaltensweisen aus, die als göttliche Gebote präsentiert werden und in den öffentlichen und politischen Raum eindringen.
Es sind keine Forschungen bekannt, die jedwedes politische oder gesellschaftliche Engagement von Muslimen als Politischen Islam bezeichnen und in Misskredit bringen wollen. Hinter diesem neuerdings vorgebrachten Argument scheint sich eher der Versuch zu verbergen, ein Forschungsfeld, das zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit erfährt, als „islamophob“ zu diskreditieren.

Eine solche Abwehrstrategie blendet geflissentlich aus, dass Vordenker politisch-islamischer Ideologien diese in ihren zahlreichen Werken ausführlich beschrieben haben. Auf ältere islamische Konzepte zurückgreifend, sehen sie im Islam ein ganzheitliches Programm, das den einzelnen Menschen sowie Staat und Gesellschaft von Grund auf bestimmen soll. Hasan al-Banna etwa, der Gründervater der Muslimbruderschaft, entwarf 1936 in seinem Aufruf „An die Jugendlichen“ das Programm einer Graswurzelbewegung zum Zwecke der langfristig beabsichtigten Erlangung der Weltherrschaft. In 7-Punkten skizziert er, wie zunächst über die Männer die Familien in die Bewegung eingebunden werden sollen, über die Familien die Dörfer und Städte, um auf Basis der „Gesetze Gottes“ eine islamische Regierung im Land (gemeint ist Ägypten) errichten zu können. Sodann sollen sich alle islamischen Länder zusammenschließen, um gemeinsam alle ehemals für den Islam eroberten Gebiete wie Spanien, Sizilien, den Balkan, Süditalien etc. neuerlich zu erobern. Danach soll es an die Errichtung der islamischen Weltherrschaft gehen. Diese Ausführungen kann man ernst nehmen oder nicht. Es ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sie eine enorme Anziehungskraft entwickelten und die Muslimbruderschaft zur größten und mittlerweile auch globalen islamistischen Bewegung werden ließen. Ähnlich langfristige Utopien haben weitere prominente Ideologen des Politischen Islam formuliert, etwa Sayyid Abul al-Maududi (1903-1979), Gründer der pakistanisch-indischen Jamaat-e-Islami (=islamische Gemeinschaft). Der wohl prominenteste Muslimbruder der 1950er und 60er Jahre, Sayyid Qutb (1906-66), lieferte mit seinem Werk „Zeichen auf dem Weg“ schließlich die ideologischen Grundlagen für Jihadisten und extremistisch-islamische Bewegungen aller Art.

Bis heute hat sich die Muslimbruderschaft nicht von dieser Utopie distanziert. Wo immer sie an die Macht gelangen konnte, folgten Schritte zur Umsetzung derselben. In Ägypten und Tunesien etwa versuchten politische Parteien der Muslimbruderschaft umgehend, die Einführung der Scharia ins Rechtssystem durchzusetzen.
2007 erläuterte der aktuelle Chefideologe der Muslimbruderschaft, Yusuf al-Qaradawi, die Ziele, die der Politische Islam für Europa verfolgt: „Ich erwarte, dass der Islam Europa erobern wird, ohne zum Schwert oder zum Kampf greifen zu müssen – mittels Missionierung und durch die Ideologie. Die Muslime müssen zu handeln beginnen, um diese Welt zu erobern.“ Bei anderer Gelegenheit drückte er seine Bewunderung für Adolf Hitler aus, nannte den Holocaust eine Strafe Gottes und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, dass diese „Strafe“ das nächste Mal durch die „Hand der Gläubigen“ erfolgen möge.

Es war nicht die erste Absichtserklärung dieser Art. Im Zuge der Ermittlungen nach den 9/11 Anschlägen kam es auch in Europa zu mehreren Hausdurchsuchungen, unter anderem bei Youssef Nada, einem einflussreichen Anführer der Muslimbruderschaft. In seiner Wohnung fand die Polizei ein brisantes Dokument. Es trug den Titel „Der Weg zu einer weltweiten Strategie für islamische Politik“ und beschreibt in zwölf Punkten einen Plan zur Unterwanderung von Gesellschaften mit dem langfristigen Ziel der Etablierung eines weltweiten islamischen Staates.
Die Vorstellung einer weltumspannenden Herrschaft, die letztlich allen Menschen zum Heil gereichen soll, ist uns aus anderen politischen Ideologien bestens vertraut. Sie findet sich auch im Nationalsozialismus und im Kommunismus, um nur die bekanntesten zu nennen. Europa sollte zur Kenntnis nehmen, dass im Zuge der Einwanderung aus kollektivistischen, fundamentalistischen islamischen Milieus eine weitere totalitäre Ideologie das Parkett betreten hat, die, derzeit insbesondere von der Türkei und Katar befeuert, zu einer ernsthaften Gefahr für Demokratie und Pluralismus werden könnte.

NEIN

Kommentar von Raimund Löw

Sind Muslime gefährlich, wenn sie auf der Grundlage ihrer religiösen Identität politisch auftreten? Die Regierung bejaht dies mit ihren martialischen Ansagen gegen den sogenannten politischen Islam. Mit dem Kampfbegriff erklärt der Staat, dass Angehörige der muslimischen Minderheit demokratiefeindlich agieren, wenn sie sich gestützt auf ihre Religion politisch engagieren. In unserer multikulturellen Gesellschaft ein Signal der Diskriminierung gegenüber der Minderheit. Sebastian Kurz, Chef einer christdemokratischen Partei, will sogar einen neuen Straftatbestand schaffen. In der heimischen Politik schürt der Begriff des politischen Islam Ressentiments und erschwert die Auseinandersetzungen mit realen Problemen.
Klar, in vielen Staaten sind islamische Parteien aktiv. Sie haben Namen, Adressen und Programme, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Viele haben sich islamistisch radikalisiert. Manche verfügen über Sympathisanten in Europa. Eine Partei des politischen Islam, die Österreich islamisieren will, ist dagegen ein Phantom.

Unter Türkis-Blau hat es dramatische Auftritte der Regierungsspitze gegen angeblich irreguläre Gotteshäuser gegeben. Staatliche Bekleidungsvorschriften, besonders Kopftuchverbote für Mädchen, wurden zu Wahlkampfschlagern. Statt klarzustellen, dass der Islam als zweitgrößte Religionsgemeinschaft Teil unserer Gesellschaft ist wie Christentum, Judentum und Atheismus, wird Ausgrenzung betrieben.
Der Begriff des Separatismus, den Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verwendet, ist sinnvoller. Er meint Subkulturen, in denen auf soziale Deklassierung durch islamistische Antiaufklärung reagiert wird. Migrantische Parallelstrukturen gibt es in allen Einwanderergesellschaften. Rechtsextreme austrotürkische Jugendliche in Favoriten oder renitente Teenager in Schulen zeigen soziale und integrationspolitische Defizite. Sie zu beheben ist schwieriger, als martialische Pressekonferenzen gegen angebliche politische Verschwörer zu veranstalten.
Anders ist die Frontstellung zu Dschihadisten. Nach militärischen Niederlagen im Nahen Osten versucht die Terrororganisation Islamischer Staat, eine quasimilitärische Front in Europa zu eröffnen. Die Attentäter von Wien und Paris sind das Kanonenfutter in einem globalen Konflikt. Dschihadisten werden in einem halbkriminellen Jugendmilieu radikalisiert, vor allem in Gefängnissen, wie der aktuelle Staatssicherheitsbericht festhält. Terroristische Netzwerke aufzuspüren ist die Aufgabe der Staatssicherheit. Extremismus muss politisch bekämpft werden. Der Unterschied sollte sich auch in der Wortwahl ausdrücken. Oder würde es jemandem einfallen, dem Attentäter von Christchurch, der sich auf das Abendland beruft, politisches Christentum zuzuschreiben?

Wie weit verbreitet antimuslimischer Rassismus ist, zeigen die Untersuchungen von SOS Mitmensch. Mit der Forderung, den politischen Islam überhaupt zu verbieten, sprengt Kanzler Kurz den Rahmen der demokratisch garantierten Freiheiten. Eine Kriminalisierung abweichender Meinungen kennt man sonst aus autoritären Staaten. Die Auswirkungen erleben wir, wenn die Regierung die Antiterrorpolizei gegen den unbequemen Politikwissenschaftler Farid Hafez ausschickt, wie in der Operation Luxor Anfang November. Auch eine Folge der unseligen Konstruktion vom politischen Islam als Gefahr für die Republik. Wir sollten uns davon befreien.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
2020
Autor/inn/en:

Raimund Löw:

Mitglied des Redaktionskollektivs von „rotfront“, Organ der „Gruppe Revolutionärer Marxisten“ (GRM), österreichische Sektion der IV. Internationale (Trotzkisten); nach Beiträgen im FORVM journalistische Anstellung in mehreren Positionen beim ORF, danach Leiter des Postcasts „falter“ Radio.

Nina Scholz: Politologin und Autorin, Mitbegründerin der Mahnwache für Raif Badawi in Wien. Sie hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht. Die ersten drei im Passagen Verlag, Wien:
„Gewalt im Namen der Ehre“ 2014, 2. Aufl. 2015 (als Hrsg.)
gemeinsam mit Heiko Heinisch:
„Europa, Menschenrechte und Islam - ein Kulturkampf?“, 2012
„Charlie versus Mohammed. Plädoyer für die Meinungsfreiheit“, 2016
„Alles für Allah: Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert“, Molden Verlag, Wien 2019

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