Context XXI » Print » Jahrgang 2004 » Heft 8/2004
Thomas Schwendener

Plebiszitäre Herrschaft

Zur Kritik der direkten Demokratie

Die Schweizer Volkspartei strengt die Ausdehnung der direkten Demokratie an und fördert damit das ideale Instrument für ihre Ziel­setzungen.

Die Angriffe der Schweizer Volkspartei (SVP) auf rechtstaatliche Institutionen haben im Oktober eine (erste) Eskalation er­fahren. Der „Privatbundesrat der Bourgeoi­sie“, der Freisinnige Pascal Couchepin, warf seinem Kollegen Christoph Blocher, dem „Führer“ der SVP, vor, eine Gefahr für die Demokratie zu sein. Die „Staatskrise“, wie das Boulevardblatt Blick titelte, beschäftigte die Schweizer Medien den ganzen Oktober. Der Auslöser für das Spektakel war voraus­sehbar: Blocher weigerte sich das „Ja“ für die „Erleichterte Einbürgerung“ in bundesrätlicher Abordnung gebührlich zu vertreten. [1] Damit widerlegte der Demagoge einmal mehr die Einschätzung der parlamentarischen Lin­ken und eines Großteils der Schweizer Medien, er lasse sich in den Mühlen des bundesrätlichen „Kollegialitätsprinzips“ entschärfen. Blocher verstand es von Anfang an, sich in der Konkordanz einzurichten und von seiner Position aus eine von der SVP forcierte Entwicklung zu sekundieren: die Unterwer­fung humanistischer Standards unter den ent­fesselten „Volkswillen“.

Es ist Programm der SVP, nicht-plebis­zitäre Instanzen und Regelungen im Namen eines imaginierten ganzen Volkes anzugrei­fen. So geraten juristische Institutionen im­mer wieder ins Schussfeld, wenn sie recht­staatliche Normen durchsetzen. Im August drohte die Partei „mit einschneidenden Kon­sequenzen bei der nächsten Wahl des Bun­desgerichts“. [2] Vorausgegangen war der of­fenen Drohung ein Präzedenzfall, in welchem die Veranstalter eines Vortrages zur „Ent­stehung der SS und der Waffen-SS“ nach der Antirassismusstrafnorm verurteilt worden waren. Dabei hatte das Bundesgericht erstmals den im Gesetz benutzten Begriff der „Öffentlichkeit“ genauer definiert. Verschiedene SVP-ExponentInnen empörten sich darüber, dass sie Ausdrücke wie „runterjuden“ (von Preisen) oder rassistische Stammtischsprüche künftig möglicherweise nicht mehr ungestraft in die Welt posaunen dürften. „Wir brauchen keine Richter, wel­che den Staat und die Gesetze schützen, son­dern Richter, welche für den Bürger und sei­ne Rechte einstehen“, erklärt die Partei auf ihrer Homepage offenherzig. Politikern, die nicht mit der Partei konform gehen, ergeht es nicht besser, sie sind grundsätzlich „blut­leer“, „starrköpfig“, „arrogant“ und von „in­nerem Zerfall“ [3] betroffen. Einer der SVP-Chefideologen, Christoph Mörgeli, wettert, dass die Politiker ihr eigenes Volk verrieten. Nur die Gestaltungsmöglichkeiten durch das Volk könnten die korrupten Machenschaf­ten der „classe politique“ in den Griff krie­gen. So fordert die Partei, dass der Bundes­rat direkt durchs Volk statt durch das Parla­ment gewählt werden soll.

Das Volks-Atom

Durchgehend stellt die Partei dem Staat ein natürliches Volk gegenüber, als dessen le­gitimen Vertreter sie sich begreift. Jene ex­klusive Gemeinschaft soll weitgehend an Stel­le des bürokratischen Apparats treten. Der genuine politische Ausdruck des Volkes wä­re nach der SVP ein allem überflüssigen Bal­last entledigter Gesamtorganisator, dessen ausgebaute repressive Funktionen allfällige Störungen im Ablauf des gesellschaftlichen Verkehrs befrieden soll. War der (Sozial-)Staat noch Voraussetzung für die sozialpartner­schaftliche Befriedung der Klassengesell­schaft, soll sich nun die ihrer materiellen Ba­sis — dem Sozialstaat — entwöhnte Volksgemeinschaft als eine der „selbstverantwortli­chen Menschen“ durchsetzen. Die angestrebte Reduktion des Staates auf seine repressive Funktion stellt sich bei näherer Betrachtung als dessen ideologische Ausdehnung in die einzelnen Subjekte heraus. Wenn das Stimm­volk an der Urne seine Urteile über die un­produktiven AsylbewerberInnen abgibt, wenn Volksinitiativen [4] Behinderte in den Produk­tionsprozess zwingen wollen, wenn „Sozial­schmarotzer“ von den BürgerInnen als Wirt­schaftsbremsen denunziert werden, so ist dies die Fortsetzung der (krisenmildernden) Auf­gaben des Staates durch den Einzelnen. Die Anforderungen des Verwertungsimperativs sollen — vom „gesellschaftlichen Atom“ (Marcuse) verinnerlicht — erfüllt werden.

Die Zustimmung zur Funktionalität des Einzelnen für das Ganze, die Identifikation mit der abstrakten Allgemeinheit, setzt die Existenz völlig konformistischer Menschen voraus, denen der Begriff des Individuums nicht mehr gerecht wird. Der Sozialisierungsmodus, der sich über Nachbarschafts­horde, Fernsehen und Schule in Kraft setzt und die Familie in ihre Schranken verweist, scheint kollektiv. Was zugespitzt die schlech­te Aufhebung der Familie genannt werden könnte, droht Abweichungen und die konflikthaft entwickelte Persönlichkeit, die das innerhalb der Familie sozialisierte Subjekt noch aufweisen konnte, zusehends zu zer­stören. [5] Der direkte Zugriff der Gesellschaft auf das einzelne Individuum ist dessen To­desurteil. Max Horkheimer dazu: „Es [das Individuum; Anm. T.S.] entspricht fortgesetzt dem, was es um sich herum wahrnimmt, nicht nur bewusst, sondern mit seinem ganzen Sein, indem es mit den Zügen und Verhaltenswei­sen wetteifert, die durch all die Kollektive repräsentiert werden, in die es verstrickt ist — seine Spielgruppe, seine Klassenkameraden, seine Sportsriege und all die anderen Grup­pen, die (...) eine strikte Konformität er­zwingen, eine radikalere Unterwerfung durch völlige Assimilation, als irgendein Vater oder Lehrer im neunzehnten Jahrhundert fordern konnte.“ [6] Gehen die ApologetInnen basis­demokratischer Nachbarschaftskollektive von autonomen Individuen aus, so weiß die SVP, auf welchen realen Volks-Atomen sich ihre Perspektive der direkten Demokratie begründet.

Gesunder Menschenverstand

Jene Atome, permanent mobilisiert gegen alle Arten von „Volksschädlingen“, AbweichlerInnen und die Usurpatoren der Staats­macht, bilden das von der SVP vertretene Volk. Das „klassenübergreifende Volksinter­esse“, das die Partei zu vertreten vorgibt, im­pliziert immer die Exklusivität, die sich — ins­besondere in der Krise — gegen „die Ande­ren“ richten muss. Das ständig mitschwin­gende und oftmals auch explizit ausgespro­chene Versprechen, mit denen „da oben“ und „da unten“ mal richtig aufzuräumen, steckt die Grenzen des eigenen Kollektivs ab und definiert jene Anderen.

Die SVP vermag in ihren Kampagnen noch dem Letzten ein Objekt zu bieten, an wel­chem er den Betrug an sich selbst rächen kann, welcher mit der Einpassung ins Kollektiv ein­hergeht. Was die Verliererin bei „Superstars“ durchlebt, die abrupt feststellt, dass das ka­pitalistische Glücksversprechen von Erfolg, Reichtum und erfülltem Leben immer nur für die Anderen zur Wahrheit wird, erleidet der Eingeordnete tausendfach. Die eigenen Wün­sche werden der Funktionalität untergeord­net. Die Parteipropaganda appelliert an da­bei unterdrückte Impulse, welchen die aus­geliefert werden sollen, die den Wahnsinn nicht mehr mitmachen können oder dürfen. Der „gesunde Menschenverstand“, der so ger­ne angeführt wird, ist die Negation des (au­tonomen) Denkens zugunsten des Reflexes jener Eingepassten. Letztlich ist die mit In­brunst vorgetragene Rede gegen die Schmarotzer nichts anderes als der Aufruf zum Po­grom, welches in den bestehenden politischen Strukturen noch auf die Urnenabstimmung herunter gebrochen wird. Die Propaganda der SVP funktioniert nicht obwohl sie der Zi­vilisation ins Gesicht schlägt, sondern genau weil sie es tut.

Das demokratische Prinzip

Heute erledigen die „gesellschaftlichen Atome“ schon Großteils an der Urne, was der Partei vorschwebt. So erklärt diese dann auch: „das System der direkten Demokratie darf dem Bürger (...) keine Schranken zur Revisi­on des Verfassungsrechts setzen.“ [7] Tatsäch­lich sieht das Instrument der Volksinitiative vor, dass per Abstimmung die Verfassung der Schweiz geändert werden kann. Was in der repräsentativen Demokratie die Wirkung ha­ben kann, menschenrechtliche Standards we­nigstens bis zu ihrer endgültigen Dysfunk­tionalität für die kapitalistische Akkumulati­on aufrechtzuerhalten, existiert in der Schweiz als beliebig transformierbar. Oder wie es die SVP ausdrückt: „Jede Abstimmung und jede Wahl an der Urne ist quasi das letzte Wort des Volkes und muss unwidersprochen re­spektiert werden.“ [8] Diesen Begriff der De­mokratie teilen bisher nur die wenigsten Par­teien und Politiker außerhalb der SVP. Die gebetsmühlenartige Betonung der verschie­denen Säulen des schweizerischen Rechts­staates vermögen aber nicht darüber hin­wegzutäuschen, dass das Prinzip der Mehr­heit in der kapitalisierten Gesellschaft keine anderen Götter neben sich duldet. So ver­mögen die dutzendweise auf den Plan geru­fenen StaatsrechtlerInnen und Ethikprofes­sorInnen den Begriff der (direkten) Demo­kratie nicht immanent zu kritisieren, da sie auf einer Grundlage argumentieren, die humanitäre Werte a priori setzt.

Die Einwände des Strafrechtsprofessoren Stefan Trechsler, die von Blocher geforderte Einführung einer unbeschränkten „Beuge­haft“ für „ausreiseunwillige“ MigrantInnen verstoße gegen die Menschenrechte, mag heu­te plausibel erscheinen. Sie sind aber letzten Endes nichts weiter als das Beharren auf der vertraglichen Fixierung des kapitalistischen Gesellschaftsverkehrs in seiner liberalen Pha­se. Das Recht auf Leben, auf Eigentum (auch und gerade über den eigenen Körper), auf (die doppelte) Freiheit existieren faktisch nur als Vertrag, welchen der Staat schützt und da­mit in seine Gewalt nimmt. Es ist aber genau die Intention der SVP jene Standards als trans­formierbare zu begreifen, wie es die politi­sche Struktur der Schweiz auch tatsächlich vorsieht. Der Generalsekretär der SVP er­läutert dann auch richtigerweise: „das schwei­zerische Verfassungsrecht [kennt] kein Be­kenntnis zu einer präpositiven Geltung der Grundrechte, wie es etwa im Deutschen Grundgesetz zum Ausdruck kommt: Die Frei­heitsrechte bilden in der schweizerischen Bundesverfassung den positivrechtlichen Nie­derschlag einer freiheitlichen Staatsauffas­sung.“ [9]

Nun ist es den dem Wissenschaftsbetrieb subsumierten unmöglich, jenem Staatsverständnis zu widersprechen, dem die Mehr­heit des Stimmvolkes zustimmt, ohne ihr Metier ins als metaphysisch Verdammte zu überführen. Definiert sich doch moderne Wissenschaft auch und gerade darüber, dass sie gegen moralische Ansprüche immun ist. Einspruch im Namen der Vernunft bleibt ihr äußerlich weil unter ihr die Vernunft zur bloß formalen gerinnt. Ihr „Gebrauch, der über die behelfsmäßige, technische Zusam­menfassung faktischer Daten hinausgeht, ist als eine letzte Spur des Aberglaubens ge­tilgt.“ [10] Vernunft ist bloßes „Organ der Kal­kulation des Plans, gegen Ziele ist sie neu­tral“ [11] und damit indifferent gegenüber jedwelchen humanistischen Standards. Das Mehrheitsprinzip schafft Tatsachen, welchen sich die einzige streng wissenschaftli­che Form der Rechtswissenschaft — ihre po­sitivistische Variante — unterzuordnen hat. „Das Mehrheitsprinzip ist in der Form all­gemeiner Urteile über alles und jedes, wie sie durch alle Arten von Abstimmungen und modernen Techniken der Kommunikation wirksam werden, zur souveränen Macht ge­worden, der das Denken sich beugen muss. Es ist ein neuer Gott, nicht in dem Sinne, in dem die Herolde der großen Revolution es begriffen, nämlich als Widerstandskraft gegen die bestehende Ungerechtigkeit, son­dern als eine Kraft, allem zu widerstehen, das nicht konform geht.“ [12] Was Horkhei­mer hier konstatiert gilt letztlich für alle Ein­wände, die sich der gesellschaftlichen Ent­wicklung entgegenstellen, insbesondere aber für jene, die von den auf Wissenschaftlich­keit Beharrenden erhoben werden.

Materialistische Kritik

Die skizzierte Entwicklung ist nicht ei­ne, die nun plötzlich an humanistischen Wer­ten rüttelt — auch wenn Ethiker dies bei­spielsweise im Gentechbereich glauben ma­chen könnten. Die Degradierung des Men­schen zur Ware war der kapitalistischen Gesellschaft von Anbeginn eingeschrieben und zerstört nicht erst mit ihrer Zuspitzung zur Entsorgung von nicht verwertbarem Leben einen idyllischen Zustand. Die Menschen­rechte selber sind Ausdruck dieser Gesell­schaftsformation und gehören kritisiert, doch wenn selbst diese Standards angegriffen wer­den, zeigt sich das barbarische Potential, das in der kapitalistischen Zivilisation ge­gen sie selbst angelegt ist. Die Grenze des „ethisch Vertretbaren“ verschiebt sich mit der Verschiebung der konkreten gesell­schaftlichen Praxis und der Machtverhält­nisse. Diese Entwicklung können (und wol­len) Ethikinstitute nicht fundamental kriti­sieren, weil sie keinen Begriff von der ge­sellschaftlichen Totalität haben und so das Bestehende vom Bestehenden aus verteidi­gen.

Eine Kritik, die autoritäre Herrschaft in ihrer demokratischen Form wirklich erfas­sen will, kann nur eine sein, die einen Be­griff der rückschrittlichen Tendenzen in die­ser Gesellschaft entwickelt. Sie muss das Ganze zum Gegenstand haben: Das „gesellschaftliche Atom“, welches als Stimm­bürger weder die öffentlich auftretenden Experten noch linke Politiker auch nur mit einem Wort kritisch erwähnen, insbesondere aber die gesellschaftlichen Bedingun­gen, die den Menschen erst so zurichten.

[1Die Schweizer Exekutive — der Bundes­rat — funktioniert nach dem Konkor­danzprinzip. Das heißt, die Entschei­dungen müssen als Einheitsbeschluss nach außen vertreten werden. Blocher sei dieser Verpflichtung bei der Abstim­mung zur „erleichterten Einbürgerung junger Ausländerinnen und Ausländer der zweiten Generation“ nur ungenü­gend nachgekommen, lautete der Vor­wurf, der die Diskussion auslöste.

[2Zitiert nach: NZZ am Sonntag, 10.10.2004.

[3Alle Zitate in diesem Artikel — falls nicht anders angegeben — aus der „Schweizerzeit-Schriftenreihe“ herausge­geben von SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer.

[4Mit einer Volksinitiative können Stimm­berechtigte eine Abstimmung über eine Teilrevision der Bundesverfassung anstrengen. Damit die Abstimmung zu Stande kommt, müssen innerhalb von 18 Monaten 100.000 Unterschriften von StimmbürgerInnen gesammelt werden.­

[5Herbert Marcuse entwickelte unter an­derem in „Triebstruktur und Gesell­schaft“ eine auf der Psychoanalyse fußen­de Theorie zur Konstitution des konfor­mistischen, entindividuierten Subjekts: des „gesellschaftlichen Atoms“.

[6Max Horkheimer: Zur Kritik der in­strumentellen Vernunft. Frankfurt am Main 1997, S. 134.

[7Gregor A. Rutz, Generalsekretär SVP. Editorial des SVP Pressedienstes Nr. 28.

[8Communique der SVP Luzern. „Stel­lungnahme der SVP des Kantons Luzern zum Bundesgerichtsentscheid über Ein­bürgerungen an der Urne“.

[9Gregor A. Rutz: Editorial des SVP Pres­sedienstes Nr. 28.

[10Max Horkheimer. Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. S. 30.

[11Max Horkheimer. Theodor W. Adorno. Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 1998, S. 95.

[12Max Horkheimer. Zur Kritik der instru­mentellen Vernunft. S. 38.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
2004
, Seite 22
Autor/inn/en:

Thomas Schwendener: Ehemaliger Redaktor der Zeitschrift RISSE, lebt in Zürich.

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