Context XXI » Print » Jahrgang 2002 » Heft 8/2002 — 1/2003
Andreas Peham

Pathologische Massenbildung gegen Juden und Jüdinnen

Zur Psychoanalyse des Antisemitismus

Als die „spezifischen Motive“ des Antisemitismus nannte Freud jene, „die aus geheimen Quellen“ (Freud 1939, 197) stammen. Die Wissenschaft, welche uns den Blick auf diese geheimen (i.e. unbewussten) Quellen ermöglicht, ist die Psychoanalyse. Auch die Charakterisierung des Antisemitismus als „Leidenschaft“ (Sartre 1975, 109) und die grandiose Irrationalität (bis zur Wahnhaftigkeit) seiner Anschuldigungen verweisen auf die Freudsche Theorie. Weil aber die Psychoanalyse das Individuum zum Gegenstand hat, kann es „strenggenommen nur eine Psychoanalyse des Antisemiten, nicht aber des Antisemitismus geben.“ (Fenichel 1993, 35)

Spätestens auch bei der Beantwortung der Frage, warum „die große Explosion des Antisemitismus zuerst in Deutschland ausbrach“ (Horkheimer 1993, 29), würde die Psychoanalyse alleine nicht ausreichen. Ihr Erkenntnispotential ist beschränkt auf die „Hauptmerkmale destruktiven Hasses“ (ebd.). Ob und in wie weit dieser Hass in Taten umschlägt, hängt von historischen, politischen, ökonomischen und sozialen Faktoren ab.

Wenn wir dennoch die Psychoanalyse zur Aufklärung der Grundstruktur und Wirkungsweise des Antisemitismus „als Nebenprodukt der Zivilisation“ (Simmel 1993, 58) strapazieren, so sei jedoch davor gewarnt, dieses soziale Phänomen auf eine individuelle Psychopathologie zu reduzieren. Denn die Gleichsetzung von AntisemitInnen mit NeurotikerInnen oder PsychopathikerInnen befreit diese von jeder Verantwortung. Auch wird „ein Antisemit [...] niemals psychoanalytische Hilfe suchen, um von seinem Antisemitismus befreit zu werden. Vor allem fehlt es ihm ja an Krankheitseinsicht, d.h. er betrachtet sich nicht als krank. Im Gegenteil, sein Antisemitismus verschafft ihm einen nicht unerheblichen Krankheitsgewinn. Sein Ich bläht sich auf, er fühlt sich überlegen, denn er gehört einer Gemeinschaft mit angeblich höheren Werten an: der Gemeinschaft der Nichtjuden.“ (ebd., 60)

Obwohl der Antisemitismus also ein soziales Phänomen ist, kann uns die Psychoanalyse Erkenntnisse verschaffen, weil diese ja nie das Individuum als soziales Atom zum Gegenstand hat. „Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne.“ (Freud 1921, 73)

Ich gehe im Folgenden aus von der Psychologie der Masse und frage mich, ob es in dieser etwas gibt, „was dem Antisemitismus halbwegs entgegen kommt.“ (Fenichel 1993, 40) Wird der Antisemitismus als kollektiver Wahn analysiert, drängt sich die Frage nach dem Kollektiv, nach dem Charakter der Gemeinschaftsbildung auf, und ob in dieser eine Ursache für den Wahn zu finden ist.

Grundlegung bei Freud

Basierend auf der Schrift von Le Bon („Psychologie der Massen“) analysiert Freud in seiner „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ die Genese dieses modernen Phänomens. Die Massenpsychologie bezieht ihren Stoff aus der „Beobachtung der veränderten Reaktion des Einzelnen“ (Freud 1921, 77) so bald er/sie Mitglied einer Masse wird. Die Massenbildung wirkt homogenisierend, ein vereinheitlichtes Massen-Ich tritt an die Stelle der unterschiedlichen Individuen. Dabei wird „der psychische Oberbau, der sich bei den Einzelnen so verschiedenartig entwickelt hat, [...] abgetragen, entkräftet und das bei allen gleichartige unbewusste Fundament wird bloßgelegt (wirksam gemacht).“ (ebd., 78) Es ist die Last der Zivilisation (bei Freud: Kultur), die beim Eintritt in die Masse abgeworfen wird, d.h. die Massenbildung wirkt befreiend: Das Individuum kommt „in der Masse unter Bedingungen, die ihm gestatten, die Verdrängungen seiner unbewußten Triebregungen abzuwerfen.“ (ebd., 79) Zustimmend zitiert Freud Le Bon, der den „auf der Leiter der Zivilisation“ hinunter gestiegenen Massenmenschen als „Barbar“ oder „Triebwesen“, welches eine „Übereinstimmung mit dem Seelenleben der Primitiven und der Kinder“ (ebd., 82) aufweist, begreift. Das Massen-Ich fällt also der Regression anheim. Ähnlich dem Zustand in der Hypnose oder im Traum „tritt in der Seelentätigkeit der Masse die Realitätsprüfung zurück gegen die Stärke der affektiv besetzten Wunschregungen.“ (ebd., 86) Das Realitätsprinzip gilt für die Masse nicht mehr, sie hat zum Ziel die unmittelbare Befriedigung der oralen Gier. „Sie verträgt keinen Aufschub zwischen ihrem Begehren und der Verwirklichung des Begehrten.“ (ebd., 82)

Auch mit einem Verweis auf seine Schrift „Totem und Tabu“ betont Freud die psychische Parallelität von Massenmenschen und Primitiven. Uns soll dieser Hinweis als eine erste Spur zur Aufdeckung des Zusammenhanges von Massenbildung und Antisemitismus dienen. In „Totem und Tabu“ hat Freud die Denkform der Primitiven als „Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken“ beschrieben. Der Animismus stellt ein vor- und quasi-religiöses „Denksystem“ dar, das es gestattet, „das Ganze der Welt als einen einzigen Zusammenhang, aus einem Punkt zu begreifen.“ (Freud 1913, 96) Ich glaube, wir tun Freud keine Gewalt an, wenn wir den Antisemitismus als den Animismus des Massenmenschen begreifen. Zu auffällig sind die Ähnlichkeiten beider Phänomene: Im Animismus wie im Antisemitismus besteht „eine allgemeine Überschätzung der seelischen Vorgänge, das heißt eine Einstellung zur Welt, welche uns nach unseren Einsichten in die Beziehung von Realität und Denken als solche Überschätzung des letzteren erscheinen muß. Die Dinge treten gegen deren Vorstellungen zurück; was mit den letzteren vorgenommen wird, muß sich auch an den ersteren ereignen.“ (ebd., 105)

Gleich dem/der Antisemiten/in verlegt auch „der primitive Mensch Strukturverhältnisse seiner eigenen Psyche in die Außenwelt“ (ebd., 112). Deren Objekte sind nichts anderes „als die Projektionen seiner Gefühlsregungen“ (ebd., 113). Die Neigung zu Projektionen, die ihren Ausgang in ungelösten Ambivalenzkonflikten und verbotenen Triebregungen haben, wird dort verstärkt, „wo die Projektion den Vorteil einer psychischen Erleichterung mit sich bringt.“ (ebd., 113) Und es ist vor allem die Paranoia, die sich des Mechanismus der Projektion (des Hasses) bedient (vgl. Freud 1911, 299f). Für die Paranoia im Allgemeinen wie für den Antisemitismus im Besonderen gilt: „Das Netz der Bedingungen war weit genug ausgespannt, um die Beute in jedem Falle zu fangen; es lag dann an ihr [einer Paranoikerin, Anm. A.P.], ob sie es zuziehen wollte oder nicht.“ (Freud 1913, 118)

Wie bei den Primitiven und Kleinkindern können bei den Massenmenschen „die entgegengesetzten Ideen nebeneinander bestehen und sich miteinander vertragen, ohne daß sich aus deren logischem Widerspruch ein Konflikt ergäbe.“ (Freud 1921, 84) Entsprechend der Allmacht der Gedanken „unterliegt die Masse der wahrhaft magischen Macht von Worten“ (ebd., 85).

Es ist der Führer, welcher sich dieser Macht bedient. Dessen Bedeutung für die pathologische Massenbildung kann gar nicht überschätzt werden. Für Freud ist die Masse „eine folgsame Herde, die nie ohne Herrn zu leben vermag. Sie hat einen solchen Durst zu gehorchen, daß sie sich jedem, der sich zu ihrem Herrn ernennt, instinktiv unterordnet.“ (ebd., 86) Vor allem bei künstlichen, hoch organisierten Massen (Kirche!) kann der unmittelbare Führer jedoch durch seine Repräsentanz oder eine (positive wie negative) Idee ersetzt werden. Aber anstatt diese Möglichkeit weiter zu verfolgen, soll uns im Folgenden die Beschaffenheit der Bindung der Massenmenschen an den Führer interessieren.

Laut Freud ist das Bindemittel der Masse libidinöser Natur. Die Masse wird jedoch nicht unmittelbar von den Trieben zusammengehalten, sondern durch Sublimierung: Der libidinöse Kitt ist „Ausdruck der nämlichen Triebregungen, die zwischen den Geschlechtern zur geschlechtlichen Vereinigung hindrängen, in anderen Verhältnissen zwar von diesem sexuellen Ziel abgedrängt oder in der Erreichung desselben aufgehalten werden“ (ebd., 98).

Diese libidinöse Bindung erfolgt in zwei Richtungen: „einerseits an den Führer [...], andererseits an die anderen Massenindividuen“ (ebd., 104). Und diese „Gefühlsbindung nach zwei Richtungen“ determiniere die „Veränderung und Einschränkung“ (ebd.) des Massenmenschen.

Die libidinöse Bindung der Massenmenschen untereinander setzt Freud mit der Identifizierung, der „früheste(n) Äußerung einer Gefühlsbindung an eine andere Person“ (ebd., 115), gleich. Die Bindung des Einzelnen an den Führer analysiert er als Idealisierung, wobei die Grenzen zwischen diesen beiden Mechanismen verschwommen bleiben. Daher spricht Adorno im Fall der Bindung an den Führer zu Recht von „Identifizierung durch Idealisierung“ (Adorno 1971, 48). Auch hier ist die Regression auf die narzisstische (orale) Stufe der Libidoentwicklung angedeutet: Der Führer wird „so behandelt [...] wie das eigene Ich“ und „ein größeres Maß narzißtischer Libido“ (Freud 1921, 124) fließt auf ihn über. Er sieht aus „wie eine Vergrößerung des Subjektes“ (Adorno 1971, 48). „Indem er den Führer zu seinem Ideal macht, liebt der Mensch eigentlich sich selbst, nur unter Beseitigung der Misserfolgs- und Unzufriedenheitsmerkmale, die sein Bild vom eigenen, empirischen Selbst entstellen.“ (ebd.) Dabei muss der Führer „selbst als absolut narzißtisch erscheinen [...], um die narzißtische Identifizierung zu ermöglichen“ (ebd., 49; vgl. Freud 1921, 138). Um die Idealisierung und gleichzeitige Identifizierung mit ihm zu ermöglichen, darf der Führer nicht bloß als Übermensch erscheinen, sondern muss auch Züge der Durchschnittlichkeit besitzen. Hitler posierte daher „als eine Verbindung von King-Kong und Vorstadtfriseur“ (Adorno 1971, 49).

Freud selbst beschränkte sich auf eine Analyse des Führers als uneingeschränkte Autorität, ja als Repräsentanten des Urvaters (vgl. Freud 1921, 142). Als geliebtes Objekt genießt der Führer „eine gewisse Freiheit von Kritik“ (ebd., 123). Mit der Verliebtheit „versagen die dem Ichideal zugeteilten Funktionen gänzlich.“ (ebd., 124) Das Objekt und seine Wünsche oder Befehle stehen außerhalb des Geltungsbereiches des Gewissens, „in der Liebesverblendung wird man reuelos zum Verbrecher.“ (ebd., 125) Schließlich setzt sich das geliebte Objekt selbst „an die Stelle des Ichideals“ (ebd.). Hier ist wieder das für bestimmte Charaktere befreiende Moment in der Massenbildung angesprochen: „Im Gehorsam gegen die neue Autorität darf man sein früheres ‚Gewissen‘ außer Tätigkeit setzen und dabei der Lockung des Lustgewinnes nachgeben“ (ebd., 92).

Aber der Urvater wurde wie die elterliche Autorität nicht nur geliebt, sondern auch gefürchtet und gehasst. Diesen Ambivalenzkonflikt vermag nun der antisemitische Massenmensch (zumindest vorübergehend) zu lösen: „Durch Teilhabe am Kollektiv-Ich der Masse kann er die veräußerlichte elterliche Gewalt in zwei Teile spalten: in den Führer, den er liebt und in den Juden, den er haßt.“ (Simmel 1993, 73) Aufgrund der ihnen im antisemitischen Diskurs zugeschriebenen Machtfülle eignen sich Juden und Jüdinnen als Ersatzautoritäten. An ihnen kann und darf sich der/die Autoritäre abreagieren. Der moderne Antisemitismus hat wie die faschistische Massenbildung Züge einer „autoritären Rebellion“.

Die (psychologisch) Identischen werden zu solchen also nicht nur durch ihre Bindung an den Führer, sondern auch durch die Gemeinsamkeit in der Schiefheilung ihres Ambivalenzkonfliktes. Die Erkenntnis, wonach „die Charakterstrukturen der Antisemiten einander viel stärker ähneln als die der Juden“ (Horkheimer 1993, 30), überrascht uns nun nicht mehr.

Auch die Identifizierung ist „von Anfang an ambivalent, sie kann sich ebenso zum Ausdruck der Zärtlichkeit wie zum Wunsch der Beseitigung wenden. Sie benimmt sich wie ein Abkömmling der ersten oralen Phase der Libidoorganisation, in welcher man sich das begehrte und geschätzte Objekt durch Essen einverleibte und es dabei als solches vernichtete.“ (Freud 1921, 116) Der antisemitische Massenmensch löst diesen Konflikt wieder, indem er die aggressiven Anteile dieser Einverleibung auf die Juden und Jüdinnen projiziert. Das ist die psychologische Wahrheit in den Ritualmordbeschuldigungen. Der Antisemitismus erscheint nun auch als Projektion des psychischen Kannibalismus, auf welchen seine Subjekte regrediert sind (vgl. Simmel 1993, 59).

Zusammenfassend lässt sich nun eine „Formel für die libidinöse Konstitution der Masse“ aufstellen: „Eine [...] primäre Masse [eine mit Führer und ohne allzu viel Organisation, Anm. A.P.] ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.“ (Freud 1921, 128)

Die Ähnlichkeiten in der libidinösen Struktur von Masse und Familie sind augenscheinlich. Ausgehend vom Freudschen Konzept des Antagonismus zwischen Familie und Kultur nennt Erdheim die Familie die „historische Wahrheit“ der pathologischen Gruppen: Diese sind familiär strukturiert, wodurch „ihre bewusst formulierte kulturelle Funktion [...] für das in ihr tätige Subjekt tendenziell unwichtig (wird) und [...] deshalb in den Dienst undurchschaubarer Interessen gestellt werden (kann).“ (Erdheim 1998, 29) Der Ablöseprozess von der Familie ist schwierig und schmerzhaft, wodurch die Individuen, insbesondere jene mit ungelösten Ambivalenzkonflikten, anfällig werden für Familiensurrogate. Pathologische Massenbildungen wirken so als verlängerter Schutz vor den Zumutungen der Kultur: Statt „die Ablösung zu fördern, behaften sie das Individuum [...] weiterhin auf seinen familiären Bedürfnissen und versuchen, diese in ihren Dienst zu stellen. Anachrone Institutionen [i. e. pathologische Gruppen, Anm. A.P.] perpetuieren bei ihren Angehörigen die Bindung an die Familie. Das Individuum kann sich von seiner Herkunftsfamilie nicht ablösen und eigenständig werden, sondern verschiebt seine Abhängigkeit lediglich auf die Institution.“ (ebd., 30) Die Mitgliedschaft in einer derartigen Pseudo-Familie wirkt entlastend und determiniert gleichzeitig den Hass auf die Nicht-Identischen: „In diesem Szenario hat das Fremde nichts zu suchen, es erscheint lediglich als bedrohlicher Störfaktor, denn man sucht nur noch Verwandte und Gleichgesinnte.“ (ebd., 33)

Am Beispiel der religiösen Masse, insbesondere der christlichen Kirche, weist auch Freud auf dieses zentrale Charakteristikum der Massenpsychologie hin: „Im Grunde ist ja jede Religion eine solche Religion der Liebe für alle, die sie umfasst, und jeder liegt Grausamkeit und Intoleranz gegen die nicht dazugehörigen nahe.“ (Freud 1921, 107) An anderer Stelle wird er noch deutlicher, wenn er betont, dass „das Gemeinschaftsgefühl der Massen [...] zu seiner Ergänzung die Feindseligkeit gegen eine außenstehende Minderzahl (braucht)“ (Freud 1939, 197). Diese Beobachtung deckt sich mit unserer These, wonach Juden und Jüdinnen als die prototypischen Anderen die Objekte des im Inneren der Masse nicht erlaubten Hasses darstellen. Der Mechanismus der Projektion erlaubt dabei, die Objekte des Hasses als seine Subjekte erscheinen zu lassen. Die antisemitischen Massenmenschen erwehren sich der Juden und Jüdinnen, von welchen sie sich verfolgt fühlen.

Was der antisemitische Massenmensch nicht dulden kann, sind Zweifel, Kritik und Abweichungen. „In den unverhüllt hervortretenden Abneigungen und Abstoßungen gegen nahestehende Fremde können wir den Ausdruck einer Selbstliebe, eines Narzißmus, erkennen, der seine Selbstbehauptung anstrebt und sich so benimmt, als ob das Vorkommen einer Abweichung von seinen individuellen Ausbildungen eine Kritik derselben und eine Aufforderung, sie umzugestalten, mit sich brächte.“ (Freud 1921, 111) Dieser Zusammenhang von Narzissmus und Ethnozentrismus wird auch von Birgit Rommelspacher betont, wobei sie richtigerweise den Autoritarismus/Konformismus mit ein bezieht: „So ist die Begegnung mit Fremden meist eine narzißtische Kränkung, die umso stärker ausfällt, je mehr die Einzelnen der dominanten Kultur verhaftet sind, d.h. davon ausgehen, daß sie selbst die Norm repräsentieren.“ (Rommelspacher 1992, 92)

Freuds Theorie des Antisemitismus

Während in Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ höchstens Spuren zur Erklärung des Antisemitismus gelegt sind, wird dieser erst in späteren Schriften direkt problematisiert. Obwohl (oder weil?) selbst von Antisemitismus unmittelbar betroffen, scheute sich Freud lange Zeit, diesen zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen. Die erste Erwähnung findet er in einer Fußnote: „Der Kastrationskomplex ist die tiefste unbewußte Wurzel des Antisemitismus [...]. Auch die Überhebung über das Weib hat keine stärkere unbewußte Wurzel.“ (Freud 1909, 271; vgl. Freud 1910, 165) Hier wäre der auch empirisch feststellbare Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit/Antifeminismus angedeutet. Der Antisemitismus von Frauen ist damit freilich nicht erklärbar.

Im „Unbehagen in der Kultur“ deutet Freud erstmals die psychische Funktion der Juden und Jüdinnen (besser: deren Repräsentanzen im antisemitischen Diskurs) an, wenn er schreibt, dass diese „in der Welt des arischen Ideals“ „dieselbe ökonomisch entlastende Rolle“ wie der Teufel haben (Freud 1930, 479).
Erst im „Mann Moses“ wagt sich Freud vorsichtig an eine Analyse des Antisemitismus. Dabei geht er von dessen religiösen Wurzeln aus. Zunächst finden wir einen weiteren Hinweis auf den psychischen Kannibalismus. So weist Freud darauf hin, dass der „Ritus der christlichen Kommunion, in der der Gläubige in symbolischer Form Blut und Fleisch seines Gottes sich einverleibt, Sinn und Inhalt der alten Totemmahlzeit wiederholt.“ (Freud 1939, 190) Diese Einverleibung geschehe hier jedoch „nur in ihrem zärtlichen, die Verehrung ausdrückenden, nicht in ihrem aggressiven Sinn.“ (ebd., 193f) Wieder können wir annehmen, dass die Aggressionen im Akt der Einverleibung abgespalten und auf die Juden und Jüdinnen projiziert werden. Der Vorwurf des Gottesmordes, den ja die Christen symbolisch im Akt der Kommunion wiederholen, hat hierin eine unbewusste Ursache.

Vor allem aber drücke sich im christlichen Antisemitismus ein schlechtes Gewissen aus: „Die Ambivalenz, die das Vaterverhältnis beherrscht, zeigte sich aber deutlich im Endergebnis der religiösen Neuerung. Angeblich zur Versöhnung des Vatergottes bestimmt, ging sie in dessen Entthronung und Beseitigung aus. Das Judentum war eine Vaterreligion, das Christentum wurde eine Sohnesreligion. [...] In manchen Hinsichten bedeutete die neue Religion eine kulturelle Regression gegen die ältere, jüdische [...]. Die christliche Religion hielt die Höhe der Vergeistigung nicht ein, zu der sich das Judentum aufgeschwungen hatte. Sie war nicht mehr streng monotheistisch, übernahm von den umgebenden Völkern zahlreiche symbolische Riten, stellte die große Muttergottheit wieder her und fand Platz zur Unterbringung vieler Göttergestalten des Polytheismus in durchsichtiger Verhüllung, obzwar in untergeordneten Stellungen. Vor allem verschloß sie sich nicht [...] dem Eindringen abergläubischer, magischer und mystischer Elemente, die für die geistige Entwicklung der nächsten zwei Jahrtausende eine schwere Hemmung bedeuten sollten.“ (ebd., 194)

Simmel (1993, 84) ergänzt hier einen weiteren Aspekt: Die jüdische Religion hat das Opfer sukzessive eingeschränkt, um es schließlich ganz zu verwerfen. An die Stelle des Opfers, welches passives Leiden in aktive Lust verwandelt und somit der Neutralisierung von narzisstischer Wut dient, trat das Gesetz. Dieser immense Triebverzicht scheint die Menschen überfordert zu haben: Von dieser Höhe der Kulturentwicklung fielen sie als ChristInnen wieder herunter, indem sie den kinderopfernden Vatergott wieder etablierten und das Opfer in der Kommunion (symbolisch) wieder eingeführt haben.

Unter den zahlreichen Gründen des „Judenhasses“ hebt Freud einen heraus, „nämlich daß sie [die Juden und Jüdinnen, Anm. A.P.] allen Bedrückungen trotzten, daß es den grausamsten Verfolgungen nicht gelungen ist, sie auszurotten“ (Freud 1939, 197). Die fortdauernde Existenz von Juden und Jüdinnen kann sich der/die AntisemitIn nur mit der jüdischen Allmacht erklären (vgl. Löwenthal 1990, 91). Daneben paart sich hier ein vages Schuldgefühl mit der Angst vor Rache, rationalisiert im Gerede von der alttestamentarischen Rachsucht.

Der Antisemitismus sei darüber hinaus motiviert durch „die Eifersucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab“ (ebd., 197). „Ferner hat unter den Sitten, durch die sich die Juden absonderten, die der Beschneidung einen unliebsamen, unheimlichen Eindruck gemacht, der sich wohl durch die Mahnung an die gefürchtete Kastration erklärt und damit an ein gern vergessenes Stück der urzeitlichen Vergangenheit rührt. Und endlich das späteste Motiv dieser Reihe, man sollte nicht vergessen, daß alle diese Völker erst in spät-historischen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang dazu getrieben. Man könnte sagen, sie sind alle ‘schlecht getauft’, unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, zu der das Christentum zu ihnen kam. [...] Ihr Judenhaß ist im Grunde Christenhaß.“ (ebd., 198)

Diese im ersten Moment verwirrende Aussage lässt sich dahin gehend verstehen, dass Juden und Jüdinnen von AntisemitInnen für die Zumutungen der Zivilisation verantwortlich gemacht werden: Der Hass auf den abverlangten Triebverzicht findet sich ein Ventil im Hass auf diejenigen, die das väterliche Gesetz repräsentieren. Der antisemitische Massenmensch identifiziert sich nicht mit dem Gesetz, dass nach der (symbolischen) Ermordung des (Ur-)Vaters angenommen (verinnerlicht) worden ist, sondern mit dem tyrannischen (Ur-)Vater selbst. Er rebelliert gegen die Beschränkungen des väterlichen Gesetzes, wobei ihm der faschistische Führer vorangeht. „Psychologisch gesehen stellt der Faschismus eine Revolte von ‘Brüdern’ gegen die elterliche Autorität dar.“ (Löwenthal 1990, 58) Der symbolische Vater (die staatlichen Autoritäten, „Bonzen“, „Politiker“ und „Bürokraten“, die Adorno mal als den „gerade greifbaren Ersatz für das eigentliche Haßobjekt, die Juden” (Adorno 1995, 124) bezeichnet hat) erscheint ihm als der eigentliche Unterdrücker, während die tatsächlich unterdrückende Willkür des faschistischen Führers als wertvoll und befreiend erlebt wird. Der antisemitische Pogrom ist dann „ein großartiges Fest für das Ich“ (Freud), weil dieses darin alle Triebhemmungen fallen lassen kann. Die Regression des antisemitischen Massenmenschen unter den Bedingungen der Zivilisation findet seine materielle Entsprechung in Auschwitz.

Literatur

  • Adorno, Theodor W. (1971): Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt a. M.
  • Ders. (1995): Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M.
  • Erdheim, Mario (1998): Irrationalität und Rechtsextremismus, in: König, Hans-Dieter (Hg.): Sozialpsychologie des Rechtsextremismus. Frankfurt a. M
  • Fenichel, Otto (1998): 119 Rundbriefe. 2 Bde, hrsg. v. Johannes Reichmayr u. Elke Mühlleitner. Frankfurt a. M./Basel
  • Ders. (1993): Elemente einer psychologischen Theorie des Antisemitismus, in: Simmel, Ernst (Hg.): Antisemitismus. Frankfurt a. M.
  • Freud, Sigmund (1909): Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben, in: ders.: GW VII. Frankfurt a. M. 1999
  • Ders. (1910): Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, in: ebd. VIII
  • Ders. (1911): Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides), in: ebd. VIII
  • Ders. (1913): Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, in: ebd. IX
  • Ders. (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: ebd. XIII
  • Ders. (1930): Das Unbehagen in der Kultur, in: ebd. XIV
  • Ders. (1939): Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: ebd. XVI
  • Fromm, Erich (1936): Studien über Autorität und Familie. Forschungsbericht am Institut für Sozialforschung. Paris
  • Horkheimer, Max (1993): Der soziologische Hintergrund des psychoanalytischen Forschungsansatzes, in: Simmel a.a.O.
  • Löwenthal, Leo (1990): Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus, in: ders.: Schriften Bd. 3. Frankfurt a. M.
  • Rommelspacher, Brigit (1992): Rechtsextremismus und Dominanzkultur, in: Foitzik, Andreas et al. (Hg.): „Ein Herrenvolk von Untertanen“. Rassismus Nationalismus Sexismus. Duisburg
  • Sartre, Jean Paul (1975): Betrachtungen zur Judenfrage, in: ders.: Drei Essays. Frankfurt a. M.
  • Simmel, Ernst (1993): Antisemitismus und Massen-Psychopathologie, in: ders. a.a.O.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
2003
, Seite 21
Autor/inn/en:

Andreas Peham:

Andreas Peham (früher auch unter dem Pseudonym „Heribert Schiedel“) ist freier Mitarbeiter im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands., seit Mai 2002 Redaktionsmitglied, seit 2005 Vorstandsmitglied von Context XXI.

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