Context XXI » Print » Jahrgang 1999 » ZOOM 2/1999
Stephan Grigat

Nationalismus, Emanzipation und Öcalan

Vortrag, gehalten bei der Veranstaltung „Solidarität mit Öcalan?“ am 17. März 1999 im EKH.

Der naive Humanismus, eine Anschauungsweise, die vom moralistischen Linksradikalismus bis zum Linksliberalismus zu Hause ist, glaubt, überall auf der Welt Menschen und nichts als Menschen sehen zu können. In Wirklichkeit verhält es sich natürlich ganz anders. In der bürgerlichen Gesellschaft ist niemand einfach nur Mensch oder Individuum, sondern immer bürgerliches Subjekt. Das heißt, die Menschen sind mit all ihren menschlichen Regungen, Empfindungen und Bedürfnissen in das Korsett der bürgerlichen Subjektivität gezwängt. Diese bürgerliche Subjektivität bedeutet, daß sie sowohl Warenmonaden als auch Staatsbürger sind. Und als solche sind sie stets Nationalstaatsbürger, also Angehörige einer Nation und als solche geborene Nationalisten.

Damit wäre die Ausgangslage, das Problem, vor dem wir stehen, umrissen. Nationalismus ist keine Einstellung von ein paar Rechtsradikalen, sondern weitgehender Konsens in der bürgerlichen Gesellschaft. Auf einer phänomenologischen Ebene kann Nationalismus am kürzesten wie folgt definiert werden: Er umfaßt jede explizite oder implizite positive Bezugnahme auf eine materiell existente oder ideell vorgestellte, noch zu errichtende Nation. Um zu begreifen, was Nationalismus ist, muß man erst mal feststellen, was er sicher nicht ist bzw. wie er sicher nicht hinreichend begriffen werden kann. In der traditionellen Linken – und zwar sowohl von orthodoxen Parteimarxisten wie auch von undogmatischeren Figuren wie beispielsweise den meisten Autonomen – gab es grob gesagt zwei Annäherungsweisen an den Nationalismus, die sich jedoch nicht ausschließen, sondern vielmehr ergänzen. Entweder wurde der Nationalismus in bestimmten Ausprägungen als etwas Positives begriffen, das ein Vehikel zur Emanzipation sein sollte, oder, wenn er als Negatives angesehen wurde, hat man ihn ganz ähnlich wie auch Antisemitismus und Rassismus als eine Ideologie der sogenannten herrschenden Klasse angesehen, die ihn als Instrument bewußt einsetzt, um die sogenannten Beherrschten von ihrer vermeintlichen weltgeschichtlichen Mission – also Weltrevolution etc. – abzuhalten. Nationalismus als objektiv notwendige – wenn auch nicht zwangsläufig erforderliche – Basisideologie der warenproduzierenden Moderne zu begreifen, bleibt solch einer Betrachtungsweise völlig fremd und unverständlich. Um eben solch ein Verständnis von Nation und Nationalismus soll es im Folgenden gehen, um vor diesem Hintergrund abschließend einige Probleme des sogenannten Befreiungsnationalismus und der internationalen Solidarität anzureißen.

Staatliche Gewalt und Warentausch

Die Nation entsteht zum einen aus der widersprüchlichen Liaison, die Staat und Kapital miteinander eingehen, [1] und zum anderen, was aber nichts anderes ist, sondern zu dieser Liaison von Kapital und Staat in unterschiedlichen Ausprägungen immer dazu gehört, aus der zugleich zwanghaften und freiwilligen Integration des Faktors Arbeit in den Staat und damit in die Nation. Um das verstehen zu können, muß man sich schrittweise die Konstitution der bürgerlichen Subjektivität ansehen, nämlich die Konstitution der Warensubjekte im Tausch, die Selbst- und Zwangsobjektivierung als Staatsbürger und die gleichermaßen einerseits folgerichtige und rationale und andererseits auch durchaus wahnhafte Konstitution des Waren- und Staatsbürgersubjekts zum Nationalisten – wobei zu berücksichtigen ist, daß diese Aufteilung nur analytischen Charakter hat, während in der Realität, wenn auch nicht zwangsläufig im historischen Prozeß, aber doch in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft, diese Ebenen in eins fallen.

Die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft beziehen sich in erster Linie als Warenbesitzer aufeinander. Das ist die vornehmliche Form der Kommunikation in dieser Gesellschaft. Die Menschen treten einander als Subjekte gegenüber, die durch den beabsichtigten Tausch bereits auch Rechtssubjekte sein müssen. Der Warentausch erfordert daher von vornherein staatliche Herrschaft, die sich positiv auf das Prinzip des Äquivalententauschs bezieht und die gegenseitige Respektierung der Menschen als freie Besitzer der Waren letztinstanzlich durch seine Gewalt garantiert. Genau in diesem recht simplen, aber gar nicht angenehmen Sachverhalt steckt dann auch schon so ziemlich die ganze Wahrheit des bürgerlichen Schlachtrufs von Freiheit und Gleichheit, der bekanntlich bei der historischen Konstitution der Nation eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Die im kapitalistischen Produktions- und Tauschprozeß angelegte Abstraktion, die dazu führt, daß simple Gebrauchsdinge, die menschliche Bedürfnisse befriedigen können, in der Form von Waren und daher als Werte erscheinen, wäre folgenlos und bliebe sozusagen eine nur gedankliche Abstraktion, gegen die eigentlich nicht viel einzuwenden wäre, da sie niemandem schadet und jenen, die glauben, sie vornehmen zu müssen, offenbar ein intellektuelles Vergnügen bereitet. Die im Tausch angelegte Abstraktion gerät aber eben gerade zu so etwas, was man Realabstraktion nennt. Und dafür, unabhängig davon, daß diese Realabstraktion im Tauschvorgang selber angelegt ist, bedarf es der staatlichen Gewalt oder auch einer anderen, wie der mafiotischen oder einer befreiungsnationalistisch-bewegten Gewalt. Diese wie auch immer geartete Gewalt garantiert die Warenförmigkeit der Dinge und sanktioniert jeglichen Verstoß gegen das auch den meisten Linken heilige Prinzip des gleichen Tauschs. Das Willensverhältnis der Warenbesitzer, also der Wunsch, ihre unterschiedlichen Waren aufeinander zu beziehen, wird zu einem Rechtsverhältnis, dessen deutlicher Ausdruck das Geld, also das allgemeine Äquivalent ist – jenes Medium, das vom Staat gestiftet wird und über das die Kommunikation der Warenmonaden abgewickelt wird.

Die Warensubjekte sind also als nichtstaatliche Subjekte kaum denkbar. Sie wollen den Staat oder besser: sie müssen ihn wollen. Und zwar unabhängig davon, welche Waren sie besitzen und verkaufen, also unabhängig davon, ob sie irgendwelche Industriegüter oder eben mangels anderer Möglichkeiten ihre Arbeitskraft verkaufen. Das ist ein entscheidender Punkt, weil hier klar wird, warum sowohl der Staatsfetischismus als auch der Nationalismus klassenübergreifende Phänomene sind.

Nun wäre es aber völlig falsch, die Nation als rationales Beiwerk des Warentauschs zu begreifen. Die moderne Nation muß vielmehr als ein Selbstläufer begriffen werden, der, einmal in die Welt gesetzt, nicht unmittelbar aus der Wertverwertung heraus erklärt werden kann, sondern vielmehr ein sowohl ergänzendes als auch konkurrierendes fetischistisches Prinzip zur fetischistischen Wertproduktion und zum Warentausch darstellt. Der Nationalismus setzt sich mitunter – gerade heute – auch gegen seine eigene Grundlage, die tendenziell global agierende und expandierende Wertverwertung, gewaltsam durch. Nationalismus kann unter anderem aus diesem Grund auch als antikapitalistischer daherkommen, ist aber gerade in dieser Ausformung fast immer nur die volksgemeinschaftliche Verteidigung des gerechten Tauschs. Derartiges führt dann gerade auch in der traditionellen Linken zu allerlei Hirngespinsten.

Nationale und soziale Frage

Im schlimmsten Fall will die traditionelle Linke mit den Rechten um die Besetzung der „nationalen Frage“ ringen. Vor allem aber will die Bewegungslinke mit den Nazis und anderen um die Beantwortung dessen konkurrieren, was immer als linker Gegenpart, als emanzipative Antwort auf die vermeintlich von rechts aufgeworfene „nationale Frage“ gehandelt wird: sie will um die Beantwortung der „sozialen Frage“ konkurrieren. Sie weigert sich dabei beharrlich, anzuerkennen, daß diese Frage – insbesondere in postnationalsozialistischen Ländern wie Deutschland und Österreich – immer auch schon ein Teil der Antwort ist: der positive Bezug auf den Staat als imaginierten kollektiven Garanten des Allgemeinwohls des Volkes.

Die zahlreichen Kritiker und Kritikerinnen des Antinationalismus betrachten den Nationalismus ihrer Klientel nur als „von oben“ aufoktroyierte Ideologie. Sie tun das notwendigerweise, da ihnen sonst der vorbehaltlose positive Bezug auf das Volk, die Massen oder die Arbeiter- und Arbeiterinnenklasse versagt wäre. Jener Form antinationaler Kritik hingegen, wie ich sie hier in Umrissen darzustellen versuche, geht es darum, die Bewußtseinsformen der bürgerlichen Subjekte als notwendigen Ausdruck der fetischistischen Wertverwertung, also der unbegriffenen Kapitalanhäufung, der nicht verstandenen und sich hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzenden Vergesellschaftung zu dechiffrieren. Die bürgerliche Subjektivität, die Warentausch und -produktion will und wollen muß, muß auch das organisierte Gewaltmonopol wollen – den Staat. Da dieser in Form des Nationalstaates existiert, ist die Verkörperung der Warenmonade sowohl in ihrer bourgeoisen als auch in ihrer proletarischen Ausprägung – um das nochmals zu betonen – nur als aktiver Nationalist oder aktive Nationalistin zu haben. Da die Affirmation von Tausch, Staat und Nation den Subjekten aber keinerlei Garantie ihrer produktiven Vernutzung, die in der kapitalverwertenden Gesellschaft für die große Mehrheit der Menschen die einzige Möglichkeit individueller Reproduktion bietet, gibt, drängen sie permanent zur Artikulation einer konformistischen Revolte. Ausdruck dieser konformistischen Revolte sind Antisemitismus und Rassismus, die ebenso wie der Sexismus als Basisideologien des warenproduzierenden und nationalstaatlichen Systems begriffen werden müssen.

Hier drängt sich der für die Diskussion über Befreiungsnationalismus natürlich nicht uninteressante Hinweis auf, daß die Nation also strukturell immer schon den Antisemitismus in sich birgt. Und daß es sich hier nicht um eine abstrakte Erörterung um ihrer selbst willen handelt, zeigt sich beispielsweise daran, daß in der mittlerweile verbotenen prokurdischen Zeitung Özgür Ülke 1994 ein Text unter dem Titel „Der Spezialkrieg und das Judentum“ erschienen ist, in dem der mit dem kurdischen Nationalismus bisher erfolgreich konkurrierende türkische Nationalismus als weitere Perfidie der jüdisch-zionistisch-freimaurerischen Weltverschwörung geoutet wurde. Dieser Text hat zwar zu einigen Diskussionen in der europäischen Soliszene geführt, meines Wissens aber nicht zu einer eindeutigen Distanzierung seitens der PKK-Führung.

Die aus dem Fetischismus der bürgerlichen Produktionsweise resultierende negative Vergesellschaftung bringt die Notwendigkeit einer verdinglichten Darstellung der gesellschaftlichen Beziehungen hervor. Die Herrschaft der abstrakten Wertverwertung erzwingt offenbar die Existenz der Nation als etwas scheinbar Allgemeines und Wahres. Die Nation dient als positives Konkretum, auf das sich die Subjekte, die sich ja nicht, wie es in der Ideologie der Alltagssprache beschönigend heißt, als Tauschpartner, sondern vielmehr als Tauschgegner gegenübertreten, kollektiv beziehen und mit dem sie sich gemeinschaftlich identifizieren können. Das bürgerliche Subjekt ist nicht in der Lage, Identität aus sich selbst zu gewinnen. Seine Bestimmung ist es, verwertbar und herrschaftskompatibel zu sein. Es muß, soll und will sowohl produktiv als auch staatsloyal sein. Gerade ersteres, also seine Betätigung als produktiv benutz-, vernutz- und verwertbarer Kapitalteil, wird ihm aber immer wieder verwehrt. Um die Identität dennoch aufrecht erhalten zu können, wird es um so loyaler, dient sich, vom Kapital verstoßen, um so heftiger dem Souverän an, dem man in letzter Konsequenz das eigene Leben zur Verteidigung der Nation anbietet – eine allgemein theoretische Feststellung, die sich jedoch zumindest ansatzweise auch empirisch untermauern läßt: Vor allem in Ostdeutschland, aber auch in den strukturschwachen Regionen Westdeutschlands oder Österreichs läßt sich seit Jahren eine Entwicklung bei jugendlichen Männern beobachten, die in etwa mit „je arbeitsloser, desto Bundeswehr oder -heer“ beschrieben werden kann.

NOTO KOSOWAR 2.0

Die Identifikation mit der Nation ist dabei – wie bereits angedeutet – freiwillig und erzwungen zugleich. Die Rekrutierung der Staatsbürger erfolgt, ohne diese nach ihrem Einverständnis zu fragen – eine Unverschämtheit, die heutzutage als Selbstverständlichkeit durchgeht. Kaum ist man auf der Welt, noch bevor man seinen ersten Laut von sich gibt, ist man schon für das nationale und staatliche Kollektiv zwangsverpflichtet. In der Regel stimmen die bürgerlichen Subjekte dieser Verpflichtung später aber auch zu, meistens nach ersten Erfahrungen mit rechtlich nicht abgesegneter Enteignung von Privateigentum – also wenn man mal beklaut wird – spätestens aber dann, wenn die eigene Arbeitskraft nicht mehr als produktiv gilt und man seine Rechte daher wenigstens damit legitimieren möchte, daß man doch – im Gegensatz zu den durch die nationalstaatliche Einteilung dieser Welt fabrizierten Ausländerinnen und Ausländern – als Zugehöriger zur Nation sein Lebensrecht trotz Unproduktivität noch nicht verwirkt hat. Aber auch ohne solche privaten oder gesellschaftlichen Krisensituationen gilt die Nation und ihr Staat als Einrichtung zum Wohle aller, als Garant, je nach Möglichkeit, Kapital zu verwerten oder die eigene Arbeitskraft zu verkaufen. Die Krise als Normalzustand kapitalistischer Produktionsweise ist dabei aber trotzdem nicht zu vernachlässigen, denn diese Dauerkrise ist es meiner Einschätzung nach letztlich, die die Potentialität des faschistischen Wahns in jedem noch so demokratisch und humanistisch erzogenen bürgerlichen Nationalstaatssubjekt verankert. Als bekennender Nationalist sieht sich das bürgerliche Subjekt in einem – wie Joachim Bruhn das einmal sehr treffend formuliert hat – permanenten Zweifrontenkrieg gegen die vermeintlich Überwertigen und die – im Sinne der Wertlogik kapitalistischer Produktion im wahrsten Sinne des Wortes – Minderwertigen. Gegen erstere richtet sich dann der Antisemitismus, gegen letztere der Rassismus des keineswegs zwangsläufig faschistischen, sondern durchaus auch des normaldemokratischen, mitunter ebenfalls –wie leider auch in Wien immer wieder feststellbar – des linksradikalen Nationalstaatsbürgers.

Eine antinationale Kritik greift also die Nation als Bündelung des wertfetischistischen und damit strukturell antisemitischen, rassistischen und sexistischen Bewußtseins an. Nimmt sich derartige Kritik selber ernst, ist ihr natürlich die bewußtlose Fortsetzung des taktierenden Praktizismus versagt. Darin ist meiner Einschätzung nach auch der Grund zu suchen, warum solche Kritik permanent auf aggressive Abwehrreaktionen trifft. Zur Nation und zum Nationalismus kann es kein taktisches, strategisches oder – wie die gebildeteren Bewegungsmarxisten und -marxistinnen dann sagen – dialektisches Verhältnis geben, sondern die Nation kann nur Gegenstand der radikalen, auf Abschaffung zielenden Kritik sein – anders gesagt: die Nation ist so ziemlich das Hinterletzte und eine Linke, die sich in irgendeiner Form heute positiv auf sie bezieht, wird kein Jota zu einer Emanzipation beitragen können

Nationalismus oder Befreiung

Vor dem hier skizzierten Hintergrund ist die Begeisterung für nationale Befreiungsbewegungen natürlich völlig irrsinnig, wenn auch vielleicht verständlich, also verständlich nicht im Sinne von „irgendwie schon akzeptabel“, sondern im Sinne einer Ideologiekritik, die das Verstandene als Falsches kenntlich macht. Das Hauptproblem der linken Begeisterung für die nationale Befreiung im Trikont – und zum Teil ja nicht nur da, wenn man etwa an die Begeisterung vieler Linker angesichts der deutschen Wiedervereinigung denkt – sehe ich darin, daß große Teile der Linken mit ihrem verkürzten Imperialismusverständnis – und das ist in der Regel die Grundlage für die Legitimation des Befreiungsnationalismus – Herrschaft auf Fremdherrschaft und Kapitalismus auf Ausbeutung durch fremdes Kapital reduziert haben. Die unkritische Bezugnahme auf den Befreiungsnationalismus im Trikont führte und führt zur Affirmation von Herrschaftskategorien wie Staat, Nation und Volk. Daß Staat, Nation und Volk gerade auch im Trikont so hoch im Kurs stehen, hat damit etwas zu tun, daß es fast allen Befreiungsbewegungen immer nur um eine eigenständige, mitunter auch alternativ gestaltete Warenproduktion gegangen ist, also nie um einen prinzipiellen Bruch mit der fetischistischen Wertlogik der bürgerlichen Produktionsweise, also um eine grundlegende Kritik der Grundkategorien bürgerlicher Ökonomie wie Ware, Wert und Geld. In den vorangegangenen Ausführungen sollte klar geworden sein, daß in diesem fortgesetzten positiven Bezug auf den Tausch als zentralem Prinzip der Vergesellschaftung die Affirmation von Staat und Nation nahezu zwangsläufig angelegt ist. [2] Ein Antiimperialismus, der durch sein verkürztes, in der Regel in der unseligen Tradition des Marxismus-Leninismus stehendes, Staat, Nation und Volk affirmierendes Imperialismusverständnis zwischen der Kritik imperialistischer Politik einerseits – die ja nachwievor richtig und notwendig ist – und der vorbehaltlosen Parteinahme für die Opfer solcher Politik – und vor allem für jeden Schwachsinn, den diese, wie alle anderen Menschen auch, mitunter so von sich geben – andererseits nicht unterscheiden kann, solch ein Antiimperialismus führt meiner Meinung nach nahezu zwangsläufig zur Kollaboration mit diversen Diktatoren, völkischen Nationalisten und Antisemiten. Und damit wären wir bei Abdullah Öcalan.

Das „einerseits“ wäre in diesem Fall ganz einfach die selbstverständliche Kritik an der rechts-autoritären, semi-faschistischen Herrschaftsausübung in der Türkei, also auch an sämtlichen Repressionsmaßnahmen des türkischen Staates gegenüber der kurdischen und türkischen Bevölkerung. Das „andererseits“ ist die vorbehaltlose Solidarität mit einem spezifischen Opfer dieser Repression, nämlich Abdullah Öcalan. Wer sich mit Öcalan solidarisiert, wer Bilder von ihm auf Demos rumträgt oder in Lokalen aufhängt, sollte sich zumindest dessen bewußt sein, daß hier von einem Mann die Rede ist, der gegen den Kosmopolitismus wettert und die BRD als Modell eines sozialistischen Staates anpreist, der nach einem vermeintlich „echten Islam“ strebt, Alkoholkonsum verbietet und rigide gegen sexuelle Beziehungen vorgeht, sich für „absolut fehlerlos“ hält und glaubt in einer „göttlichen Verbindung“ zu seiner Gefolgschaft zu stehen, der die Argumentationen deutscher Überfremdungshysteriker und Rassisten durchaus nachempfinden kann und ein geradezu glühender Anhänger der Todesstrafe ist, und dem nicht zuletzt von ehemaligen Mitkämpfern und Mitkämpferinnen zahlreiche Hinrichtungs- und Folterbefehle, vor allem gegen Leute aus den eigenen Reihen, vorgeworfen werden. [3]

Die PKK ist ein Paradebeispiel für eine Bewegung, bei der die ohnehin nur zaghaft vorhandenen emanzipativen Elemente durch den Nationalismus völlig überlagert werden. Selbst noch die Klassenwidersprüche in der kurdischen Gesellschaft werden von ihr in nationalen Kategorien gedacht. Öcalan beklagte sich 1994 über den mangelnden Patriotismus seiner Gefolgschaft und wetterte dagegen, daß die Kurden und Kurdinnen „reihenweise, scharenweise ihr tausendjähriges Heimatland (verlassen), um ihren Bauch zu füllen.“ Jakob Bauer bemerkte dazu bereits damals in „Konkret“ völlig zu recht: „Mit soviel praktischer Vernunft der Basis könnte vielleicht ein sozialrevolutionärer Anführer etwas anfangen – ein Nationalist sieht da kein Land mehr.“ Bei der Solidarität mit Öcalan – die ja keineswegs die Voraussetzung ist, um dagegen zu sein, daß jemand vor laufenden Kameras gedemütigt und vermutlich durch die türkische Staatsgewalt umgebracht wird – geht es also, wenn man auch nur einen Bruchteil der gegen Öcalan ja nicht nur von der konservativen Presse, sondern von linken Kritikern und Kritikerinnen ebenso wie von Menschenrechtsorganisationen erhobenen Vorwürfe für gerechtfertigt erachtet, um die Verbrüderung mit einem ex-stalinistischen, heute nur mehr völkisch-nationalistischen Genossen- und Genossinnenmörder.

Literatur

  • Bauer, Jakob: Durchs wilde Kurdistan. in: Konkret, Nr. 11, 1994, S. 27 ff.
  • Bruhn, Joachim: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation. Freiburg i. Br. 1994.
  • Cürükkaya, Selim: PKK. Die Diktatur des Abdullah Öcalan. Mit einem Vorwort von Günter Wallraff und einem Interview Günther Wallraffs mit Abdullah Öcalan. Frankfurt/M. 1997.
  • Gruppe demontage: Postfordistische Guerilla. Vom Mythos nationaler Befreiung. Münster 1998.
  • Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 1974 (1867).
  • Rudow, Gerhardt: Nationalismus und Ökonomie. Territorialstaat und globaler Kapitalismus. in: Bahamas, Nr. 16, 1994/95, S. 40 ff.

[1Im ersten Teil meiner Ausführungen folge ich weitgehend der Argumentation von Rudow, Gerhardt: Nationalismus und Ökonomie. Territorialstaat und globaler Kapitalismus. in: Bahamas, Nr. 16, 1994/95, S. 40 ff. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß auf Grund der Kürze die Ausführungen zum Teil recht allgemein bleiben, also einige durchaus nicht zu vernachlässigende Differenzierungen wie beispielsweise jene zwischen republikanischem und völkischem Nationalismus nicht eigens thematisiert werden.

[2Dabei ist zu berücksichtigen, daß vielen an die Macht gelangten Befreiungsbewegungen auf Grund des stummen Zwangs der Verhältnisse, aber auch auf Grund der jahrelangen Arbeit der gar nicht stummen Konterguerillas oft nichts anderes übrigblieb (vor allem nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Lagers), als sich zumindest partiell dem Weltmarkt und damit automatisch der Warenlogik auszuliefern. Außerdem sieht man gerade in den Trikontländern sehr deutlich, daß das, was hier unter dem Titel „bürgerliche Subjektivität“ behandelt wurde, zwar teilweise auf Grund der fetischistischen Struktur einer kapitalakkumulierenden Ökonomie scheinbar wie von selbst entsteht, aber eben auch – gerade im Falle des Kolonialismus – gewaltsam gesetzt wird. Das Problem ist nur, daß heute die meisten nationalen Befreiungsbewegungen eher zur Zementierung dieser gewaltsamen Setzung beitragen, anstatt sie zu kritisieren.

[3In den letzten Jahren sind von (ehemaligen) PKK-Frauen auch Vergewaltigungsvorwürfe gegenüber Öcalan laut geworden. Anstatt sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen, reagieren die Anhänger von „biji serhok APO“ darauf wie beim diesjährigen Newroz-Fest am Wiener Heldenplatz mit Transparentaufschriften wie „Öcalan ist ein Symbol für die Freiheit der türkischen Frau“.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1999
, Seite 21
Autor/inn/en:

Stephan Grigat:

Politikwissenschaftler und Publizist, Mitbegründer und wissenschaftlicher Direktor der Kampagne Stop the Bomb in Österreich, Mitglied von Café Critique. Von Juni 1999 bis September 2001, im November 2002 und von Oktober 2003 bis März 2004 Redaktionsmitglied, von Juni 1999 bis September 2000 sowie von Oktober 2003 bis Juni 2004 koordinierender Redakteur von Context XXI.

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