Anlässlich der „Anschluss“-Gedenkveranstaltungen 1988 fand am Institut für Philosophie in Wien eine Tagung zur Geschichte des Wiener Instituts für Philosophie während des Nationalsozialismus statt, die selbst zum Gegenstand heftiger Polemiken und Debatten wurde. Diese sind teilweise im 1993, also fünf Jahre später (!) unter beträchtlichen Mühen und gegen massive Widerstände publizierten Sammelband [1] nachzulesen. Unter dem Eindruck der entstandenen Aufregung wurde auch der Fokus verändert — der Zeitraum von 1930 bis 1950 erweitert und den Kontinuitäten mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Denn die Tatsache, dass es sich um ein so „heißes Thema“ handelte, wies deutlich darauf hin, dass es bei einem solchen Unterfangen keineswegs nur um „Vergangenheitsbewältigung“ gehen kann, sondern um die Analyse einer aktuellen Situation in ihrer konkreten historischen Bedingtheit.
Für die folgende Kurzdarstellung, die sich an den in diesem Sammelband — „Der geistige Anschluß“ — veröffentlichten Aufsätzen orientiert, soll deshalb der Versuch unternommen werden, von heute beginnend zur Situation in den Dreißiger Jahren „zurückzugehen“.
Das heute existierende Institut für Philosophie an der Uni Wien, das verhältnismäßig viele Lehrende aufweist, das in sich vielfältig fragmentiert ist, sich in „Schulen“ organisiert — sowohl was die Reproduktion der Lehrenden als auch die Segregation der Studierenden betrifft — und das immer wieder durch heftige Kontroversen oder umstrittene Entscheidungen ins Licht der universitären Öffentlichkeit gerät, beruht in vielen seiner strukturellen Eigenheiten auf seiner Entwicklung ab den 50er Jahren. Diese war durch die Teilung in zwei Institute und deren Ordinarien Erich Heintel auf der einen, Leo Gabriel auf der anderen Seite — durch eine versperrte Tür getrennt — geprägt. [2] Interessant scheint nun, gerade jene Punkte zu nennen, die diese beiden philosophischen Institute und ihre „Padrones“ gemeinsam hatten, denn sie stabilisierten sich gegenseitig ungemein und beruhten auf einem Grundkonsens dessen, wie Philosophie zu denken und zu lehren sei, bzw. wie ihr Verhältnis zur Wissenschaft auszusehen habe — auch wenn sie von ihren jeweiligen SchülerInnen die emphatische Übernahme ihres philosophischen Gestus, wie es Elisabeth Nemeth in dem höchst aufschlussreichen Aufsatz „Zwischen Orthodoxie und gesellschaftlicher Sichtbarkeit“ [3] nennt, forderten.
Zentrale Elemente dieses Grundkonsenses sind zum einen eine Konzeption von Philosophie und deren Vermittlung, die sich „sozialer Magie“, starker Gruppenkohäsion und dem Erlernen einer bestimmten Sprache, bestimmter Argumentationsfiguren, eines spezifischen Gestus und einer Haltung (ganz im Sinne Brechts) verdankt, zum anderen eine auf beiden Seiten gleich starke Ablehnung marxistischer Philosophie ebenso wie der Philosophie des „Wiener Kreises“. [4]
Dieser Grundkonsens ist es auch, der uns sogleich in die Dreißiger Jahre geleitet, so wie die zwei Ordinarien Heintel und Gabriel, und es ruft vielleicht kein großes Erstaunen hervor, wenn wir in diesen zwei Figuren der Wiener Nachkriegsphilosophie die zwei Spielarten des deutschsprachigen Faschismus repräsentiert finden.
Als „Schüler und Freund“ [5] von Robert Reininger, der 1939 in „Wertphilosophie und Ethik: Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Weltordnung“ vom „angeborene[n] Ethos einer Rasse und eines Volkes“ spricht, das „keiner Belehrung durch die Theorie bedarf“, [6] im selben Jahr emeritiert und von dem langjährigen NSDAP-Mitglied und NS-Weltanschauungs-Anthropologen Arnold Gehlen als Ordinarius für Philosophie abgelöst wird, [7] bemüht sich Erich Heintel in den Jahren nach dem Anschluss um eine NSDAP-Mitgliedschaft, die er schließlich am 1. Juli 1940 erhält. [8]
Heintel habilitiert sich 1939 mit einer Arbeit zu Nietzsches „System“, wo es z.B. heißt: „Wer, wie er [Fichte], im Gelehrten das ‚öffentliche Gewissen‘ im Staate sah, konnte wohl kaum mit ihm jenes Bild eines feigen und marklosen Schwätzers verbinden, welches unser aufbrechendes Zeitalter mit Recht verhöhnt und verachtet, [...]“ [9] und veröffentlicht 1944 die Schrift „Metabiologie und Wirklichkeitsphilosophie“, in der er es begrüßt, „[d]aß man nämlich mit dem biologischen Denken Ernst gemacht hat, daß man also z.B. Vererbungslehre als Eugenik usw. in den Dienst menschlicher Daseinsgestaltung gestellt hat, [...]“ und meint damit für alle, die „an gesunder, sauberer Leiblichkeit [...] Freude ha[ben]“, [10] sprechen zu können.
Die „philosophischen“ Kreuzritter der Tat und des neuen Geists „gegen Intellektualismus und Mechanismus“ weisen sich so die legitimatorische Funktion ihres Wirkens gleich selbst zu.
Leo Gabriel wiederum war dem Austrofaschismus zugewandt, publizierte in den Dreißiger Jahren Aufsätze zur „Arbeit als gemeinschaftsbildendes Element“ und zur „geistigen Situation der Volksbildung“ in katholisch-ständestaatlichen Zeitschriften. [11] Im denkwürdigen Buch mit dem Titel „Führertum und Gefolgschaft“ (1937), legte er ein eindeutiges Bekenntnis zu Führerprinzip und Autoritarismus ab: „Der Führer hat ein sittliches, im Wesen der Gemeinschaft tief begründetes Anrecht, einen Gefolgsanspruch zu stellen.“ [12] Auch Gabriels Freundschaft mit einem gewissen Dr. Nelböck, einem ehemaligen Schüler des Philosophieprofessors Moritz Schlick — dem letzten in Wien lehrenden Mitglied des „Wiener Kreises“ läßt einige Fragen offen. [13] Nelböck ermordete Schlick am 22.6.1936 nach mehreren Morddrohungen auf den Hauptstiegen der Universität Wien.
Gerade die problemlose Rehabilitation jener Universitätsangehöriger nach 1945, die dem Austrofaschismus nahestanden,— als Opfer des Nationalsozialismus — ist angesichts der radikalen antisemitischen „Säuberungspolitik“ an den Universitäten in Österreich vor dem „Anschluss“ ein Hohn. Zwecks der Anschaulichkeit: Die Durchsetzung der Nationalsozialistischen Rassengesetze, die in Österreich lediglich einen Bruchteil der Zeit brauchte als davor in Deutschland, betraf im Bereich der österreichischen Universitätsphilosophie lediglich zwei Personen, beide selbst nicht Juden, sondern, wie es hieß, „jüdisch versippt“, alle anderen Lehrenden der Philosophie jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft waren bereits davor aus der Universität ausgeschlossen oder vertrieben worden. [14]
[1] Kurt R. Fischer, Franz M. Wimmer (Hg.): Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930-1950. — Wien: WUV-Universitätsverlag 1993. siehe insb. Anhang: Darstellungen und Kontroversen, S.239-292.
[2] vgl. Herta Nagl-Docekal: Das Institut für Philosophie der Universität Wien. Der Status Quo und seine Genese. — in: ebd., S. 206- 220. (Trotz wichtiger Informationen über die Lage des Instituts in den frühen 60er Jahren suggeriert dieser Artikel eine kontinuierliche positive Entwicklung, die in Anbetracht des reaktionären „Backlashs“ in der Machtverteilung am Institut verharmlosend wirkt).
[3] Elisabeth Nemeth: Zwischen Orthodoxie und gesellschaftlicher Sichtbarkeit. Erinnerungen an Karl Ulmer und Überlegungen zum Institut für Philosophie an der Universität Wien. — in: ebenda, S. 221-235.
[4] vgl. ebenda, S. 230f. In den laufend erscheinenden Würdigungen zu Heintels Leben und Werk wird meist die „Monumentalität“ seiner Philosophie hervorgehoben — eine Monumentalität, die sich mit den Detailfragen kritischer Rationalität und Wissenschaftlichkeit, geschweige denn einer Reflexion der eigenen Tätigkeit, nicht einzulassen gewillt war.
[5] vgl. Kurt Walter Zeidler: Kritische Dialektik und Transzendentalontologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantianische Systematik R. Hönigswalds, W. Cramers, B. Bauchs, H. Wagners, R. Reiningers und E. Heintels. — Bonn: Bouvier 1995. S. 291
[6] zit. in: Otto Pfersmann: Philosophie in Wien zwischen „Anschluß“ und Befreiung, Mythus, Affekt und praktischer Vernunft. — in: K.R. Fischer, F.M. Wimmer (Hg.): Der geistige Anschluß. S. 86-88.
[7] vgl. Gernot Heiß: „... wirkliche Möglichkeiten für eine nationalsozialistische Philosophie“? Die Reorganisation der Philosophie (Psychologie und Pädagogik) in Wien 1938 bis 1940. — in: ebenda, S. 132-134.
[8] vgl. Kurt Rudolf Fischer, Franz Martin Wimmer: Vorbemerkung. — in: ebenda, S. 7f. — Mit der Arbeit George Leamans dürfte die umstrittene Frage, ob das Ansuchen Heintels auf NSDAP-Mitgliedschaft erfolgreich war oder nicht, zunächst zumindest insoweit geklärt sein, als Heintels Mitgliedschaft und seine Mitgliedsnummer feststehen.
[9] zit. in: Otto Pfersmann (s.o.) S.92.
[10] zit. in: Frank Hartmann: Das Wiener Philosophische Institut und der Nationalsozialismus. Ein Bericht. — in: K.R. Fischer, F.M. Wimmer (Hg.): Der geistige Anschluß. S.176.
[11] Die Arbeit als gemeinschaftsbildendes Element. — in: Volkswohl. Katholische Monatsschrift für Volksbildung, Kultur und Gesellschaftsreform Jg. 25, H. 7 (1933/34) S. 198-203 — Die geistige Situation der Volksbildung. — in: Das Volksbildungswesen der Stadt Wien unter Bürgermeister Richard Schmitz in den Jahren 1934-1936. Wien 1937. S. 5-9, vgl. Bibliographie Leo Gabriels unter: http://www.austrian-philosophy.at/
[12] zit.in: Frank Hartmann (s.o.) S.172.
[13] vgl. ebenda.
[14] vgl. George Leaman: Die Universitätsphilosophen der „Ostmark“. — in: FORVM, Nr. 481-484 (22.4.1994).