MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 54
Peter Jirak

Lüstlinge aller Länder, entschleunigt die Zeit

Seit der Kapitalismus materielle und kulturelle Produktion gleichgeschaltet hat, d.h. den Verlust des Gebrauchswerts affirmiert, läßt sich von einer künstlerischen Avantgarde bloß noch im emphatischen Sinn reden: Jeder Designer, der einen ‚neuen‘ Warencharakter entwirft, postuliert, seiner Zeit voraus zu sein.

Roy Lichtenstein, Stilleben mit Kristallglas und zwei Zitronen

Der Witz indessen besteht darin, daß es keine Zeit mehr gibt, jedenfalls als Gebrauchswert. Kein Mensch hat heute noch Zeit, außer den gesellschaftlich Ausgestoßenen. Die Zeit wurde zu einer substanziellen Mangelerscheinung wie die Luft und das Wasser. Daß die Ökonomie letztlich auf Zeitersparnis hinauslaufe, entsorgt allemal Gelächter dort, wo jedermann weiß, daß sie sich nur noch aus Logistik und Ethologie zusammensetzt. Seit die Wirtschaft zum totalen Krieg mit anderen Waffen mutierte, hat der nekrophile Imperialismus — die letzte Phase des Kapitalismus — zwar sich den Staatskapitalismus in sein System einzuverleiben begonnen und zugleich seine eigene ÜbergröBe als untragbar empfinden müssen. Eine Produktionsweise, der kein historisches Subjekt mehr entspricht, ist nicht existenzfähig. Die Massendemokratie kennt und erlaubt Individuation nicht, weder sich selbst noch anderen. Ohne Individuation aber kann die Masse nur stocken oder sich in ständiger Beschleunigung auflösen. Der élan mortel des Kapitalisten heute ist auf Verwüstung von Mensch und Natur ausgerichtet, trotz aller Sanierungsstrategien technologisch und technokratisch gesteuerter ‚grüner Revolutionen‘. Die ‚zweite grüne Revolution‘ versteht sich bekanntlich als ‚Food-Production without Farms‘.

Unter diesem Titel schreibt der Futurist W.T. Anderson, Autor des unlängst erschienen Buches „To Govern Evolution“ im Klartext: BREAKTHROUGHS IN BIOTECHNOLOGY COULD HELP SCIENTISTS TO PRODUCE ‚REAL‘ FOOD ARTIFICIALLY.

Die Wissenschaft ist heute in der Lage, Nahrungsmittel für die industrielle Produktion zu entwerfen, die auf den ‚Zwischenträger‘ Natur völlig verzichten. D.h. daß Traubensaft ohne Trauben, Tomatenjuice ohne Tomaten, Orangensaft ohne Orangen produziert wird. Konsequenz: Die Fabrik stellt heute das her, was gestern noch der Bauer erzeugt hat. Die BRD plant, auf dem ehemaligen Territorium der DDR die europäische Zentrale für Food-Production zu errichten, selbstverständlich nach neuesten Erkenntnissen der Forschung, wie sie im Auftrag des US-Department of Agriculture von Martin Rogoff, Direktor am „USDA Western Regional Research Center“ und von Steven Rawlins am „System Research Labratory“ Beltsville, Maryland entwickelt werden. Es ist unmöglich, das Produktionssystem der neuen Nahrungsmittel mit allen Implikationen hier darzustellen. Das Resultat sei vorweggenommen: Die ‚traditionelle‘ Industrie und Landwirtschaft hatte die Natur derart ausgelutscht und ausgebeutet, daß sie sich nur als Produktion ohne Natur fortsetzen ließ. Synthetische Menschen stellen in den neuen Fabriken synthetische Nahrung ohne Pflanzen her. Was die menschliche Natur betrifft: Die Gen-Ingenieure des Fortschritts planen den Standardmenschen, der als Roboter die Massenarbeit und den Massenkonsum im Massenwahn der Unterhaltungsindustrie verrichtet. Hier wird die Mobilität des Fortschritts zur Totalmanipulation. „Soft Fashism“ (N. Chomsky) ohne das häßliche Erscheinungsbild von Konzentrationslager und SS-Totenkopfbande. Adornos Prophezeiung trifft zu: AUSCHWITZ IST ÜBERALL.

Was zeigt der Blick nach Osten?

Die Sowjetunion ist zerbrochen. Bleibt das alte Reich der Ruriks, Russland. Unter Jelzin könnte es eine überlebensfähige Massendemokratie werden. Und was passiert mit den 200 Millionen Menschen, die sich das bolschewistische Rußland nach 1945 angeeignet hatte? Sie werden ziehen, wandern, flüchten, nomadisieren. Wohin? Nach dem Westen. Der Weg nach Ost, Nord und Süd ist versperrt, teils aus geopolitischen, teils aus wirtschaftspolitischen Gründen. Wir werden uns noch nach der Großen Mauer sehnen, aber bauen läßt sie sich nicht mehr, auch nicht als wirtschaftsmilitärische Barriere. Der Defensiv Belt aus einem vorgerückten Europa wird nicht lange halten, es sei denn, daß Rußland ein Teil Europas wird und seine Anrainer zur „Dritten Welt“ degradiert werden. Und das alte Europa, Japan? Geschlossene Systeme wie im Mittelalter. Scheinmobil und stagnierend, kontraproduktiv und am eigenen Kot erstickend.

Dennoch: in dieser grauenhaften Polarisierung von Macht/Ohnmacht und Glück könnte sich das unbedingte Glücksverlangen der Menschen unter Umständen durchsetzen. Das Glück ist einzig heilsam für den Leib, sagen die Hedonisten, statistisch eine verschwindende Minderheit bisher. Der Lebensund Weltenplan der Geschichte ist auf Glück ausgerichtet. Erinnern wir uns dieses alten, fast vergessenen Wortes wieder. Erinnern wir uns auch daran, daß Boccaccio mit seinen Tafelfreunden in Certaldo von der Pest unbehelligt blieb. Wer das Glück, die Gegenwart nicht will, muß ausrufen: Ich will kein Überlebender sein. Wer das Glück will, muß aber auch die Glücksideologie der Dromokraten überall als das, was sie in Wirklichkeit ist, entlarven: als autistischen Beschleunigungswahn. In den Zentralen bunkern sich überall die Reichen mehr und mehr ein. Auch ihre Mobilität heißt leibliche Selbstverstümmelung. Ihre Immobilität ist größer als ihr Bewegungsdrang. Fazit: Sie sind Teil der Schizophrenie, die sie selbst erzeugt haben. Der Kapitalist will einerseits die freie Fluktutation von Waren und Tauschwerten, seine eigene leibliche Gegenwart als Gebrauchswert wird indessen genauso legitimiert wie die Natur aller Bewegung. Der Gebrauchswert ist die Präsenz von Natur in Gesellschaft. Naturverlust heißt Lebensverlust. Ergänzung des Szenarios: Zwischen den immobilen Ansitzen der Reichen, die wie Hitlers Schanzen vor Armierung starren, strömen die Massen orientierungslos. Sie werden mehr und mehr gezwungen, nach den Gesetzen des Sozialdarwinismus zu leben, das heißt im Kopf aller gegen alle. Die Masse der Wohlstandsarmen führt einen alltäglichen Krieg gegen die Verelendeten. Tifosi, die sich aus italienischen Arbeitslosen rekrutieren, erschlagen afrikanische Wanderarbeiter. Arbeiter verteidigen ihre kontraproduktiv arbeitenden Giftküchen gegen ‚grüne Besatzer‘.

Weltweit wird der Drogenhandel von autonomen Verbrechersyndikaten monopolisiert. Und die Reichen entdecken auch dort ihren Naturverlust, wo sie und die ihren an Aids oder Krebs zugrunde gehen. Jedermann weiß, daß die Überlebensfrage der Menschheit nicht technisch gelöst werden kann. Freilich wächst ständig die Zahl der Todessehnsüchtigen. Der allgemeinen Nekrophilie setzt sich nun die biophile Bewegung der ‚Glücksritter‘ entgegen. Sie glauben an die Machbarkeit des Glücks. Ihre Gegner denunzieren sie als Romantiker und Anarchisten. Man beteuert, daß die Lust, die sie für alle propagieren, nur Leiden schaffe.

Roy Lichtenstein, Stilleben mit Glas und geschälter Zitrone

Die Slow-Food-Avantgarde

Und daß die Rückkehr zu einem genußvollen Leben und zu einer ‚natürlichen‘ Produktion von Lebensmitteln unmöglich sei. Unmöglich in der maroden Vorstellung der Kritiker vielleicht. Weltweit hat die Slow-Food-Bewegung kleine, agrikulturell arbeitende Lebensmittelhersteller, bewußt und lustvoll lebende Menschen, Sympathisanten, die den Begriff der Lebensqualität leben wollen, organisiert. Gut! Auch die Heilsarmee, die Anthroposophen und die Quäker sind sozialreformerische Bewegungen. Was macht den Unterschied? Die Slow-Food-Bewegung ist eine soziale UND eine politische Bewegung. Die Tendenz ihrer Bewegung ist regressiv und progressiv zugleich. Was heißt das?

  • Die Natur ist nur eine Mitwelt. Die Subjekt-Objekt-Spaltung ist aufzuheben. Die Natur ist handelndes Subjekt.
  • Der private, der beraubte Mensch, der private Haushalt (oikos) muß zum Maß des sozialen Glücks werden. Der Parteienstaat ist unfähig, das Glücksstreben der Menschen zu erkennen und zu realisieren.
  • Die Lust ist das oberste Lebensprinzip und nicht der Verzicht.
  • Diese unsere Welt läßt sich in ein Paradies umwandeln.
  • Die Erotik und die Gourmandise sind die Angelpunkte für ein glückliches Leben.
  • Im Kampf für eine glückliche Welt ist das Mittel der ‚natürlichen‘ Gewalt indispensabel (tausend Arten, Spaghetti zuzubereiten gegen die Monokultur des Fastfood. Gemächlicher Lebensrhythmus gegen die Beschleunigungsideologie. Die leibliche Gegenwart organisierter Menschen kann die Megamaschine zerstören).
  • Die Wiederkehr des Sonnengottes (Yuppieutopie) ist die Wiederkehr des faschistischen Führers.
  • Technik und Wissenschaft müssen wieder ein Lebensmittel werden.
  • Wissenschaftliche Systemzwänge und politische Systemformen sind historisch obsolet geworden.
  • Die Zukunft des Menschen ist die Gemeinschaft, nicht die Gesellschaft.
  • Der weltgeschichtliche Übergang von einer Entfremdungstotalität zu einer Lebensganzheit ist möglich.
  • Das Glück ist die Gegenwart des Ewigen. Im Dies, Hier und Jetzt allein liegt der ganze Lebenssinn.
  • Ein Leben in Armut ist ein nach dem Reichtum der Natur gelebtes Leben.

Wir sind nur ein Teil einer weltweiten Bewegung. Wir glauben nicht, daß sich die Wirklichkeit nur aus einem Prinzip heraus erklären läßt, Generationen von Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern haben die Wirklichkeit verschieden interpretiert. Es kommt darauf an, sie zu verändern. Der ‚pivot general‘ ist das Glück. Im Himmel wie auf Erdern herrschen dieselben Gesetze, Attraktion und Repulsion.

Der Zwang ist eine Pervertierung der Natur.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
1990
, Seite 62
Autor/inn/en:

Peter Jirak: 1939 geb. in Marburg/Drau‚ Studium der Malerei bei Gütersloh (Wien) und Hegedusic (Zagreb), Studium der Philosophie an der Wiener Universität, dissertierte über „Den Staatsbegriff bei Hegel und Marx“, war ein Rädelsführer der Neuen Linken (SOS, Sozialistischer Österreichischer Studentenbund, später FNL, Föderation Neuer Linker) an der Wiener Universität, 1968. Später Lektor bei Luchterhand, wo auch die Gesammelten Werke von Georg Lukács erschienen. Gastrosoph und Vorsitzender der Slow-Food-Bewegung, lebt in Wien und Norditalien.

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