Grundrisse » Jahrgang 2009 » Nummer 30
Grundrisse

Kurze Geschichte der Republik Türkei

1908: Nach zwei Jahren Dürre und entsprechender Lebensmittelknappheit kanalisieren Offiziere und Absolventen der Militärakademie die im gesamten Staatsgebiet aufflackernden Revolten (Streiks, Hunger- und Soldatenrevolten), erzwingen die Einsetzung einer Verfassung und übernehmen als liberal-demokratische jungtürkische Bewegung die Macht im Osmanischen Reich. Im Parlament sind 147 Türken, 60 Araber, 27 Albaner, 26 Griechen, 14 Armenier, vier Juden und zehn Slawen vertreten. Es gibt Kontakte zur sozialistischen Bewegung. Die „linke“ und nationalistische CHP (Republikanische Volkspartei) gilt als die Nachfolgerin dieser Bewegung.

1909 wird allerdings das gerade erst beschlossene Streikrecht wieder zurückgenommen und das erste Streikverbot verhängt, nicht zuletzt als Reaktion auf eine breite Streikwelle im Jahr 1909 mit den Zentren İstanbul, İzmir/Smyrna und Thessaloniki/Selanik.

1912-1913: In den Balkankriegen verliert das Osmanische Reich die restlichen Gebiete am Balkan, das sind Makedonien und Westthrakien (1878 bestätigen die europäischen Großmächte mit dem Vertrag von Berlin die Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens, Montenegros, Bulgariens und – gegen die Interessen des zaristischen Russlands – die militärische Besetzung Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn). Eine Abwanderung bzw. Vertreibung der dort ansässigen muslimischen Bevölkerungsteile folgt.

Die militärischen Niederlagen mit Gebietsverlusten führen schließlich dazu, dass sich der türkisch-nationalistisch autoritäre Flügel der Jungtürken durchsetzt und die 1912 verlorene Regierungsmacht 1913 mit einem Militärputsch wieder übernimmt.

Muslimische türkisch-sprachige Bevölkerungsteile werden zu den bevorzugten Staatsbürger_innen im Osmanischen Reich, der Einfluss pan-türkischer Vorstellungen nimmt zu (unter Einbeziehung Aserbeidschans, Usbekistans, Turkmenistans, Kirgistans und der Krimtataren).

1914-1918: Im Ersten Weltkrieg steht das Osmanische Reich auf Seiten der Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien).

1915-1916: Unter dem Vorwurf, den russischen Kriegsgegner zu unterstützen, werden hunderttausende Armenier_innen in die Wüste deportiert – mit Unterstützung des deutschen Imperialismus, der von einem deutschen Protektorat an der kilikischen Küste träumt (Kilikien liegt im Südosten der heutigen Türkei am Mittelmeer und stellte das südwestlichste Siedlungsgebiet der Armenier_innen dar). Es sterben nach unterschiedlichen Angaben zwischen 800.000 und 1,5 Millionen Armenier_innen.

November 1918: Am Ende des Ersten Weltkriegs legen 55 britische, französische und italienische Kriegsschiffe im Bosporus an, im März 1920 besetzen sie Istanbul.

10. August 1920: Vertrag von Sèvres: Das osmanische Territorium wird aufgeteilt, die arabische Halbinsel bis Mosul geht an die imperialistischen Siegermächte Großbritannien und Frankreich, die südlichen Ägäisinseln an Italien, Westthrakien an Griechenland. Im Gebiet der heutigen Türkei sieht der Vertrag Armenien und ein autonomes Gebiet Kurdistan mit Aussicht auf Unabhängigkeit vor, weiters ein italienisches und ein französisches Protektorat. Ostthrakien und die Umgebung von Smyrna/Izmir sollten griechisch werden. Die Meerengen Bosporus und Dardanellen bleiben internationale Zonen. Der Vertrag wird durch den bevollmächtigten Großwesir des Sultans Mehmed VI. unterzeichnet, eine Ratifizierung des Vertrags durch das Osmanische Parlament erfolgt nie.

1919-1923: Parallelregierung zum besetzten Istanbul in Anatolien.

19. Mai 1919: Mustafa Kemal (Atatürk) trifft in Samsun an der Schwarzmeerküste ein. Dies gilt als Beginn des in der türkischen Geschichtsschreibung so genannten „Befreiungskrieges“ (der 19. Mai ist heute Nationalfeiertag). Die europäische Historiographie spricht meist nur vom „Griechisch-türkischen Krieg“. Diese Bezeichnung unterschlägt jedoch die Rolle der Besatzungsmächte Frankreich, Italien und Großbritannien.

1921: Nach einer Einigung mit dem damals bereits sowjetischen Armenien (Freundschaftsvertrag 23. Oktober 1921 mit den angrenzenden Sowjetrepubliken) und Siegen im Süden gegen die imperialistischen Mächte Frankreich, Italien und Großbritannien werden die bis Anatolien vordringenden griechischen Armeen geschlagen. Große Teile der griechischen Bevölkerung, so die damals starke KP, unterstützen den Angriffskrieg zur Verwirklichung der megali idea („großgriechische Idee“) in Anatolien im Übrigen nicht.

9. September 1922: Die türkische Armee unter Mustafa Kemal erobert die hauptsächlich von Griech_innen bewohnte und seit 1919 von griechischen Truppen besetzte Stadt Smyrna/Izmir (ebenfalls ein Staatsfeiertag in der Türkei).

Kurd_innen – die damals dezidiert so angesprochen wurden – und sozialistische Strömungen, aber auch andere Teile der Bevölkerung mit ihren unterschiedlichsten Interessen wurden in den türkischen Staat einbezogen, um den militärischen Erfolg zu garantieren.

24. Juli 1923: Der Vertrag von Lausanne ersetzt den Vertrag von Sèvres. Grenzen, wie sie weitgehend noch heute bestehen, werden festgelegt. Die im Vertrag von Sèvres zugestandenen Autonomierechte für Kurd_innen fallen weg, die britische und französische Aufteilung der arabischen Halbinsel wird bestätigt. Zwei Drittel der Auslandsschulden des Osmanischen Staates werden der Türkei übertragen, der Beginn der Ratenzahlungen mit 1929 angesetzt. Die Kapitulationen werden aufgehoben, die osmanischen Zolltarife allerdings für fünf Jahre eingefroren. (Als Kapitulationen werden die Abkommen des Osmanischen Reichs mit europäischen Staaten vom 16. Jahrhundert an bis zu dessen Ende bezeichnet. Es handelt sich um ungleiche Handelsverträge, die den europäischen Großmächten Sonderrechte einräumen, im Besonderen Handels- und Zollvorteile für europäische Kaufleute.)

Der „Bevölkerungsaustausch“ wird eingeleitet, die jeweilige nationale Zugehörigkeit wird auf religiöse Kriterien reduziert: muslimisch heißt türkisch, orthodox heißt griechisch. Sprachliche Kriterien oder gar individuelle Wünsche werden ignoriert. Ausgenommen vom Austausch sind die muslimischen Bewohner_innen Westthrakiens (jetzt zu Griechenland gehörig) und die orthodoxen Einwohner_innen Istanbuls.

29. Oktober 1923: Ausrufung der türkischen Republik. Das Rechtssystem wird aus westlichen Ländern übernommen (Schweizer Zivilrecht, deutsches Handelsrecht, italienisches Strafrecht). 1926 ersetzt die lateinische Schrift die arabische. Der Staat wird als säkular definiert, 1924 das Kalifat abgeschafft. Es gibt eine formale Gleichstellung von Männern und Frauen, aktives und passives Wahlrecht erhalten Frauen allerdings erst 1930 für Gemeinderatswahlen, 1935 für allgemeine Wahlen.

1920, 1925, 1930 und 1937/1938 werden kurdische Aufstände niedergeschlagen, besonders brutal der Dersim-Aufstand von 1938.

1925: Der Scheich Said-Aufstand ist der Aufhänger für das Gesetz zur Sicherung der öffentlichen Ruhe [takrir‑i sükûn kanunu], das jegliche Opposition, darunter die KPT (Kommunistische Partei) – mit anschließender Verhaftungswelle –, und regierungskritische Publikationen verbietet. Eine Politik der Türkisierung wird forciert:

1926 wird „Verunglimpfung des Türkentums“ unter Strafe gestellt. Nur Türk_innen dürfen Beamte werden, eine lange Liste von Berufen ist Muslim_innen vorbehalten.

1934: Das Gesetz für Familiennamen gestattet nur türkisch-sprachige Nachnamen. Das Ansiedlungsgesetz ermöglicht die Umsiedlung von Minderheiten durch das Innenministerium. (Angewandt wird es bei der Absiedlung der Jüd_innen aus Thrakien im Zweiten Weltkrieg, und gegen Kurd_innen). Über die kurdischen Regionen wird der Ausnahmezustand verhängt.

1938: Nach dem Tod Mustafa Kemals und dem Amtsantritt von İsmet İnönü ist eine weitere Stärkung der rechten und nationalistischen Kräfte innerhalb der CHP auszumachen, was sich in Kampagnen wie „Staatsbürger, sprich türkisch“, oder „Kauf bei türkischen Händlern“ äußert.

Der ab 1942 amtierende Ministerpräsident Şükrü Saraçoğlu tritt in der Nationalversammlung offen als „Türkist“ auf. Innerhalb der Kriegswirtschaft verfolgt er eine Politik des freien Marktes und setzt die Preisbindungen für Lebensmittel außer Kraft, was unweigerlich den Schwarzmarkt begünstigt. Der daraufhin einsetzende massive Anstieg der Preise wird als Vorwand für die Einführung einer nach ethnischer bzw. religiöser Zugehörigkeit bemessenen Vermögensteuer benutzt, da unterstellt wird, dass der Großteil der Händler_innen nichtmuslimischen Minderheiten angehöre. Während das vorgebliche Ziel der Besteuerung, die Konsolidierung des Staatshaushaltes, nicht erreicht wird, bewirkt sie eine Türkisierung des Kapitals. Nach Interventionen der europäischen Konsulate trifft die Steuer nur Angehörige der ansässigen nichtmuslimischen Minderheiten, nicht jedoch Staatsbürger_innen europäischer Staaten. Für deutsche Betriebe gelten Sonderregelungen.

1941/1942: Struma – ein bulgarisches Schiff mit jüdischen Passagier_innen an Bord – ankert in Istanbul. Es handelt sich um jüdische Flüchtlinge aus Rumänien auf dem Weg nach Palästina, denen von der britischen Regierung die Einreise nach Palästina (unter britischer Verwaltung) aufgrund fehlender Visa verweigert wird. Das Schiff befindet sich in einem fahruntüchtigen Zustand. Bis auf Ausnahmeregelungen für einige wenige Passagier_innen, wird von der türkischen Regierung niemand an Land gelassen. Im Februar 1942 lassen die türkischen Behörden das Schiff aufs offene Meer (Schwarzes Meer) schleppen. Zu diesem Zeitpunkt sind 769 Passagier_innen an Bord. Trotz mehrwöchiger Reparaturarbeiten sprang der Motor nicht an. Ein Torpedo eines sowjetischen U-Bootes, das gegen den Schiffsverkehr der Achsenmächte im Schwarzen Meer eingesetzt war, versenkte es am 24. Februar 1942. Fast alle Passagier_innen starben.

Angehörige nichtmuslimischer Minderheiten werden zu zeitlich unbegrenztem Militärdienst ohne Waffe in Anatolien eingezogen und vorwiegend zu schwerer Arbeit im Ausbau der Infrastruktur eingesetzt.

Februar 1945: Erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieg beendet die Türkei ihre Neutralität und erklärt formal den Krieg an Deutschland und Japan. Die Türkei tritt den Vereinten Nationen bei.

1946 wird nach über 20 Jahren eine zweite Partei zugelassen, die DP (Demokratische Partei). Die ersten demokratischen Wahlen im Juli 1946 gewinnt aber die CHP.

Auch sozialistische Parteien werden gegründet: die TSEKP – Türkiye Sosyalist Emekçi Köylü Partisi – [Sozialistische Arbeiter und Bauernpartei der Türkei] und die TSP [Sozialistische Partei der Türkei]. Beide werden am 16.12.1946 auf Beschluss der Militärkommandantur wieder aufgelöst. Ebenso ergeht es den zur selben Zeit unerwartet zahlreich gegründeten Gewerkschaften.

1947: Erst das stark einschränkende Gewerkschaftsgesetz von 1947 ermöglicht dann legale Tätigkeiten, allerdings bei Streikverbot und dem Verbot politischer Betätigung.

Mai 1950: Wahlen beenden die Herrschaft der CHP durch einen Erdrutschsieg der DP unter Adnan Menderes.

1950 nimmt die Türkei auf Seiten der USA am Koreakrieg teil.

1952 tritt die Türkei der NATO bei. Bis zum Koreakrieg herrschte ein gutes Verhältnis zur Sowjetunion. Die junge SU unter Lenin unterstützte den Befreiungskrieg und 1925 wurde ein „Nichtangriffs- und Neutralitätspakt“ vereinbart, der 1929 und 1935 erneuert wurde.

1950 bis 1960: Die Türkei unter Ministerpräsident Menderes erlebt einen wirtschaftlichen Aufschwung, gefördert durch starke ausländische Hilfe und eine wirtschaftsliberale Politik. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wird die Kehrseite der wirtschaftlichen Entwicklung immer sichtbarer, u.a. durch die Zunahme der städtischen Armenviertel (Gecekondular). Auf Proteste reagiert die Regierung mit Preisfestsetzungen und verstärkter staatlicher Kontrolle der Ein- und Ausfuhr. Die gesamte Regierungsperiode hindurch verweigert die DP das im Wahlkampf versprochene Streikrecht.

1954: Gründung der Vatan partısı (Vaterlandspartei). Dieser Versuch einer parlamentarischen linken Opposition scheitert abermals und endet mit der Auflösung der Partei und der Verhaftung aller Mitglieder_innen 1957.

September 1955: Es kommt zu einem Pogrom (das sich später als staatlich inszeniert erweist) gegen die griechische und armenische Bevölkerung von Istanbul, das dazu führt, dass etwa 100.000 Griech_innen auswandern. Die Reaktion des Staates gipfelt in Beschuldigungen und Verhaftungen linker Intellektueller.

27. Mai 1960: Nachdem Menderes versucht hatte, die Militärs zurückzudrängen, übernehmen diese in einem unblutigen Putsch die Macht. Regierungs- und Parteifunktionäre werden hingerichtet, 1961 auch Adnan Menderes. Hunderte werden zu Gefängnisstrafen verurteilt.

1961 wird Ismet Inönü erneut Ministerpräsident einer vom Militär eingesetzten zivilen Regierung. Es wird eine Verfassung ausgearbeitet, die als die demokratischste in der Geschichte der Türkei gilt und bis 1980 gültig bleibt. Sie garantiert Gewerkschaftsfreiheiten und Streikrecht.

1963 begünstigt die Ausweitung des Gewerkschaftsgesetzes (Kollektivverhandlungen, Streikrecht) die Entstehung bzw. Entwicklung einer breiten Gewerkschaftsbewegung.

1963 tritt ein Assoziierungsvertrag mit der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, der späteren EU) in Kraft, der noch von Menderes ausverhandelt wurde.

1964: Als Druckmittel in einer der Zypernkrisen erfolgt die Zwangsausweisung der griechischen Bewohner_innen von Istanbul, darunter sind auch einzelne mit türkischem Pass. Leerstehende Gebäude und Wohnungen werden de facto enteignet.

1965 übernimmt Süleyman Demirel von der Gerechtigkeitspartei (AP, der früheren DP) die Regierung als Premierminister. Erstmals schafft auch die sowjetisch orientierte TIP (Arbeiterpartei der Türkei) den Sprung ins Parlament. Gegründet wurde sie erst im Februar 1962. Ihr gelingt es, die legale und illegale Linke für einige Jahre zu vereinigen. Am rechten Rand konkurrieren die islamistische MSP (Nationale Heilspartei) und die nationalistische MHP (Partei der Nationalen Bewegung) – der parlamentarische Arm der paramilitärischen „Grauen Wölfe“, die besonders in den 1970ern Linke und Gewerkschaftler_innen in der Türkei, aber auch in Europa, angreifen und ermorden.

1967: Gründung der DİSK (Konföderation Revolutionärer Gewerkschaften), die innerhalb kurzer Zeit große Stärke und Militanz entwickelt.

1968-1971: Spaltung der „traditionellen“ Linken (scharfe Auseinandersetzungen in der TİP), aber auch Entstehung und Ausbreitung der Arbeiter_innen- und Jugendbewegung: legale und wilde Streiks, Universitäts- und Fabrikbesetzungen, heftige Zusammenstöße mit der Polizei, Landbesetzungen durch arme Bäuer_innen.

1969: Gründung von Dev-Genç (Revolutionäre Jugend).

16. Februar 1969: „blutiger Sonntag“ – die Proteste der Linken gegen das Anlegen der 6. Flotte der NATO bzw. der USA in Istanbul werden von Rechten und Islamist_innen angegriffen: 2 Tote. Schon 1967 hatte ein Hungerstreik stattgefunden und im Juli 1968 verhinderten Proteste das Anlegen derselben Flotte.

12. März 1971: Das Militär drängt Demirel zum Rücktritt und für zwei Jahre übernimmt wieder eine Militärjunta die Macht.

26. März 1972: 10 Aktivist_innen entführen zwei britische und einen kanadischen Techniker einer NATO-Radarstation in Ünye am Schwarzen Meer. Damit beabsichtigen sie, die zum Tode verurteilten Genoss_innen freizupressen. Vier Tage später, am 30. März 1972, ermordet eine Spezialeinheit für besondere Kriegsführung im Dorf Kızıldere (Provinz Tokat) Geiseln und Entführer_innen.

1972: Verbot der TİP, Verhaftungen und Repressionen.

Oktober 1973: Nach Wahlen übernimmt Bülent Ecevit der inzwischen sozialdemokratischen CHP die Macht. Ecevit (1973-1975, 1977, 1978-1979) und Demirel (1975-1977, noch einmal 1977, 1979-1980) wechseln sich in der Regierung ab.

Juli 1974: Nach einem Putsch griechisch-zyprischer Nationalist_innen interveniert die türkische Armee auf Zypern und erobert den Norden der Insel. Die nur von der Türkei anerkannte türkische Republik wird ausgerufen.

Die zweite Hälfte der 1970er Jahre ist geprägt durch ungelöste wirtschaftliche und soziale Probleme, Streiks und Terrorakte rechtsextremer Gruppen. Straßenkämpfe nehmen bürgerkriegsähnliche Züge an. Linksradikale Gruppen erreichen eine Stärke wie nie zuvor (und danach), sind jedoch zerstritten und bekämpfen sich auch untereinander mit militanten Mitteln.

1. Mai 1977: Eine Gewerkschaftskundgebung der DISK mit einer Viertel Million Teilnehmer_innen auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul wird von Unbekannten von umliegenden Dächern beschossen. Es sterben mindestens 34 Menschen, Hunderte werden verletzt und 453 festgenommen.

Dezember 1978: Nach Auseinandersetzungen bei Demonstrationen in Kahramanmaraş verüben Rechtsradikale ein Massaker an Alevit_innen, bei dem 31 Menschen getötet und 150 verletzt werden. Die Regierung benutzt dies, um den Ausnahmezustand über 13 Provinzen im Südosten der Türkei zu verhängen.

Oktober 1979: Der Schneider Fikri Sönmez (gegen den mehrere Attentate verübt werden) wird zum Bürgermeister von Fatsa (einer Kleinstadt an der Schwarzmeerküste) gewählt. Es entsteht ein Selbstverwaltungsmodell unter großer Beteiligung der Bevölkerung. Ist Fatsa ein hoffnungsvolles Experiment für die Linke, so wird es von der Rechten und dem Staat als Bedrohung gesehen. In der so genannten Punktoperation werden im Juli 1980 von Armee und Polizei mit der Unterstützung von maskierten Faschisten hunderte Einwohner_innen verhaftet. Schon einige Tage vorher verteidigte sich die Bevölkerung von Çorum in Straßenkämpfen gegen faschistische Angriffe. Diese Operation kann als Generalprobe für den folgenden Militärputsch gelten. Fikri Sönmez stirbt im Gefängnis an den Folgen der Folter.

12. September 1980: Angeblich um die Gewalt zwischen Links- und Rechtsextremist_innen zu beenden, wird ein Militärputsch unter General Kenan Evren durchgeführt. Er richtet sich aber fast nur gegen die Linke, und auch gegen die Gewerkschaft DİSK. Es kommt zu 650.000 politischen Festnahmen, 7.000 beantragten, 571 verhängten und 50 vollstreckten Todesstrafen und dem nachgewiesenen Tod durch Folter in 171 Fällen.

November 1983: Unter Kontrolle der Militärs werden die alten Parteien unter neuem Namen wieder gegründet. Turgut Özal von der Konservativen ANAP (Mutterlandspartei, die frühere AP) gewinnt die Wahlen. Er regiert bis 1989 als Ministerpräsident, danach bis zu seinem Tod im April 1993 als Staatspräsident. Özal führt marktwirtschaftliche Reformen in Richtung Liberalisierung und Privatisierung durch und in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine vorsichtige Demokratisierung: schrittweise Aufhebung des Kriegsrechts, Liberalisierung der Mediengesetze. 1987 wird der Antrag auf Aufnahme in die EU gestellt. Die Konservativen bleiben unter Yıldırım Akbulut (1989-1991), Mesut Yılmaz (1991-1993) und Tansu Çiller (von der DYP, Partei des rechten Weges, 1993-1995) in verschiedenen Koalitionen an der Macht. Die islamistische Partei Refah-partisi (Wohlfahrtspartei) setzt im Unterschied zu ihren Vorgängerinnen auf Massenbeteiligung. (Ihre Vorgängerinnen waren die 1972 gegründete Milli Selamet Partisi, MSP – Nationale Erlösungspartei und von 1969 bis 1971 die Milli Nizam Partisi, MNP – Nationale Ordnungspartei, beide unter der Leitung von Necmettin Erbakan.)

August 1984: Die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) beginnt nach einer in die 1970er Jahre zurückgehenden Aufbauphase den Guerillakampf im Osten der Türkei, indem die Kleinstädte Eruh und Şemdinli besetzt werden. Bis 1999 sterben im Krieg zwischen dem türkischen Militär und PKK-Kämpfer_innen 30.000 Menschen.

Jänner/Februar 1991: Nach Ende des Zweiten Golfkrieges des Westens gegen den Irak zur Befreiung Kuwaits fliehen aufständische irakische Kurd_innen in den Südosten der Türkei. Die Alliierten errichten Flugverbotszonen über dem Norden des Irak und ermöglichen dadurch eine seit damals bestehende kurdische Selbstverwaltung.

Jänner 1991: Die Kohlearbeiter_innen in Zonguldak an der Schwarzmeerküste streiken mit Unterstützung der Bevölkerung für bessere Arbeitsbedingungen. Ein Marsch auf Ankara bringt das Regime Özal kurzfristig ins Wanken.

1991/1992: Massendemonstrationen der kurdischen Bevölkerung im Südosten der Türkei. Mehr als hundert Menschen werden bei Demonstrationen erschossen. Auch in vielen Migrationszentren der westlichen Türkei wird demonstriert. Danach erhält die PKK massiven Zulauf.

2. Juli 1993: Ein alevitisches Kulturfestival in Sivas wird durch eine islamisch-fundamentalistische Demonstration angegriffen. 35 Menschen, darunter einige prominente Künstler_innen, verbrennen im angezündeten Hotel.

April 1994: Nachdem zu Beginn des Jahres die türkische Lira abgestürzt ist, wird eine längere Rezessionsphase eingeleitet.

März 1995: Nach Schüssen auf Alevit_innen im Stadtteil Gazi von Istanbul kommt es zu mehrtägigen Unruhen mit 15 Toten. Das alevitische Selbstbewusstsein wird gestärkt.

Dezember 1995: Erstmals wird die islamistische RP (Wohlfahrtspartei) stärkste Partei, kann jedoch keine Regierung bilden. Wechselnde Koalitionen zwischen DYP, ANAP und der rechtsradikalen MHP stellen die Regierungen.

1995: Die Unterzeichnung des Abkommens zur Zollunion mit der EU führt zur Erleichterung des Warenverkehrs – vornehmlich für Importe in die Türkei, aber weiterhin Kontingentierung für die Einfuhr von Agrarprodukten aus der Türkei in die EU.

1996: Die ÖDP (Özgürlük ve Dayanışma Partisi, Partei der Freiheit und Solidarität) wird als Zusammenschluss mehrerer linker Gruppierungen gegründet, erreicht bei Wahlen aber nie mehr als 1 Prozent. Erst 2007 gelingt Mehmet Ufuk Uras als Direktkandidat der Einzug ins Parlament.

3. November 1996: Ein Autounfall in Susurluk, bei dem der stellvertretende Polizeichef Istanbuls, ein führendes Mitglied der rechtsextremen Grauen Wölfe und dessen Freundin, eine ehemalige Schönheitskönigin, ums Leben kommen, sowie ein Abgeordneter der Regierungspartei DYP und Führer der Dorfschützer schwer verletzt wird, macht die als „Tiefer Staat“ bezeichneten Verwicklungen zwischen staatlichen und rechtsextremen Strukturen sowie Killerkommandos und organisiertem Verbrechen (Drogenhandel) sichtbar.

30. Juni 1997: Necmettin Erbakan muss auf Druck des Militärs als Ministerpräsident zurücktreten. Die Refah partisi wird verboten und es erfolgt ein 5-jähriges Politikverbot wegen Volksverhetzung. Als Konsequenz entsteht die Spaltung in die traditionalistische Fazilet partisi (Tugendpartei) und die 2001 gegründete „modernistische“ Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt AKP unter Recep Tayyip Erdoğan.

Februar 1999: In Kenia wird der Führer der PKK Abdullah Öcalan festgenommen und in die Türkei überstellt. Schon vorher wurde Druck ausgeübt, sodass er sein Exil in Syrien verlassen musste. 2002 wird das Todesurteil verhängt, aber auf Grund des internationalen Druckes nicht vollstreckt.

Juli 2001: Küçük Armutlu, ein Viertel am Rande von Istanbul mit Blick auf den Bosporus, wird vom Militär belagert. Als Begründung dafür werden todesfastende politische Gefangenen im Viertel genannt. Es erfolgen immer wieder Angriffe auf so genannte „Widerstandshäuser“ (z.B. am 5.11.2001). Bereits 1989 siedelten sich Menschen aus Tokat und Sivas hier an. Kücük Armutlu wuchs innerhalb von 2 bis 3 Jahren auf 8000 Menschen an, die unter Arbeitslosigkeit, mangelnder Wasserversorgung und Kanalisation, fehlender Abfallbeseitigung und Krankheiten leiden. Es gibt jedoch auch einen hohen politischen Organisationsgrad. Für die aus Stein gebauten kleinen Hütten fehlen Besitztitel, die Bewohner_innen leben unter der ständigen Drohung, geräumt zu werden. Ab Anfang Juli 1992 droht die Stadt mit Räumung, es soll ein Militärstützpunkt entstehen. Selbstorganisierung und Selbstschutz der Bewohner_innen und Solidaritätskampagnen können das Viertel trotz der Angriffe 2001 erhalten. 2003 werden in einem seit 1992 laufenden Gerichtsverfahren der İstanbuler Technischen Uni und der Stadtgemeinde Istanbul die Grundrechte zugesprochen. 2006 gibt es neuerliche Proteste gegen den geplanten Abriss im Zuge des Stadterneuerungskonzeptes Istanbul. Im November 2007 werden 21 Häuser abgerissen, teilweise gegen Ausgleichszahlungen. Inzwischen ist das Viertel aufgewertet und wurde offiziell in Fatih Sultan Mehmet umbenannt.

2001: Die Wirtschaftskrise verursacht einen Rückgang des Bruttosozialprodukts um fast 10 Prozent. Der Staat kann nur durch Kredite des IWF zahlungsfähig gehalten werden. Anfang 2002 wird manchmal von einem weiteren Argentinien gesprochen.

November 2002: Bei den Wahlen wird die islamistische AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, vorher RP, dazwischen Tugendpartei) unter Recep Tayyip Erdoğan stärkste Partei, kann aber erst nach einer Verfassungsänderung im März 2003 die Regierung übernehmen. Der Aufstieg der Islamist_innen begann in den 1990ern, regieren können sie jedoch erst nach der Entwicklung in Richtung einer gemäßigt religiösen Partei (vergleichbar mit Christdemokrat_innen). Die Annäherung an die EU, das Zurückdrängen des Einflusses des Militärs und auch eine vorsichtige Öffnungen gegenüber den Kurd_innen wird in der letzten Zeit wieder in Frage gestellt.

März 2003: Die Türkei verweigert den USA im Dritten Irakkrieg die Nutzung von Militärbasen. Zivil gekleidete türkische Soldaten werden von der US-Armee festgenommen und misshandelt, was die Beziehungen zu den USA stört.

26. August 2005: Proteste gegen den Irakkrieg, Sternmarsch linker und zivilgesellschaftlicher Organisationen und Gewerkschaften nach İncirlik, einem der 104 US-Stützpunkte in der Türkei.

9. November 2005: Nach einem Anschlag auf einen kurdischen Buchladen in Şemdinli werden die Attentäter von der Bevölkerung festgehalten und der Polizei übergeben. Dabei stellt sich heraus, dass zwei von ihnen der Gendarmerie angehören. (Erneut wird der „tiefe Staat“ sichtbar.)

19. Jänner 2007: Der armenische Publizist Hrant Dink wird von Rechtsradikalen ermordet. Daraufhin kommt es zu großen Demonstrationen, bei denen viele die Parole „Wir sind alle Armenier_innen“ unterstützen.

1. Mai 2008: Nach dem Versprechen der AKP, am 1.Mai den Taksim-Platz freizugeben, erfolgt eine breit angelegte Mobilisierung nach Istanbul. Die Demonstrationen werden aber durch massiven Tränengaseinsatz verhindert.

1. Mai 2009: Der Taksim-Platz wurde – erstmals nach 32 Jahren – durch die ArbeiterInnenbewegung zurückerobert.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
2009
, Seite 15
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