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Günther Anders

Kulturwert und Wahrheit widersprechen einander

Mit der nachstehenden Überlegung gibt uns G. A. einen Schlüssel zum Verständnis, worauf der sogenannte religiöse Fundamentalismus beruht: Dieser betrachtet Religionen nicht als Kulturwerte, sondern die eigene als Wahrheit, alle anderen als verderbliche Unwahrheiten, denen er eben deshalb nicht mit Toleranz, sondern mit entschiedener Feindseligkeit zu begegnen hat. Dies gilt nicht nur für den Islamismus/Salafismus, sondern ebenso für die Fundis der übrigen abrahamitischen Religionen und überhaupt für allen „Glauben“ an einen eifersüchtigen Gott, ob er sich nun völkisch versteht wie JWH, katholisch/allgemeingültig wie die römische und protestantische Trinität oder ob er in die diktatorische Perspektive eines säkularen Endzieles der Geschichte verrutscht ist. Die Glaubensgewissheit einer unfehlbar wirtschaftsleitenden „invisible hand“ hat in ihrem Wirkungsbereich nur selten ein polizeiliches oder militärisches Eingreifen nötig – schiere Unbarmherzigkeit gegen die kollateralen Opfer dieser Dogmatik düfte deren Zahl noch weit über diejenige aller Glaubenskriege hinausgehoben haben. –G.O.

Daß „Wahrheit ein Kulturwert“ sei – an dieser Behauptung wird wohl niemand Anstoß nehmen. Bei Rickert, dessen vor einem halben Jahrhundert geschriebene Wertphilosophie: „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“, obwohl hier in Amerika so gut wie unbekannt, doch indirekt (namentlich durch Münsterbergs [1] Bücher) [2] die Kulturphilosophie Amerikas geworden ist, und der den Ausdruck und die Theorie der „cultural values“ „geschaffen“ hat, kann man den Satz: „Wahrheit ist ein Kulturwert“ schwarz auf weiß lesen.

Niemand nimmt daran Anstoß. Das ist der Skandal.

Denn etwas als „Kulturwert“ ansprechen, heißt: es tolerieren, gleichgültig, ob man es für wahr hält – nein, es respektieren, nein, sich daran bereichern, obwohl man es vielleicht für falsch hält. Denn der Begriff „Kulturwert“ ist das schale Kind einer sehr guten Mutter: Es ist das Kind der Toleranz.

Der Episkopalier respektiert den Talmud, dessen Wahrheit er bestreitet: Der Talmud wird zum Kulturwert. Der Baptist repektiert die Messe der Katholiken; ihre Wahrheit bestreitet er: die Messe wird zum Kulturwert. Der Katholik respektiert die Entwicklungslehre; aber ihre Wahrheit bestreitet er: die Entwicklungslehre wird zum Kulturwert. Kulturwert ist eine Position, die man sozial anerkennt, obwohl man sie als Position verwirft. Und da jeder Glaube des A der Kulturwert der B bis Z ist, lebt jedermann: A bis Z, in einer Welt von Kulturwerten, nämlich in einer Welt, die aus den Positionen der Anderen besteht, die er zugleich verwirft und respektiert: also in einer wahrheitsneutralen Welt. Das besagt ein Doppeltes: Erstens: Wahrheitsanspruch und Kultur schließen einander aus. Ich sage Wahrheitsanspruch. Denn dass die Vielheit der Positionen die Chance der Wahrheitsfindung ist, ist selbstverständlich zugestanden. – Die Neutralisierung besagt aber gleichzeitig noch etwas anderes: Sie wirkt als Boomerang:

Ist jedermann umgeben von Positionen, die er nicht akzeptiert, aber respektiert, sieht jedermann sich schließlich selbst mit den Augen der Anderen: also geschieht es, dass jeder (der eine rascher, der andere langsamer) auch seine eigene Position so ansieht, wie die Anderen sie ansehen, wie sie „soziale Realität“ ist: also als neutrales Phänomen, als Kulturwert, den er zwar respektiert, dessen Wahrheit er aber nicht mehr für fundamental nimmt. Man könnte in der heutigen Welt, und nicht nur „gewissermaßen“, von Selbst-Toleration sprechen. – Oder es geschieht, daß man die „Wahrheit“ der „eigenen Position“ aus unwahrhaftigem Motiv verteidigt, nämlich nur deshalb, weil man, wenn man den Anspruch auf seine Wahrheit nicht geltend machte, sich freiwillig der Ehre seines eigenen Rechts begäbe … wenn der Ausdruck „eigene Position“ überhaupt haltbar ist, denn in der über-wiegenden Mehrzahl der Fälle sind ja z. B. religiöse „Positionen“ nicht gewählt; man gehört ihnen zu wie der Sprache, sie gehören einem nicht. Im Unterschiede zu den, nur als Ausnahmefälle interessanten, Konversionsfällen „hat“ man deshalb die Religion A nicht, weil sie einen von Geburt an „hat“; nicht weil man dies oder jenes glaubte, gehört man ihr an, sondern man „glaubt“ ihre Dogmen, weil man ihr zugehört.

(Aus den Manuskripten zu: Kulturphilosophie Bd.I, 1947)

[1Hugo Münsterberg, Danzig 1863-1916, Cambridge, Massachusetts. –G.O.

[2Besonders The Eternal Values (1909, i.e. Philosophie der Werte. Barth, Leipzig 1908), Psychology and Industrial Efficiency (1913), Psychology and Social Sanity (1914). –G.O.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juli
2014
Autor/inn/en:

Günther Anders:

Günther Anders wurde am 12. Juli 1902 in Breslau geboren. Nach dem Studium der Philosophie 1924 Promotion bei Husserl. Danach gleichzeitig philosophische, journalistische und belletristische Arbeit in Paris und Berlin. 1933 Emigration nach Paris, 1936 nach Amerika. Dort viele „odd jobs“, unter anderem Fabrikarbeit, aus deren Analyse sich später sein Hauptwerk ‚Die Antiquiertheit des Menschen‘ ergab. Ab 1945 Versuch, auf die atomare Situation angemessen zu reagieren. Mitinitiator der internationalen Anti-Atombewegung. 1958 Besuch von Hiroshima. 1959 Briefwechsel mit dem Hiroshima—Piloten Claude Eatherly. Stark engagiert in der Bekämpfung des Vietnamkrieges. — Auszeichnungen: 1936 Novellenpreis der Emigration, Amsterdam; 1962 Premio Omegna (der ,Resistanza Italiana‘); 1967 Kritikerpreis; 1978 Literaturpreis der ‚Bayerischen Akademie der Schönen Künste‘; 1979 Österreichischer Saatspreis für Kulturpublizistik; 1980 Preis für Kulturpublizistik der Stadt Wien; 1983 Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt; 1992 Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Günther Anders starb am 17.12.1992 in Wien.

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