Grundrisse » Jahrgang 2011 » Nummer 40
Karl Reitter
Werner Bonefeld, Michael Heinrich (Hg.):

Kapital & Kritik

Nach der „neuen“ Marx-Lektüre

Hamburg: VSA Verlag, 2011, 358 Seiten, Euro 29,80

Vorweg das Positive: Fast jeder Beitrag in diesem von Bonefeld und Heinrich herausgegebenen Sammelband ist wirklich lesenswert. Und nun das Ärgerliche: Der Untertitel Nach der „neuen“ Marx-Lektüre suggeriert, die Beiträge würden sich mit einer sogenannten neuen Marxlektüre auseinandersetzen. Von einer derartigen Lektüre ist in den Beiträgen nicht die Rede. Der gemeinsame Bezugspunkt ist das Marxsche Werk selbst und sonst nichts.

Anne Strecker formuliert in Von Chemielaboren, Zoomobjekten und Affenanatomie feine Überlegungen bezüglich der Mühe, sich die Marxschen Texte anzueignen. Urs Lindner greift in Philosophie, Wissenschaft und Weltveränderung erneut die Frage des Bruchs beziehungsweise der Kontinuität im Marx’schen Werk auf und kommt zur Schlussfolgerung, dass die Momente der Kontinuität überwiegen. Marx habe mitnichten den Schritt von der Philosophie zur Wissenschaft vollzogen und dadurch das Konzept der Entfremdung fallen gelassen, sondern wir fänden zwei Weisen der Philosophiekritik bei Marx. Marx habe die inhaltlichen Motive seiner Frühschriften keineswegs aufgegeben: „Dass diese ethische Position (die Marx vor allem in den Pariser Manuskripten entwickelte, K. R.) allerdings keineswegs notwendig an ihren diskursiven Entstehungskontext gekoppelt ist, das zeigt sich deutlich an der weiteren Entwicklung des Marx’schen Werkes.“ (S. 47) Ein ähnliches Thema diskutiert Joseph Fracchia in seinem Beitrag Verwertung der Sachenwelt – Entwertung der Menschenwelt. Er konstatiert richtig, dass Marx den „Ort der Entfremdung“ (S. 75) nicht am Menschen, sondern am Arbeitsbegriff festmacht. Somit ergebe sich eine, in den Augen des Autors wohl schwache aber trotzdem klar erkennbare, Kontinuität des Entfremdungsbegriffs von den Frühschriften bis in das Kapital. Kolja Lindner kommt in Eurozentrismus bei Marx zum Schluss, dass Marx seinen ursprünglichen Eurozentrismus nach und nach überwunden hätte. Der Beitrag von Marcello Musto Marx und die Kritik der politischen Ökonomie hat einen starken philologisch-biographischen Fokus und beschreibt sowohl die reale Lebenssituation von Marx in den 50er Jahren im Londoner Exil, als auch dessen Revolutionshoffnungen. Joachim Bischof und Christopf Lieber diskutieren in Konkurrenz und Gesellschaftskritik den Begriff der Konkurrenz und seine Rolle im Marx’schen Denken. Helmut Reichelt handelt in Zur Konstitution ökonomischer Gegenständlichkeit erneut über sein zentrales Thema der Geltung der Werteigenschaft der Ware. Wenn ein Beitrag in die Kategorie der neuen Marx-Lektüre fällt, so wie sie von den Herausgebern offenbar verstanden wird, dann dieser. Im Kontext der neuen Marx-Lektüre zu schreiben, reklamiert auch Michael Heinrich für sich. In seinem Beitrag Entstehungs- und Auflösungsgeschichte des Marxschen Kapital vermeint der Autor, mehrfache Versuche Marxens das Kapital zu verfassen erkennen zu können. Versuche, die allesamt nicht zu Ende geführt worden wären. Diese Auffassung lässt sich nur vor dem Hintergrund der These Heinrichs verstehen, Marx hätte die kapitalistische Produktionsweise in ihrem idealen Durchschnitt analysiert. [1] Sofort erhebt sich die Frage: Durchschnitt wovon? Von dem vergangenen, gegenwärtigen und jedem zukünftig möglichen Kapitalismus? Wenn ich jeden möglichen zukünftigen Kapitalismus in den Durchschnitt einbeziehe, so behaupte ich zugleich, die Zukunft könne uns nichts Substanzielles über den Kapitalismus lehren, zumindest nicht so viel, dass ich eine Analyse des idealen Durchschnitt nicht tatsächlich zu Ende führen könnte! Wenn ich den Begriff des Kapitals eben nicht radikal von der Geschichte des Klassenverhältnisses abkopple, dann ist so etwas wie ein endgültiger Abschluss der Analyse eine methodisch höchst problematische Konzeption.

Oliver Schlaudt diskutiert Marx als Messtheoretiker, wobei der Titel bereits über den Inhalt informiert. Nicht vorenthalten möchte ich sein Resümee, dass „Marx ein wichtiges messtheoretisches Problem stellt und löst“. (S 278) Ich betone dies auch deshalb, weil es – man verzeihe mir etwas Süffisanz – so wunderbar mit der Behauptung im Vorwort harmoniert, Marx hätte uns ein „Fragment“ (S. 8) hinterlassen. Von Fragmenten bei Marx ist auch im Beitrag von Riccardo Bellofiore Ein Geist verwandelt sich in einen Vampir: Kapital und lebendige Arbeit wenig zu merken. Im Gegenteil, Bellofiore greift eine ganze Reihe von umstrittenen Themen, wie die Kategorie der abstrakten Arbeit, den Ausgleich der Profitrate sowie das Geldproblem, unter dem Gesichtspunkt eines Nichtwarengeldes auf und führt alle diese Problematiken immer wieder auf den Gegensatz von Kapital und lebendiger Arbeit, genauer, auf die Unterwerfung der lebendigen Arbeit im Kapitalverhältnis zurück. Seinen Beitrag und den Text von Urs Lindner halte ich persönlich für die interessantesten im vorliegenden Sammelband. Die Beiträge von Werner Bonefeld Praxis und Kritik: Bemerkungen zu Adorno sowie jenen von Christopher J. Arthur Arbeit, Zeit und Negativität kann ich insofern gemeinsam skizzieren, als beide einen stark hegelmarxistischen Einschlag besitzen. Unter Hegelmarxismus verstehe ich die Methode, Marx’sche Aussagen als Anwendung von bei Hegel entwickelten dialektischen Begriffsfiguren zu interpretieren. Wobei der argumentative Kern – ob ausgesprochen oder nicht – des Hegelmarxismus darin besteht, Marx hätte ohne Rekurs auf diese dialektischen Figuren, die Hegel insbesondere in seiner großen Logik entfaltet, seine inhaltlichen Aussagen und Positionen nicht oder nicht in dieser Form entwickeln können. Ich teile diese Auffassung nicht. Wie dem auch sei, der Hegelmarxismus kann unmöglich als Ergebnis einer neuen Marx-Lektüre, wie sie von Heinrich, Hoff und Elbe für sich reklamiert wird, behauptetet werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen: In keinem der Beträge (Reichelt und Heinrich können als Protagonisten ausgenommen werden) wird auf diese fiktive Marx-Lektüre Bezug genommen, in irgendeiner Form Bilanz gezogen oder deren vorgebliche Ergebnisse und Erkenntnisse gewürdigt. Das ist keineswegs verwunderlich. So etwas wie eine neue Marx-Lektüre, die zudem bereits insofern Ideengeschichte sein soll, als wir von einem „nach“ sprechen können, existiert als einheitliche und bedeutende Strömung nicht. Die neue Marx-Lektüre ist ein Label, welches letztlich nur Heinrich und seine Schüler begehrlich für sich reklamieren. Der Untertitel ist Kalkül, er soll dieser hoch spezifischen, auf einen schmalen Kreis von PublizistInnen beschränkten Marxrezeption Reputation und Dimension verleihen, die sie keineswegs besitzt. (Johann-Friedrich Anders hat in seinem, in den grundrissen Nr. 37 publizierten Artikel Wie Marx nicht gelesen werden sollte – Zur Kritik der neuen Marx-Lektüre sowohl die Dürftigkeit der Ergebnisse als auch indirekt die dünne personelle Decke dieser Strömung aufgezeigt.) Nicht uninteressant dürfte in diesem Zusammenhang die Information sein, dass zwischen Backhaus und Reichelt auf der einen und Heinrich auf der anderen Seite zudem bedeutende Differenzen bestehen. [2] Warum Bonefeld, der doch eher einer Strömung zugerechnet werden kann, die als Open Marxism bezeichnet vom Klassenkampf ausgeht, sich an diesem Unternehmen beteiligte, ist eine Frage, die nur er beantworten kann. Aber möglicherweise ist mir das eigentliche Verständnis der neuen Marx-Lektüre deshalb entgangen, weil ich zu wenig auf die Anführungsstriche geachtet habe, mit dem die Herausgeber den Ausdruck „neuen“ im Buchtitel versehen haben. Irgendeinen Grund dafür muss es ja geben.

[1De facto unterstellt Heinrich dem Marx, er hätte gewissermaßen ein platonisches εἶδος (Musterbild) des Kapitalismus zu analysieren versucht, wäre dabei aber nicht all zu weit gekommen. Wenn wir aber erkennen, dass die Analyse des Kapitalverhältnisses nicht von Klassenkampf und Dynamik zu trennen ist, dann ist die Analyse erst abschließbar, wenn das Kapitalverhältnis weltweit Geschichte ist. Und selbst dann ist es fraglich, ob das Nachdenken über den Kapitalismus jemals zu einem endgültigen Abschluss gebracht werden kann. Dass die Entwicklung des Kapitalismus bereits Marx zu dessen Lebzeiten zu immer neuen Studien veranlasst hat, kann keinesfalls als Scheitern einer fiktiven synchronen Analyse interpretiert werden. Und wenn Heinrich eine Stelle gefunden hat, in der Marx vom idealen Durchschnitt spricht, so wäre es korrekt gewesen die gesamte Passage zu zitieren. Marx spricht nämlich davon, die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise „so zu sagen in ihrem idealen Durchschnitt darzustellen“. (MEGA II 4.2 853, Hervorhebung K. R.) Und ebenso wäre es korrekt gewesen, hinzuzusetzen, dass es sich dabei um die einzige Passage im bisher veröffentlichenden Werk von Marx handelt, in der diese Wendung vorkommt.

[2Backhaus, Hans-Georg; Reichelt, Helmut, (1995) „Wie ist der Wertbegriff in der Ökonomie zu konzipieren? Zu Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert.“, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Neue Folge 1995. Hamburg, Seite 60 - 94

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
2011
, Seite 84
Autor/inn/en:

Karl Reitter:

Marxistischer Autor in Wien und Mitglied der grundrisse, Redaktionsmitglied von Context XXI von Dezember 2000 bis November 2001.

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