MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 51
Christian Feichtinger
Traditionsmusik aus dem südlichsten Süden der USA:

Juwelen aus den Sümpfen

Wenn Sie zufällig am früheren Morgen ein Bier in einer Kneipe lüpfen, treibende Musik fröhlich lärmt und redselige Tresennachbarn stolz erklären, daß sie erst amerikanisch lernen mußten, um in die Schule gehen zu dürfen — dann sind sie garantiert mitten in der Prärie von Louisiana (USA) gelandet. Die Leute hier schwören auf ihre eigenartigen Traditionen und besonders auf ihre Musik: Cajun.

Rockin’ Dopsie — Kings of Zydeco
Bild: Trikont Schallplatte

Noch schützen Sümpfe die französischsprechende Bevölkerung im Süden des Südens der USA, hauptsächlich um die Stadt Louisiana verteilt, vor allzugroßen industriellen Übergriffen — wie lange noch? Während unsere eigene Volksmusik im kapitalträchtigen Hinterhof von Musikantenstadeln durch Lodenkasperln zu einer undefinierbaren, touristenattraktiven Melange verkommt, bewahren andernorts — noch dazu im Vielvölkerschmelztiegel USA — ethnische Minderheiten ihre musikalische Selbständigkeit.

Der lange Marsch in die Selbständigkeit

1604. Bretonische Auswanderer lassen sich in Acadien, dem heutigen Nordosten Kanadas, nieder und werden in der Folge von Engländern und Franzosen in deren Kolonialkrieg um die Neue Welt involviert. Der Friede von Utrecht 1713 weist die Provinz Acadien den Engländern zu, die katholischen Akadier verweigern den Treueeid und werden von den puritanischen Engländern aus Nova Scotia, so der neue Name, vertrieben. Nach einer Odyssee von 10 Jahren erreichten etwa 8.000 Flüchtlinge das Schwemmgebiet am Golf von Mexiko, wo ihnen von spanischen Glaubensangehörigen Land zur Besiedlung angeboten wurde. Die Cajuns (‚Cajun‘ stammt von einer phonetischen Verschlampung des Wortes ‚Acadien‘) integrierten sich nicht nur schnellstens in diesem Nationalitätengemisch am Mississippidelta, sondern gelangten zu einer kulturellen Vorrangstellung, indem unzählige Elemente der dort ansässigen anderen Ethnien gänzlich in die eigenen kulturellen Wesenszüge aufgenommen wurden. Diese multinationale Gruppierung blieb bis heute in relativer Abgeschiedenheit, lediglich spärliche Kontakte — eben Musik — existierten mit dem ‚anderen‘ Amerika.

Typisch auch die Küche der Marschbewohner am Golf von Mexiko und im Sumpfland südwestlich von New Orleans: französische Kochkunst integriert in das dortige Angebot — Krabben, Austern, Fische mit spanischen, indianischen und deutschen Zutaten.

Ihre Sprache ist eine ebenfalls antiquierte Mixtur, Französisch durchsetzt von englischen, spanischen, indianischen, deutschen, irischen und italienischen Ausdrücken. Es ist in erster Linie wichtig, ein Cajun zu sein, dann erst ein Amerikaner.

Laissez les bon temps rouler!

... lautet die Devise der Arbeiter aus den Unterschichten, die für die „dirty fingernail music“ verantwortlich zeichnen. One-Steps und Two-Steps, nach Feierabend mit schmutzigen Händen auf Akkordeon, Fiedel, Gitarre, Schlagzeug und Triangel gespielt. Oftmals sind die Bands mit Familien oder Sippen deckungsgleich, für alle symptomatisch bleiben die unprofessionellen, ungehobelten Melodien, die als regionale Volksmusik (wie muß unsere einst geklungen haben!) aus Radios, Fernsehen und Jukeboxes strömen. Laut und schrill, fernab von einer Verwässerung zur Staatsfolklore, gehen die roots der „Frenchmusic“, wie sie auch genannt wird, bis in die vorigen Jahrhunderte zurück.

Altfranzösische Tanzmelodien, von Geige und Klarinette begleitet, machten diese Ur-Cajuns zur Musik ihrer Hausbälle, wo die Fiedler mit ihrer Zweisaitentechnik erstmals den cajuntypischen Touch erzielten. Die Musikanten hatten (tja, Zeiten ohne Verstärker) als Waffe gegen den Lärm der Tänzer und Anwesenden bald einen harten Bogenduktus und eine schrille Stimmlage entwickelt; Jigs, Reels, Polkas, Hoedowns, Mazurkas und Walzer wurden ins Repertoire verarbeitet. Für letzteres sorgten die unterschiedlichen dort ansässigen Volksgruppen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebte der frühe Cajun-Sound wieder eine Weiterentwicklung durch das Aufkommen des Akkordeons in Louisiana, als jüdische Emigranten aus Deutschland die Quetsche via Texas mitbrachten. Zu dessen Beliebtheit führte nicht unbedingt die laut-schnaufende Quäkerei des Faltbalginstruments (was nachträglichst den Cajunsound veränderte), sondern vielmehr die preiswerte Möglichkeit, dieses Ding durch Versandhäuser zu beziehen. Beim Kriegseintritt der USA kam es zu Engpässen, wurde doch das Akkordeon Marke Hohner vor allem aus Trossingen, Deutschland, importiert der Sumpf ging dennoch nicht über und die Musik nicht unter.

Arbeitsscheue, beschränkte Hinterwäldler?

Die neuen Massenmedien Schallplatte und Radio sowie Ölfunde im Bayou entziehen in den Nachkriegsjahren die Cajuns (nunmehr als Schimpfwort im modernen Amerika zirkulierend) ihrer selbstgewählten Isolation. The sweet way of modern life legt Giftköder aus. Western und Hillbilly eignen sich die „Frenchmusic“ an, hauptsächlich mit den als typische Klischees verkannten Instrumenten wie Steelgitarre und Schlagzeug angereichert. Auch die Bogenführung der Fiedler wird einer großen Veränderung unterworfen: mittels elektrischer Amplifier wird ein leichterer Bogenstrich möglich, der früher zu ‚bekämpfende‘ Lärm bei Liveauftritten kann nun von Verstärkern beliebig übertönt werden.

Doch stößt diese clever kaschierte Ver-Amerikanisierung und Folklorisierung auf scharfe Gegenreaktionen, da Ende der 40er Jahre z.B. „Le Jeune“ an einer „Rückwärtsemanzipation“ zu arbeiten beginnt. Regionale Tradition contra nationale Moderne heißt die Devise. Aus einstweiliger Einzelinitiative entwickelt sich ein geballter gemeinsamer Schlag gegen Vereinheitlichung und Verflachung. Diese Trendumkehr zu abgesicherten Traditionen verarbeitet allerdings auch jetzt wieder neuere, fremde Einflüsse, gibt aber das Typische und Eindeutige nicht auf. Als frischer Auftrieb für die Sumpfmusik wurde in den 60ern elektrischer Gitarrensound ohne Probleme in Cajun integriert; weltweite Folkmusikrevivalgedanken entfachten neues Interesse an diesen streams.

Noch heute steht Cajun als sehr eigenwillige Position gegen die Einvernahmung durch beliebige, am Massengeschmack orientierte Auflagen. Cajun verkörpert keine heile Welten, gerade weil am historischen Entstehungsort mittlerweile Ölfirmen und Eindeichungsprotagonisten vorherrschend sind. Umweltprobleme stellen in den Marschen nun das ökologische Gleichgewicht und mit ihm die reale Existenzbasis der Cajuns in Frage — gemessen an weltweit bereits eingetretenen Tatsachen steht’s auch hier sicher nicht zum besten.

Dennis McGee und Sady Courville

Vergoldete Imitatoren

Nehmen wir z.B. das famos schlichte „You ain’t nothing but fine“ von Rockin’ Sidney: ja, hat nicht „Walk of life“ der Dire Straits das gleiche, pardon, dasselbe Intro? Und verdammt nochmal: Ry Cooder zeichnet als Komponist mit eigenem Namen, obwohl sein „Rip joint rhumba“ aus dem neuen Kinoschinken Johnny Handsome mehr als verblüffende Parallelen aufweist! Die uralte Geschichte von Original und Plagiat, von den abgespeisten Urhebern und den im Geld schwimmenden Ohrenlangfingern läßt sich am besten und zynischsten durch eine Sequenz aus dem von Monty Python Eric Idle geschriebenen und gedrehten Film „The Rutles“ zitieren, eine ironisch-böse Verschaukelung des Mega-Ereignisses „The Beatles“.

Michael Doucet, Beausoleil, Filé oder Akkordeonbauer Marc Savoy verwehren sich vehement gegen Modemisierer wie etwa Zachary Richard, der nur an einer Erhaltung von Traditionen glaubt, wenn diese radikal nach vorne transformiert werden. Experimente seien schon okay, meinen die Konservierer, aber nur solange es genügend Spielerpotential gibt, das die herkömmlichen Stilistika kennt und einsetzt. Die Sorgen sind insofern begründet, da ich glaube, daß es jetzt sogar hier in Wien möglich wäre, mit Cajun einen neuen Mode-Trend durchzuziehen und Kohle zu machen. Etwas Promotion in Akustik- und Printmedien, ein kleines Lokal gemietet, und schon krähen alle Hähne und Hühner nach Cajun.

Finale: Black and Blues

Creolische Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen Louisianas definierten sich ebenfalls als ‚french‘ und nahmen Grundmuster des Cajuns auf. Allerdings rhythmisch von afrokaribischen Mustern gefärbt, die dem Zydeco, wie der schwarze Bruder in weißer Unterschichtmusik heißt, eine größere Dichte und Vielfalt gaben. Besonders auffällig bleiben die starken Bluestönungen, da die Creolen-Piano-Akkordeons die für den Blues urtypische Halbtontasten verwenden, im Gegensatz zu den Knopfakkordeons mit Diatonik der Cajuns. Anstelle der Triangle finden wir bei den Creolen das Waschbrett, das mit Fingerhüten oder Besteck gerieben wird. Der King des Zydeco, Clifton Chenier, machte durch seine animalisch treibenden Rhythm&Blues- bzw. Soulzusätze den Zydeco schwärzer als schwarz. Berichte über tranceähnliche Zustände des Publikums, ausgelöst durch ekstatische Livepräsenz der Musiker, sind Legende. Schließlich importierte man von Haiti auch den Voodoo, der in noch so modernen Tagen für geheimnisvolle Begebenheiten sorgt und auch weiße Musiker wie Dr. John beinah krankhaft in seinen Bann schlug. Aber das wäre eine ganz andere (Musik-)Geschichte. Ob nun ein weißer Cajun oder schwarzer Zydeco, auch Zodico oder einfach Lala genannt, hier eine kleine Liste von Anthologien, also: „Laissez les bon temps rouler!“

  • Les flemmes d’enfer / Swamp-Music Vol. 1
  • Jewels of Cajun music / Swamp-Music Vol. 2
  • King of Zydeco / Swamp-Music Vol. 3
  • Zachary Richard / Mardi Gras Mambo

alle bei Extraplatte im Vertrieb.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
April
1990
, Seite 60
Autor/inn/en:

Christian Feichtinger:

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