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Robert Kurz

Jenseits des Klassenkampfs

Traditionsmarxisten bekommen immer feuchte Augen, wenn sie die Begriffe der „Klasse“ und des „Klassenkampfs“ in den Mund nehmen. Ihre Identität als Kapitalismuskritiker steht und fällt mit diesen Termini. Aber in den Verhältnissen eines vereinheitlichten kapitalistischen Weltsystems zu Beginn des 21. Jahrhunderts, unter den Bedingungen von 3. industrieller Revolution, betriebswirtschaftlicher Globalisierung und sozialer Individualisierung, wirkt das klassentheoretische Paradigma des „Proletariats“ merkwürdig verstaubt. Je trotziger die marxistischen Veteranen die Aussage zelebrieren, dass wir „immer noch in einer Klassengesellschaft leben“, desto weniger bringen sie die Verhältnisse zum Tanzen, obwohl oder gerade weil sich die kapitalistischen Widersprüche zuspitzen wie nie zuvor und eine sozialökonomische Weltkrise neuen Typs den Planeten erschüttert. Die Rede von der „Wiederkehr der Klassen“ bleibt hilflos und oberflächlich soziologisch ohne ökonomiekritische Grundlage. Deshalb nützt sie den neuen Massenbewegungen gegen kapitalistische Globalisierung, Krieg und sozialen Verfall nichts.

Der Begriffsapparat radikaler Kritik muss entstaubt werden. Die Marxsche „revolutionäre Klasse“ war eindeutig das Fabrikproletariat des 19. Jahrhunderts. Durch das Kapital selbst vereinigt und organisiert, sollte sie dessen Totengräber werden. Die lohnabhängigen sozialen Gruppen der abgeleiteten Bereiche von staatlichen und kommerziellen Dienstleistungen, Infrastrukturen usw. konnten dem „Proletariat“ lediglich als eine Art Hilfstruppen zugeschlagen werden, und auch das nur, solange dieses noch als sozialer Massenkern in den kapitalproduktiven Fabriken dominierte. Bei einer Umkehrung des Zahlenverhältnisses, wie es sich schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts angedeutet hatte (und vom alten Marxismus, etwa in der Bernstein-Debatte, nur oberflächlich reflektiert wurde), konnte das traditionelle Klassen- und Revolutionsschema nicht bestehen.

Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und in anderen sekundären Sektoren, die allmählich die Mehrheit in der kapitalistischen Reproduktion stellten, sind nicht nur soziologisch, sondern auch ökonomisch etwas anderes als das alte „Proletariat“. Ihre Reproduktionskosten sind ebenso wie die Kosten ihres ganzen Tätigkeitsbereichs abgeleitet aus der industriellen Mehrwertproduktion. In demselben Maße jedoch, wie sich das Verhältnis von der Größenordnung her umkehrt, kann die „Finanzierung“ dieser Sektoren nicht mehr aus der reellen Mehrwertproduktion kommen, sondern muss durch Vorgriff auf zukünftigen Mehrwert, in erster Linie durch Staatsverschuldung und staatliche Geldschöpfung, aber auch durch Privatverschuldung und „Finanzblasenwirtschaft“ simuliert werden. Schon Hilferdings Theorie des „Finanzkapitalismus“ ist in diesem Kontext zu sehen, ohne dass der Autor sich dessen bewusst gewesen wäre. Tatsächlich bedeutet das nichts anderes, als dass das Kapital selber durch die strukturelle Notwendigkeit und das numerische Übergewicht der öffentlichen Dienste und anderer sekundärer Sektoren einen Grad der Vergesellschaftung hervorbringt, den es selber nicht mehr tragen kann.

In der 3. industriellen Revolution spitzt sich dieser Widerspruch zu. Das Kapital zerstört seine eigene Grundlage in einer Zangenbewegung: Einerseits dehnen sich die Bereiche weiter aus, die in der Reproduktion des Gesamtkapitals als „tote Kosten“ erscheinen. Andererseits lässt die mikroelektronische Revolution den kapitalproduktiven Kern der industriellen Produktion schrumpfen wie nie zuvor. Die Marginalisierung des Fabrikproletariats ist identisch mit der fundamentalen kapitalistischen Krise neuen Typs. Die sekundären öffentlichen Sektoren können zwar formal durch Privatisierung in kommerzielles Kapital verwandelt werden, aber weil sich dadurch ihr ökonomisch abgleiteter Charakter nicht ändert, werden sie gleichzeitig abgebaut und geradezu niedergerissen. Indem es in seinen Formen den erreichten Vernetzungsgrad nicht aufrecht erhalten kann, entgesellschaftet das Kapital die Gesellschaft. Das Resultat ist eine Krisensoziologie von Massenarbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, von Scheinselbständigen und Elendsunternehmern, von alleinerziehenden Müttern und flexibilisierten Jobhoppern usw., bis hin zum Absturz der Dritten Welt in die primitive Subsistenzwirtschaft und Plünderungsökonomie.

In dieser Krise enthüllt sich auch das Wesen der Konkurrenz, die schon im Begriff des Kapitals selbst liegt. Nicht nur Arbeit gegen Kapital konkurriert, sondern auch Arbeit gegen Arbeit, Kapital gegen Kapital, Branche gegen Branche, Nation gegen Nation, und jetzt eben auch Standort gegen Standort, Wirtschaftsblock gegen Wirtschaftsblock, Mann gegen Frau, Individuum gegen Individuum, sogar Kind gegen Kind. Der „Klassenkampf“ hat sich in dieses System der universellen Konkurrenz als integraler Bestandteil aufgelöst und an sich als dessen bloßer Spezialfall enthüllt, der das Kapital überhaupt nicht transzendieren kann. Er war vielmehr auf einer niedrigen Entwicklungsstufe geradezu seine immanente Bewegungsform, als es noch darum ging, die Fabrikproletarier als bürgerliche Subjekte in diesem Gefüge anzuerkennen. Damit man konkurrieren kann, muss man in denselben gemeinsamen Formen agieren. Kapital und Arbeit sind eigentlich nur verschiedene Aggregatzustände ein und derselben gesellschaftlichen Substanz. Arbeit ist lebendiges Kapital und Kapital ist tote Arbeit. Die neue Krise besteht aber gerade darin, dass durch die kapitalistische Entwicklung selbst die Substanz der „abstrakten Arbeit“ an der kapitalproduktiven Basis abgeschmolzen wird.

Damit verliert der Begriff des „Klassenkampfs“ seine metaphysische, scheinbar transzendierende Leuchtkraft. Die neuen Bewegungen können sich nicht mehr „objektivistisch“ und formal durch eine Ontologie der „abstrakten Arbeit“ und durch ihre „Stellung im Produktionsprozess“ selbst definieren. Sie können sich nur noch inhaltlich definieren durch das, was sie wollen. Nämlich was sie verhindern wollen: die Zerstörung der sozialen Reproduktion durch die falsche Objektivität der kapitalistischen Formzwänge. Und was sie als Zukunft gewinnen wollen: den vernünftigen gemeinschaftlichen Einsatz der erreichten Produktivkräfte gemäß ihren Bedürfnissen statt gemäß den verrückten Kriterien der Kapitallogik. Ihre Gemeinsamkeit kann nur noch die Gemeinsamkeit der emanzipatorischen Zielsetzung sein, nicht die Gemeinsamkeit einer vom Kapitalverhältnis selbst definierten Versachlichung. Was die Praxis bereits blind tastend vollzieht, muss die Theorie noch auf den Begriff bringen. Erst dann können die neuen Bewegungen auch auf neue Weise jenseits des alten Klassenkampfmythos radikal kapitalismuskritisch werden.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Juni
2003
, Seite 5
Autor/inn/en:

Robert Kurz:

Geboren 1943 in Nürnberg, gestorben 2012 ebenda. Studierte Philosophie, Geschichte und Pädagogik. Mitbegründer der Zeitschriften „Krisis“ und „EXIT!“, freier Autor und Journalist. Mitbegründer der „wertkritischen“ Kapitalismuskritik.

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