MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 58
Walter Keller
In Indiens Teppichindustrie arbeiten Tausende von Kindern:

Jeder Schritt ein Tritt

50 Millionen Kinder arbeiten in Indien. Die meisten in der Landwirtschaft oder in den Haushalten der wachsenden indischen Mittelschicht. Mehrere Millionen schuften unter härtesten Bedingungen in der Industrie.

Bild: Ben Buxton/Brot für die Welt

„Mit jedem Schritt auf einem schönen Teppich tritt der europäische Käufer eigentlich das Kind, das ihn geknüpft hat.“ So beschreibt Kailash Satyarthi, Mitarbeiter der in Delhi ansässigen Organisation „Bandhua Mukti Morcha“ (BMM) symbolisch die Zustände in Indiens Teppichindustrie. Sie hat sich während der vergangenen zehn Jahre mit jährlichen Exporterlösen von umgerechnet etwa einer halben Milliarde DM (3,5 Mrd. öS) zu einem wichtigen Devisenbringer für die asiatische Wirtschaftsmacht gemausert. Die gewaltigen Zuwachsraten, die dieser Industriezweig verzeichnet, sind auf die politische Lage im Iran seit Mitte der 70er Jahre und ein Verbot von Kinderarbeit in diesem Land zurückzuführen.

Europäische Händler sowie lokale Hersteller und Exporteure taten alles, um dieses Angebotsvakuum zu füllen. Und dabei konnten sie sich der Unterstützung der indischen Regierung sicher sein. Sie trat mit dem Slogan, „die Spitzenstellung unter den Teppichproduzenten zu erringen“, auf den Plan und erklärte die Steigerung der Exporte zur nationalen Aufgabe, was angesichts einer Auslandsverschuldung von etwa 100 Mrd. DM (700 Mrd. öS) verständlich erscheint.

Produktionsbedingungen in der indischen Teppichindustrie sind unter Profitgesichtspunkten denkbar günstig: Niedrigstlöhne, weitverbreitete Kinderarbeit und Schuldknechtschaft sind an der Tagesordnung. Nur wenige Menschen in Indien oder Europa machen sich Gedanken über diejenigen, die mit ihrer Arbeit zum Devisensegen beitragen und den Reichen die schönen Wohnzimmer bescheren.

90% aller handgeknüpften Teppiche Indiens, die auf annähernd 100.000 Webstühlen produziert werden, stammen aus etwa 1.500 Dörfern im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh. In den Distrikten Mirzapur, Varanasi, Allahabad und Jaunpur werden sie in Heimarbeit geknüpft — meist von Kindern, die trotz zunehmender Arbeitslosigkeit unter Erwachsenen immer wieder Möglichkeiten finden, unter ausbeuterischen Bedingungen einen Job zu erhalten. Ihre Arbeit kostet eben noch weniger.

Leibeigenschaft

Nirgendwo sonst in Indien gibt es so viel Kinderarbeit wie in dieser ‚Teppichregion‘. Die Industrie beschäftigt 150.000 Kinder im Alter zwischen 5 und 15 Jahren, die mit ihren kleinen Fingern meist Teppiche mit persischen Mustern knüpfen. Dabei geht es den Kindern, die aus einer traditionellen Knüpferfamilie stammen und im elterlichen Haus arbeiten, noch relativ gut. Sie erlernen das Handwerk schon früh von ihren Vätern. Tausende von Kindern werden jedoch durch ‚Zwischenhändler‘ angeworben, die im Auftrag von Webstuhlbesitzern arbeiten.

Die angeworbenen Kinder stehen häufig in einem Beschäftigungsverhältnis, das an moderne Sklaverei erinnert: Leibeigenschaft. Für ihre Eltern ist das Geld, das skrupellose Geschäftemacher in Form kleiner ‚Vorschüsse‘ von umgerechnet 20 bis 100 DM auf die Arbeit ihrer Kinder zahlen, überlebenswichtig. Daß die Kinder nie die Gelegenheit haben werden, die Schulden abzuarbeiten, wissen sie nicht. Kinder werden nicht selten sogar aus verarmten Dörfern entführt und dann zur Arbeit gezwungen. „Einmal in den Klauen ihres Arbeitgebers, der die Löhne nach Gutdünken festsetzt, leben sie in totaler Isolation, unterernährt, ohne medizinische Versorgung und ohne Schulbildung“, kritisiert Rama Kanth Rai, Mitarbeiter einer auf den Prinzipien Gandhis arbeitenden Organisation in Varanasi, die Zustände in der Industrie.

Der siebenjährige Shankar zählt zu 13 Kindern, die vor kurzem in Nadani, einem Dorf im Mirzapur-Distrikt Uttar Pradeshs, aus der Leibeigenschaft eines Webstuhlbesitzers befreit wurden. „20 Stunden lang mußten wir täglich in einem kleinen dunklen Raum schuften. Wir bekamen kaum zu essen und wurden ständig geschlagen. Ich habe versucht, Selbstmord zu begehen, um dieses grausame Leben zu beenden.“ Kailash Satyarthi und seine Organisation, die „Bandhua Mukti Morcha“, die sich dem Kampf für das Ende von Kinderarbeit und Schuldknechtschaft verschrieben hat, arbeiten seit 1980 unermüdlich gegen alle Formen dieser modernen Sklaverei, die bis heute in Indien überlebt hat. Obwohl die Organisation schon über 3.000 Kinder aus den Klauen dieser Ausbeutung befreit hat, sind die Aussichten auf ein Ende von Kinderarbeit und Sklaverei in Indien allgemein weiterhin schlecht. Die Verfilzung von Arbeitgebern, Subunternehmen oder Anwerbern mit Polizei und Verwaltung und deren scheinbare Allmacht sowie die Apathie des Staates gegenüber dem Problem und die unbeschreibliche Armut von Millionen von Indern geben kaum Grund zur Hoffnung.

Kinderarbeit und Leibeigenschaft auch anderswo

Die Teppichindustrie stellt jedoch nur die Spitze der ständig zunehmenden Beschäftigung von Kindern dar. Angaben des in Neu Delhi ansässigen „Centre of Concern for Child Labour“ zufolge sind es in Indien fast 50 Millionen Kinder, die arbeiten. Die meisten davon in der Landwirtschaft oder in den Haushalten der wachsenden indischen Mittelschicht. In der Industrie ist ihre Lage ganz besonders schlimm. „Sie sind schutzlos und ohne Stimme“, meint Kailash. Allein in der Handweber-Industrie in Kanchipuram, einem Ort im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu, arbeiten 20.000 Kinder im Alter zwischen 7 und 14 Jahren für ein paar Pfennige. Die für die Unternehmer finanziell einträgliche Bidi-Industrie, die vor allem im Bundesstaat Karnataka angesiedelt ist und die „Zigarette des kleinen Mannes“ aus einer Mischung von schlechten Tabaken und dem Blatt eines Baumes produziert, beschäftigt Zehntausende von Kindern. 50.000 sind es in der Streichholzherstellung in Sivakasi in Tamil Nadu. 50.000 Kinder schuften unter extremen Bedingungen in der Glasindustrie von Ferozabad, 65.000 in den Diamantschleifereien von Surat und Jaipur. 300.000 Kinder malochen für ihre Herren in Minen, Steinbrüchen oder auf Baustellen.

Schon in jungen Jahren leiden dabei die in der Bidi-Industrie tätigen Kinder unter chronischer Bronchitis und Tuberkulose, in der Glasindustrie herrschen Asthma und Augenleiden vor. Die Streichholzherstellung ist ganz besonders gefährlich: Todesfälle durch Explosionen in Hinterhof-Produktionsstätten sind keine Seltenheit. In der Teppichindustrie hat eine Stichprobenuntersuchung ergeben, daß 50 Prozent der Kinder an Blutarmut leiden und Würmer haben. Viele haben Wirbelsäulenschäden oder Augenleiden. Die Wollpartikel verursachen darüber hinaus Hautausschlag und Erkrankungen der Atemwege.

Recht für Kinder?

All dies passiert, obwohl auch in Indien „die Rechte des Kindes“ in der Verfassung klar definiert sind. Artikel 39 weist den Staat an, die Kindheit zu schützen und die notwendigen Maßnahmen für eine gesunde Entwicklung der Kinder zu treffen. Artikel 45 sieht Schulpflicht bis zum 14. Lebensjahr vor. 1986 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das Kinderarbeit in besonders gesundheitsgefährdenden Industrien ganz verbietet. Und dazu zählt unter anderem die Teppichindustrie. Aber dies nehmen Hersteller und Händler nicht hin. „Wir verhandeln mit der Regierung, damit die Teppichindustrie vom Index genommen wird“, meint J. K. Kanna von der „All India Carpet Manufacturers Association“, für den die Arbeit in der Industrie nicht gesundheitsgefährdend ist.

Die „Bandua Mukti Morcha“ sieht dies natürlich ganz anders. „Unsere Verantwortlichen tun nicht genug für die Kinder“, kritisiert Swami Agnivesh, Präsident der Organisation. „Auch die neue Regierung hat bisher kein großes Interesse daran gezeigt, die Bestimmungen des Gesetzes umzusetzen“, erklärt er. Agnivesh, derzeit einer der bekanntesten Sozialreformer und Kritiker in Indien, glaubt, Kinderarbeit in Indien könne nur dann überkommen werden, wenn es beispielsweise der Regierung gelinge, soziale Wohlfahrtsmaßnahmen einzuführen und das Schulsystem zu verbessern. Aber das sei natürlich leichter gesagt als getan. „Es besteht jedoch kein Zweifel daran, daß das Motiv für die Beschäftigung von Kindern nichts mit Mildtätigkeit zu tun hat“, macht er deutlich und weist damit Argumente zurück, die oft sowohl in Indien als auch Europa für deren Beschäftigung herhalten müssen. Es sei eben „nicht zu ihrem Besten. Sie sind die billigsten Arbeitskräfte und diejenigen, die am leichtesten unterdrückt und unter Kontrolle gehalten werden können“.

Agnivesh will nun mit seiner Organisation in die Offensive gehen. Wegen der Tatenlosigkeit der Verantwortlichen plant die Organisation eine Kampagne, die von westlichen Hilfsorganisationen unterstützt werden soll. Ziel ist es, die Beschäftigung von Kindern in der Teppichindustrie zu bekämpfen. Agnivesh fordert Importeure und Händler in den Industrieländern auf, ihre Ware so zu kennzeichnen, daß für den Käufer erkennbar ist, ob ein Teppich von Kindern hergestellt worden ist oder nicht. „Wir müssen natürlich sicherstellen, daß die Angaben — die ja aus Indien kommen müssen — echt sind. Die Struktur der Teppichindustrie ist allerdings so, daß sie nur sehr schwer zu überwachen ist. Die Produktion spielt sich ja nicht in Fabriken ab, sondern dezentral in vielen Dörfern“, gibt er zu bedenken.

Bharat Dogra von der kleinen alternativen Presseagentur „News from Field and Slums“ in Neu Delhi unterstützt die Initative und gibt zusätzlich zu bedenken, daß Kinderarbeit nicht isoliert von der sozialen Wirklichkeit in Indien gesehen werden dürfe. Und die sei das Ergebnis einseitiger und ungleicher Entwicklung. „Die große Masse der Bevölkerung lebt in Armut, weil bebaubares Land ungerecht verteilt oder die Umwelt zerstört ist. All das führt dazu, daß die in großer Not lebenden Bevölkerungsanteile die Arbeit ihrer Kinder als Überlebensstrategie nutzen“, meint der Journalist.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
1990
, Seite 28
Autor/inn/en:

Walter Keller: Journalist, arbeitet im Dortmunder Südasien-Büro.

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