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Severin Heilmann • Franz Schandl • Maria Wölflingseder

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Gleichklang?

Eine Sprechblase voller Fragezeichen braut sich über meinem Kopf zusammen angesichts der Trends, die sich zwischen Debatten über Po-Grapschen und sexuelle Belästigung einerseits und Kontaktarmut andererseits auftun. Nicht nur Wellness-Massagen aller Art, auch Free Hugs und Kuschelpartys werden als Rezept gegen fehlendes Bewegt-Sein und Berührt-Werden gepriesen. Während die Hugs kostenlos sind, muss alles andere selbstverständlich berappt werden. Genauso wie die Benutzung der zahllosen Kontaktplattformen im Internet. Ein lukratives Geschäft in wirtschaftlich miesen Zeiten. – Aber ist an diesen angebotenen Alternativen nicht grundsätzlich etwas verkehrt? Wird da nicht das Pferd von hinten aufgezäumt? Geht es nicht zuerst um das Betroffen-Sein, das Bewegt-Sein, um den Gleichklang. Und dann um die Zuwendung? Bei den angebotenen Alternativen verkürzt sich alles auf die Zuwendung, auf irgendeine Zuwendung, auf eingekaufte Zuwendung. Wären da nicht Glückspillen aus der Apotheke der einfachere Weg? Fehlt da nicht das Entscheidende? Das einmalige Erlebnis der Anziehung, der Inspiration, der Sehnsucht, der Hingabe?

www.gleichklang.de heißt eine viel beworbene „alternative Kennenlern-Plattform für naturnahe, umweltbewegte, tierliebe und sozialorientierte Menschen“. Alternativ scheint sich hier auf den sogenannten „Lebensstil“ der Kunden zu beziehen. Die Art der Partnervermittlung ist jedoch nicht anders als bei anderen Plattformen, sondern höchstens noch „berechnender“. Den Zufall, die Überraschung scheinen nämlich heute alle zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. „Es werden mithilfe eines wissenschaftlichen Fragebogens und eines Persönlichkeitstests relevante Informationen zum Lebensstil und zur Persönlichkeit, aber auch zum Äußeren, erhoben. Auf dieser Grundlage können dann mithilfe eines psychologisch-mathematischen Vermittlungsalgorithmus optimale Partnervorschläge und Freundschaftsvorschläge unterbreitet werden.“ Es geht dabei um eine Ermittlung „mit scharfen Einschluss- und Ausschlusskriterien, Ähnlichkeitsmaßen und einer Umsetzung der sogenannten Fuzzi-Logik“. – Alles läuft generalstabsmäßig geplant ab: Sage mir deine Präferenzen – vegan oder vegetarisch, religiös/spirituell oder a-religiös, deine sexuelle Orientierung (erstaunlich wie viele es da gibt), deine sexuellen Funktionsstörungen, deine Behinderungen und Erkrankungen, deine besonderen körperlichen Merkmale (z.B. dick) und vieles andere – und ich sag dir, wer zu dir passt.

Unter Gleichklang verstehe ich das genaue Gegenteil. Mein Bewegt-Sein und meine Begegnungen entspinnen sich jenseits jeglicher Kategorien und Kriterien, jenseits aller Weltanschauung, ja, jenseits des Verstehens! Gleichklang ist, etwas tief Bewegendes zu erleben, ohne es erklären zu können. Wenn ich einem Menschen begegne, einen Ort erlebe, ein Lied höre, eine Geschichte lese, ein Bild betrachte, kann es passieren, dass die Zeit stillzustehen scheint. Dann, wenn mein Gegenüber mich zum Klingen bringt, weil es auf denselben Ton gestimmt ist, und wir uns gegenseitig auf den Grund der Seele schauen.

Patrick Leigh Fermor, der 1933 als 18-Jähriger zu Fuß von Amsterdam nach Konstantinopel wanderte, beschreibt das in seinem Buch „Mani“ so wunderbar (Frankfurt/M. 2012, erstmals 1958, S. 187, aus dem Englischen von M. Allié und G. Kempf-Allié):

Langsam bricht der Abend über diese letzten Reste des Mauerwerks herein, die Zikaden werden leiser und verstummen, spiegelglatt schimmert das Meer unter uns, es ist gespenstisch still: eine vollkommen andere Welt. Ein tiefer Frieden herrscht in diesen Ruinen altgriechischer Tempel. Wenn man sich als Reisender an eines der gestürzten Kapitelle lehnt und die Stunden verstreichen lässt, verschwinden alle Ängste und quälenden Gedanken… Fast alles, was geschehen ist, schwindet in einem Reich der Schatten und des Trivialen, und mühelos tritt an dessen Stelle etwas Strahlendes, Einfaches, Ruhiges, das alle Knoten löst und alle Rätsel aufklärt und uns gütig und ohne alles Drängen zuzuflüstern scheint, dass das ganze Leben, wenn man ihm nur eine Chance dazu gäbe, ohne Zwang, ohne Behinderung, ohne die Quälereien des Verstands unendlich glücklich sein könnte.

Ich kenne dieses unbändige Gefühl, wenn das Glück so selbstverständlich ist, als ob es nichts anderes gäbe.

Maria Wölflingseder

Laufen

Wenn ich durch den Wald laufe, laufe ich durch mein Leben. Es ist tatsächlich ein Erleben, bei dem ich die Geschwindigkeit ebenso bestimme wie die Entfernung. Es geht nicht nur um den Streifzug durch die Gegend, es ist ein Streifzug durch mich. Ganz lebendig wird mir und ich spüre mich als Teil der Welt. Leibhaftig teilhaftig. Und das scheint mir zu bekommen, denn als Theoretiker im geschätzten Elfenbeinturm verstehe ich mich auch gerne als Gegenteil. Aber das ist bloß eine Seite, ob meine dunkle oder helle sei dahingestellt.

Beim Gehen oder Spazieren ist es der Charme der Nähe, der einen motiviert. Beim Joggen ist es der Appetit auf eine wenn auch nicht übermäßige Distanz. Nähe und Ferne reichen sich im Laufen die Hand oder, besser eigentlich, sie geben sich die Beine. Denn die sind als die flinken Transporteure die aktivsten Körperteile. So ist das Joggen eine Lust am Entfernen, aber anders als etwa beim Reisen an einer nur mäßigen Weite. Eine Strecke, die als Geschenk wahr- und angenommen wird.

Wichtig ist, dass meine Anstrengung meine wird. Sie erscheint mir nicht aufgezwungen, sondern – so abgeschmackt das Wort im bürgerlichen Zeitalter auch klingt – freiwillig. Wenn ich will, drossle ich das Tempo und beginne zu schlendern, bleibe stehen oder setze mich ins Gras. Und wenn mir andersrum danach ist, spurte ich los oder springe über Gräben oder hüpfe blöd herum. Und wenn ich niederfalle, was selten ist, falle ich weich. Ich rieche und höre. Und meine Augen blicken, vor allem der linke Argus, der mit den Null Dioptrien. Er späht nach Pilzen und Beeren. Rotkappen. Parasol. Eierschwammerl. Heidel. Him. Brom.

Ich verlaufe mich auch ganz gern. Vor allem in den Wäldern verliert man Richtung und Ziel und findet sich plötzlich an Punkten wieder, die man weder angestrebt hat noch erwartet hätte. Es ist eine sich selbst setzende Magie. So wird der Wald zum Märchenwald, zu einem von mir erschaffenen Labyrinth der Bäume und Wege, der Sträucher und Hecken. Manche Ecken kenne ich inzwischen so gut, dass ich mich gleich unheimlich heimlich fühle, gerate ich in ihre Nähe. Sie warten zwar nicht auf mich, aber wenn ich es mir einbilde, wird es wohl so sein. Ich erwarte es jedenfalls kaum. Im Laufen habe ich Gegenden kennen gelernt, die ich sonst (auch nicht durch das Wandern und schon gar nicht durch das Fahren) nie kennen gelernt hätte. Und was mir da nicht alles einfällt, aber teilweise auch wieder ausfällt, weil ich es mir nicht merke und nicht immer Papier und Stift eingesteckt sind.

Es gibt Räume, die laufe ich leichter als andere. Das liegt an einer mentalen Strömung, deren Entstehung schwer zu beschreiben ist. Es ist eine situative Schöpfung meiner selbst. Erfahrungen weiten sich aus und werden gleichzeitig inniger. Selten bin ich so konzentriert wie beim Laufen, aber auch selten bin ich so zerstreut. Alles wird dichter und loser, und manchmal kann ich es nicht mehr scheiden. Laufen ist eine Bewegung, deren Zweck in ihr selbst zu sich kommt und außerdem wirkt. Nachher geht’s mir jedenfalls besser.

Es macht einen Unterschied, ob man am Laufen gehalten wird oder ob man selbst läuft. Die bürgerliche Gesellschaft hat wenig Leben, aber viel Ablauf zu bieten. Das Kapital ist Gebieter der Existenz, nicht Spender des Daseins. Im Kapitalismus wird viel Leben versäumt. Der Großteil unserer Existenz ist versäumtes Leben. Dieser Gedanke nun, der mich des Öfteren deprimiert, und den ich bloß aushalte, weil ich ihn konsequent verdränge, befällt mich beim Laufen nie. Ähnliches gelingt nur noch beim Koitieren und beim Dinieren. Dort ist sogar gelegentlich die Güte höher, aber im Schnitt ist sie, insbesondere beim Essen, niedriger. Das Laufen fluktuiert weniger und es ist lockerer, weil es auch oder vielleicht sogar insbesondere solo gestaltbar ist. Joggen tue ich am liebsten allein. Man muss sich auf niemanden einlassen, kann sich selbst loslassen. Ich gleite in andere Sphären. Der Himmel streichelt mich dann.

Laufen ist kein Rennen und schon gar kein Wettrennen. Es ist eine umfassende Transposition. Ich laufe mit mir davon und finde mich, ohne mich zu suchen. Je länger ich laufe, desto läufiger werde ich. Es hat was von einer orgiastischen Selbstausschüttung, etwas, das man sich gut tun kann, ohne jemanden zu behelligen. Die Erotik des Laufes ist eine meiner Lebensspenderinnen. Wenn ich einmal einen Tag oder gar mehrere keine Zeit habe, geht mir etwas ab. Und je weniger mir abgeht, desto besser bin ich zu leiden und desto leichter bin ich auszuhalten. So laufe ich häufig. Immer wieder und immer noch. Keine Ahnung, wann ich auslaufe …

Franz Schandl

unterwegs entwegt – und vice versa

Im Zug. Mein Blick streicht über die vorbeiziehende Landschaft. „Vorbeiziehend“… – als Bub hielt ich jedes Mal den Atem an, als sich der Zug unmerklich rückwärts in Bewegung setzte, Fahrt aufnahm und in die Schalterhalle zu krachen drohte. Irgendwann ließ ich mich von den abfahrenden Garnituren am Nebengleis nicht mehr beirren. Fensterplätze blieben aber bevorzugte Wahl, namentlich jene in Fahrtrichtung. In dieser Situierung schiebt sich dem Betrachter vom Horizont her die unbekannte Landschaftsmasse bedächtig näher, gibt sich erkennbare Kontur, zerbricht in Einzeldinge, zerfällt in definierte Details und entzieht sich in ihrer größten Annäherung, rasend zersplitternd jetzt, dem gerade noch gesondert Fassbaren; fegt vorbei, unerkannt, unergründlich.

Inzwischen hab ich den gegenüberliegenden Sitzplatz lieb gewonnen, auf dem mich früher zuweilen unerklärliche Beklemmung überkam. Von hier nimmt der Vorbeizug den entgegen gesetzten Lauf: da platzt etwas ins Gesichtsfeld, wird erfasst, rasch kleiner werdend entflieht es dem Blick; die Trennschärfe schwindet, gemächlich löst es sich im Ganzen, bis es sich im weiten Horizont nahezu vollständig einebnet. (Ob die veränderte Sitzplatzpräferenz mit meinem Älterwerden zu tun haben sollte? Ich verwarf die Überlegung, eitel.)

Beim Fußgang bin ich es, der vorüberzieht, nicht die Umgebung. Und während einem Bahnreisen eine klare Gerichtetheit in Raum und Zeit nahe legen, kann beim Gehen grundsätzlich alles jederzeit anders laufen; vorausgesetzt, Freude beflügelt den leichten Fuß und kein Zweck bindet ihn in geregelte Bahn. Das geschieht drum meist spontan und also meist allein; oft zu zweien, bisweilen zu mehrt; des Tags oder im Vollmondschein, kaum bei Regen; Der Wald ist in Rufweite und er ruft nicht selten. Die Streckenleistung ist dabei nicht berauschend, irgendwo zwischen Wanderung und Spaziergang.

Beim Verlassen der Forstwege stellt sich ein sonderbares Gefühl ein. Denn der Weg kennt noch sein eigenes vor und zurück, verlangt den Fortschritt und bietet ein Ziel. Abseits davon tritt die Zwecklosigkeit des Ausgangs aber deutlicher hervor. Vorn, hinten, links und rechts, jedes woher, wohin und wielange verliert allen äußeren Bezug: Keine Wegmarke, kein Zeitziel, kein Ziel überhaupt; Unmittelbarkeit des Standorts, fünf erfrischte Sinne und die seltene Lust, überrascht zu werden sind wegweisend allein! Jede Richtung, jedes Tempo ist möglich.

Den Eispickel hab ich mit, wenn die allzu vertraute Stimme in mir drinnen eindringlicher frägt Wofür? und mir meine Entrichtetheit verscheucht. Ich pflüge damit schmale Pfade durch den Wald, seine Lichtungen, über Wiesen und lege Aussichtsplätze an, zum schwachen Zwecke der Erlustigung. Des Wildes Tritt verrät, dass den Bewohnern des Waldes die Panoramastrecken ebenfalls zusagen.

Zur Abenddämmerstunde hab ich mich auf der Wiesenrampe eingefunden. Der Ast einer mächtigen Schwarzkiefer birgt sie nicht zur Gänze… Dass es die Erde ist, die sich dreht, nicht der Mond, der aufgeht, beleidigt mein ästhetisches Empfinden (so irr ich mich ganz gern hierin); und doch drehen wir uns rasend schnell, jagen im Höllentempo um unsern Stern; und der, wer weiß wohin? Und ich lieg da, starre hinunter in diese unerforschliche Schwärze: Regungslos, Einschlüssen gleich im Kristall, flimmern Myriaden solcher Gestirne. Ein welkes Nadelpaar hat sich gelöst. Über mir hör ich, wie es seinen Weg durchs Astwerk nimmt. Dann ist’s wieder still. Wie es sein kann?

In dankbarer Erinnerung an eine unvergessene Zugreise und einen wundervollen Spaziergang!

Severin Heilmann

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
2013
, Seite 22
Autor/inn/en:

Severin Heilmann:

Geboren 1976. Mitglied im Kritischen Kreis.

Franz Schandl:

Geboren 1960 in Eberweis/Niederösterreich. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Wien. Lebt dortselbst als Historiker und Publizist und verdient seine Brötchen als Journalist wider Willen. Redakteur der Zeitschrift Streifzüge. Diverse Veröffentlichungen, gem. mit Gerhard Schattauer Verfasser der Studie „Die Grünen in Österreich. Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft“, Wien 1996. Aktuell: Nikolaus Dimmel/Karl A. Immervoll/Franz Schandl (Hg.), „Sinnvoll tätig sein, Wirkungen eines Grundeinkommens“, Wien 2019.

Maria Wölflingseder:

Geboren 1958 in Salzburg, seit 1977 in Wien. Studium der Pädogogik und Psychologie. Arbeitsschwerpunkt: Kritische Analyse von Esoterik, Biologismus und Ökofeminismus; zahlreiche Publikationen. Bei den Streifzügen seit Anbeginn. Mitherausgeberin von „Dead Men Working“ (Unrast-Verlag, 2004). Nicht nur in der Theorie zu Hause, sondern auch in der Literatur, insbesondere in der slawischen. Veröffentlichungen von Lyrik sowie Belletristik-Rezensionen.

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