Streifzüge » Print-Ausgaben » Jahrgänge 2001 - 2010 » Jahrgang 2006 » Heft 36
Frank Engster

Hans im Glück

Ein Anti-Märchen für Erwachsene

Hans hatte sieben Jahre bei seinem Herrn gedient, da sprach er zu ihm: „Herr, meine Zeit ist herum, nun wollte ich gerne wieder heim zu meiner Mutter, gebt mir meinen Lohn.“ Der Herr antwortete: „Du hast mir treu und ehrlich gedient, wie der Dienst war, so soll der Lohn sein“, und gab ihm ein Stück Gold, das so groß als Hansens Kopf war: Hans zog sein Tüchlein aus der Tasche, wickelte den Klumpen hinein, setzte ihn auf die Schulter und machte sich auf den Weg nach Haus.

Jede kennt das Märchen und weiß, wie es weitergeht: Der Goldklumpen wird Hans zu schwer, und als er einen Reiter erblickt und diesen um sein Pferd beneidet, tauscht der Reiter bereitwillig sein Ross gegen das Gold. Als aber das Pferd Hans abwirft, tauscht er es mit einem Bauern gegen dessen Kuh, weil die Aussicht auf Milch, Butter und Käse Hans verlockender erscheint als das riskante Reiten. Die Kuh freilich tritt Hans beim Melken gegen den Kopf, und darum tauscht er sie, verführt durch die Verheißung auf saftige Würste, mit einem Metzger gegen ein Schwein, dieses dann gegen eine Gans und diese wiederum mit einem Scherenschleifer gegen einen Wetzstein, und als dieser ihm schließlich durch ein Missgeschick in den Brunnen fällt, fühlt er sich wie befreit: „,So glücklich wie ich‘, rief er aus, ,gibt es keinen Menschen unter der Sonne‘. Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.“ [1] Das Märchen vom Hans im Glück gilt zu Recht als Antimärchen: Statt in die Fremde zu ziehen und sein Glück zu machen, kehrt der Held aus der Fremde zurück nach Hause. Das Glück, das ihm in der Fremde zunächst in Form eines kopfgroßen Goldklumpens zuteil wurde, verliert er durch eine Reihe ,falscher‘ Tauschhandlungen, bis er am Ende zwar mit leeren Händen, aber frohen Herzens zu seiner Mutter (!) zurückkehrt. Auch Hans selbst ist ein echter Antiheld: Mit den eingetauschten Dingen kann er nicht umgehen, am Ende steht nicht die Heirat mit einer Königstochter, sondern die eigene Mutter, und wo er sich zum ungleichen Tauschhandel nicht von seinem Gegenüber überreden lässt, da regt er ihn eigenmächtig an.

Und in eben diesen ,Anti-Tauschhandlungen‘ steckt die eigentliche Anziehungskraft des relativ jungen Märchens, [2] das weniger als ein Angebot zu psychisch-symbolischer Verarbeitung oder als erzieherischer Ratschlag für Kinder zu verstehen ist denn als Spott der aufgeklärten Mehrheit über einen in bestimmter Hinsicht zurückgebliebenen ,Simpel‘. Tatsächlich ist Hans geradezu die Personifikation von in mehrfacher Hinsicht ,regressiven‘ Tauschhandlungen: Sein Gegenstandsbezug gleicht dem eines Kindes, das von seinem Bedürfnis nicht abstrahiert und sein Glück nur in sofortiger und unmittelbarer Befriedigung am Gegenstand erfährt. [3] Dabei schreitet er in seinen Tauschhandlungen in der gesellschaftlichen Hierarchie rückwärts, vom Pferd (feudaler Adel) über Kuh und Schwein (Bauer/Metzger bis zum Wetzstein (fahrendes Handwerk). Und auch in der Form des Austauschs selbst durchläuft Hans die historisch-logische Genese der Tauschhandlungen umgekehrt: Obwohl ihm mit dem Goldklumpen ein allgemeines Äquivalent für die Welt der Gegenstände zur Verfügung steht, das einen quantifizierenden Zugang ermöglicht, ordnet Hans die „Königin der Waren“ dem „allgemeinen Warenpöbel“ (Marx) unter. Nun nehmen seine Tauschakte wieder die ursprüngliche Form des einfachen, einzelnen und spontanen Tauschs an, bei der Wert sich noch nicht in einem allgemeinen Äquivalent, sondern unmittelbar in der Naturalform des getauschten Gegenstandes darstellt. Hans im Glück ist es gelungen, in seiner Gesamtheit einen rückwärtsgewandten, radikal regressiven Verlauf von Vergesellschaftung darzustellen, indem das Wesen der Vergesellschaftung, die Tauschhandlung, einfach auf den Kopf gestellt wird.

Der Tausch setzt die getauschten Gegenstände und die Akteure gleich. So kommt es, dass Hans sich im Zuge seiner ungleichen Tauschgeschäfte in der gesellschaftlichen Hierarchie zwar widerspiegelt, aber eben in absteigender Folge. Das Problem ist, dass der Tausch die Gleichheit der Gegenstände nur behauptet – aber „die Waren tauschen sich zu Äquivalenten, werden nicht etwa Äquivalente durch Tausch“ (Marx). Mit anderen Worten: Die Dinge als Objekte des Tauschs, also als Waren, werden nicht erst Werte durch die Tauschrelation, sondern befinden sich schon in dieser gesellschaftlichen Formbestimmung. Der Wert stellt sich her aus der quantitativ bestimmenden, gesellschaftlichen Produktionsweise einerseits und seiner relationalen, blind wirkenden Durchsetzung andererseits. Er ist nicht nur Abstraktion von der einzelnen konkreten Arbeit, die als abstrakte Arbeitszeit, bloßes Zeitquantum, in einen identitären Daseinsmodus gehoben wird, in dem alles mit allem vergleichbar wird – er entspringt gleichzeitig der Abstraktion von der Totalität der gesellschaftlichen Gesamtarbeiten, die diesen Daseinsmodus der abstrakten Allgemeinheit im Kapitalismus erst herstellen. Durch den Wert sind die Dinge jedenfalls überhaupt erst quantitativer Bestimmung zugänglich. Und auch wenn ihr Wert nur im Tausch erscheinen kann, so ist ihr Tausch selbst gleichzeitig immer schon in diese gesellschaftliche Bestimmung gesetzt. Weil der Wert nun dieses gesellschaftliche Verhältnis ist und auch die Wertgröße sich als gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit herstellt, geht es hier also nicht um ein individuelles Tauschverhältnis zweier Warenbesitzer, sondern um das vorausgesetzte gesellschaftliche Verhältnis der Sachen, das die objektive Form gesellschaftlicher Beziehungen ihrer Besitzer bestimmt. Doch unser Hans verhält sich tatsächlich so, als gäbe es diese gesellschaftliche Daseinsform der Dinge nicht. So tauscht er sie als Äquivalente und gibt den Dingen dadurch Gleichheit, obwohl sie weder stofflich-materiell noch immateriell, also ihrem Wert nach, gleich sind. Hans tauscht sie offensichtlich nicht ihrer Wertgröße entsprechend, und hätte das ,Nichts‘ eine darstellbare und tauschbare Gestalt, Hans wäre am Ende wohl auch mit ihm den Tausch eingegangen. (Im Märchen muss der Zufall die Figur zu ihrem logischen Ende bringen – Hans‘ wertloser Stein fällt in einen Brunnen.)

Weil die Dinge als getrennte aufeinander bezogen werden müssen, erhält der Wert seinen verselbstständigten, selbstreferenziellen Charakter. Die Naturwüchsigkeit der Tauschprozesse bildet sich jedoch eine bestimmte Logik aus, die Austauschform nach dem Äquivalenzprinzip. Das Äquivalenzprinzip ist reine Identifikation: Die Verdoppelung der Dinge in der Warenform (qualitativer Gebrauchsgegenstand und abstrakter Wert) ermöglicht es, die Dinge als Werte mit sich selbst zu identifizieren – der Wert trifft auf sich selbst. Diese Selbstidentifikation wird zum Selbstformationsprinzip gesellschaftlicher Materie mit schrankenloser, universeller Gültigkeit – die Form, in der sich der zur Ware gewordene Gegenstand selbst anschaut. Diese Selbstidentifikation des Werts in den wechselseitig ausgetauschten Gegenständen bewahrt die Integrität ihrer Besitzer, weil im Tausch Parität hergestellt wird.

Hans‘ anfänglicher Besitz, sein Gold, setzt die Bedingungen seiner Möglichkeiten, sich gesellschaftlich auszutauschen. Solange sich Hans‘ Besitz nur in der Form der Austauschbarkeit, also in der Äquivalentform befindet, kann er ihm ebenso als potenzieller Anteil an der zur Ware gewordenen Welt gelten, als hielte er tatsächlich den bloßen Wert in Händen. Nur: Während der Wert als gesellschaftlicher Fetisch den Menschen als Eigenschaft eines Gegenstandes erscheint, lässt sich Hans umgekehrt von der Naturalform der Gegenstände blenden und verführen. Nach dem ersten Tausch ist sein Anteil an der Gesellschaft nur noch im Wert des Pferdes ausgedrückt, dann in einer Kuh und so fort.

Die Dinge müssen also in der Wertform auch der Wertgröße nach gleichgesetzt werden – nämlich ihrer eigenen. Die durch das Äquivalenzprinzip aufgestellte Identität gleichgesetzter Größen bildet überhaupt erst den Maßstab, von dem aus sich Urteile über vernünftig/unvernünftig, logisch/unlogisch, richtig/falsch, rational/irrational, Vorteil/Nachteil, wahr/falsch usw. legitimieren. Die qualitative Differenz der Gebrauchswerte wird bezogen auf ihre quantitative Einheit, ihr Treffpunkt ist die quantitative Identität. Der Tausch ist Dialektik, weil er die Einheit der Gegensätze ist. Der Wert als die Realabstraktion von den Dingen als Gebrauchsgegenständen bedeutet also zugleich die Realidentifikation der Dinge als Werte.

Wenn Hans die Dinge aber durch die Tat gleichsetzt, obwohl sie nicht gleich sind, wie wirkt sich die ,Differenz‘ aus, und warum handelt Hans innerhalb der Tauschlogik unvernünftig? Der Bezug, an dem sich diese ,Differenz‘ niederschlägt und an dem sie erscheinen muss, ist Hans selbst. Sein Lohn, ein Klumpen Gold, repräsentiert den Teil seiner Arbeitszeit, der für seine Reproduktion notwendig ist. Die von Hans verausgabte Eigenzeit, aufgehoben in dem Goldklumpen, ist seine vergegenständlichte Zukunft, die er nun Tauschakt für Tauschakt minimiert. Die Reproduktion der im Goldklumpen verendlichten Lebenszeit durch das Tauschäquivalent ist durch die Asymmetrie des Tausches nicht möglich. Denn es ist ja Hans, der sich (seine Existenz) reproduzieren muss. Dafür muss er seine vergegenständlichte Vergangenheit, hier also zuallererst den Goldklumpen für die verbrauchte Arbeitszeit, im Tausch erhalten – die gesellschaftliche Existenzform der Dinge ist nicht zu trennen von der Daseinsform unseres Hans‘. Die Selbsterhaltung über den Tausch verlangt unter diesen Bedingungen den symmetrischen, paritätischen, also gerechten Tausch. Hans‘ Tauschgeschäfte dagegen sind ungleich. Denn was sich im Allgemeinen als notwendiger Durchschnitt durchsetzt, kann im Besonderen beliebig davon abweichen. „Das Vernünftige und Notwendige setzt sich nur als blind wirkender Durchschnitt durch“ (Marx).

Man beachte die in diesen Zusammenhang gebrachten Begriffe ,vernünftig‘ und ,blind wirkend‘. Anscheinend ist ,vernünftig‘ – bezogen auf die Tauschhandlung – identisch mit gerechtem, gleichem Äquivalententausch, ja dieser stellt überhaupt erst so etwas wie ,Identität‘ her. Die Vorstellungen der Vernunft werden zwar a priori auf den Tausch bezogen, sie sind aber umgekehrt blind wirkende Denkformen aus dem Tausch. Sie entsprechen den identifizierenden Denkformen rational, logisch etc. Hans dagegen erscheint einfältig und dumm, weil er die Dinge als besondere und konkrete gleichsetzt, sie aber nicht rationalisiert als allgemeine und abstrakte. Sie befinden sich innerhalb einer gesellschaftlichen Form, der Wertform, der Hans die entsprechende Denkform versagt. Abstrakt muss er sie vor dem Tausch im Kopf gleichsetzen, und genau das tut er nicht. Er setzt sie nicht dem Wert nach gleich, weil er sich über die rationale Vernunft (Denken, das sich dem identifizierenden Formverhältnis der Wirklichkeit gleichsetzt, wo sich also der reale Abstraktionsprozess der Tauschhandlung im Denken identifiziert), überhaupt hinwegsetzt. Und das will bei einer Vernunft, die sich eben blind wirkend und notwendig durchsetzt, schon etwas heißen.

Dass die Dinge als abstrakte Wertgrößen aufeinander bezogen werden, setzt erst die Methode, die in der bürgerlichen Gesellschaft zu wissenschaftlicher Anschauung überhaupt wird. Erst unter dem Kapitalverhältnis entwickelt sich eine rationale Vernunft, die die Dinge so selbstbezüglich im allgemeinen und abstrakten Medium von Raum und Zeit betrachtet, wie dieses System selbst es tut. Die Selbstverwertung im Kapitalismus, das Produktionsmittel, das selbstbezüglich angewandt und erweitert wird, die Arbeit um der Arbeit willen, die Selbstverwertung des Geldes als G-G‘ – diese gesellschaftliche Form schließt den Menschen tendenziell aus und stellt ihn neben den Produktionsprozess. So wie im Kapitalismus der Wert sich an sich selbst koppelt, entwickelt sich die Methode der reinen Naturwissenschaft, die Dinge ,rein objektiv‘ zu betrachten (also sozusagen unter Ausschluss des subjektiven (Stör-)Faktors Mensch). D. h. nicht, dass wir z. B. in die Physik nur die Organisationsweise des Kapitals hineininterpretieren, also letztlich nur das herauslesen, was wir durch unsere momentane gesellschaftliche Konstitution hineingelegt haben. Das Kapital entfaltet sich tatsächlich nach dem Selbstorganisationsprinzip der Materie. In ihm werden die Dinge tatsächlich als Abstraktionen von Raum und Zeit auf sich selbst bezogen. Die Zeit wird verdinglicht (Produktion/Ware-Wert) und der Raum verendlicht (Zirkulation/Markt/Tausch), und das Kapital bewegt selbst sich unter den von ihm verallgemeinerten Bedingungen als Funktion des Raumes und der Zeit. Der Kapitalismus setzt also nicht nur eine Form der Erkenntnis, unter der die Natur angeschaut wird: Die Selbstkonstitution des Kapitals unter den Bedingungen von abstraktem Raum und Zeit bezieht sich auf die Natur nach ihren eigenen Gesetzen. Das Kapital existiert in der Form der naturwissenschaftlichen Anschauung, seine Methode folgt der Logik der Mathematik, es bildet die Gesellschaft als abstraktes Raum-Zeit-Kontinuum aus, seine ,Gravitation‘ stellt weltweit Gleichzeitigkeit her: Das Kapital ist die Selbstorganisation der Abstraktion.

In diesem Verhältnis kommen nun für unseren Hans die in den Waren aufgehobenen Arbeitszeiten im Tausch zur Deckung. Die wechselseitige Privatisierung der getauschten Dinge erhält somit stets den status quo der Tauschpartner: Die Menschen reproduzieren sich innerhalb der einfachen Zirkulation immer im Zustand des Gleichgewichts. Die Identifikation der Gegenstände als identische Zeitäquivalente gibt formal dem Tausch absolute Gerechtigkeit. Als Tauschende sind die Menschen gleich, nicht Ausbeutung, noch Gewalt, noch irgendein anderer Angriff auf Gleichheit und Freiheit der Menschen finden in der einfachen Zirkulation statt. Diese entfaltet sich erst in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zur Allgemeinheit, erst hier wird „die Sphäre der Zirkulation“ zum „Dorado der bürgerlichen Existenz“ (Horkheimer). Erst im Kapitalismus werden Freiheit und Gleichheit, also die Prinzipien des paritätischen Äquivalententauschs, zur Selbstorganisationsform des Werts: Die Produktion ist seine Reflexionsform als Akkumulation (Kapital), die Zirkulation die kontradiktorische Reflexionsform, nicht Akkumulation, sondern wechselseitige Abstoßung und ,Privatisierung‘ ist hier Strukturprinzip. Produktion ist Bildung von Wert, Zirkulation seine Realisierung. Man könnte sogar sagen, die kapitalistische Produktion topologisiert die Zeit und produziert Geschichte, sie vergegenständlicht gespeichertes, historisches Wissen, sedimentiert es in ihren Waren und hebt es auf in den Produktionsmitteln. Die Zirkulation ist dagegen keine geschichtliche Zeit, sie ist reine Gegenwart, ,vergegenwärtigte‘ Vergangenheit des Menschen, bloßer Austausch vergegenständlichter Zeit und Verteilung von Geschichte, nicht ihre Produktion. Die einfache Zirkulation ist daher nicht mehr der Ort von Gewalt und Ausbeutung, im Gegensatz zur Vormoderne: Während im Kapitalismus durch friedlichen, freien und gleichen Tausch der Mehrwert für das Kapital realisiert wird, wurde in den Zeiten der Vormoderne Reichtum noch unmittelbar in Form der Produktion, der Produzenten oder ihrer Produkte gewaltsam angeeignet.

Obwohl das Märchen die Prinzipien der Tauschhandlung bis zur Kenntlichkeit entstellt, ist es doch missverständlich. [4] Denn unser Antiheld ist ja ein netter Mensch; sein offener, unbekümmerter Charakter tritt nicht nur in seinen Tauschhandlungen zu Tage, er wird auch in seinem Namen herausgestellt: Hans Wohlgemut. Und unsere Sympathie gilt Hans nicht nur als unserem imaginären Tauschpartner, sie kommt auch seiner märchenhaften Selbstzufriedenheit zu. Statt die Dinge im Kopf als Werte miteinander zu identifizieren, identifiziert er die Dinge mit seinem leiblichen Bedürfnis. Hans sieht die Dinge noch rein qualitativ, ,konkretistisch‘, auf sein Bedürfnis gerichtet und sinnlich.

Er ignoriert die gesellschaftliche Daseinsform der Dinge, die auch seine eigenen gesellschaftlichen Beziehungen bestimmen, und verhält sich so, wie es ihm grad am besten passt. Die Notwendigkeiten, die ihm durch das Wertverhältnis gesetzt werden, kümmern ihn nicht, er lebt nur für den Augenblick. Hans handelt nicht im Sinne verabsolutierter Zeitlichkeit, sondern ganz nach seinen eigenen Sinnen: Der Besitz ist nur dem unmittelbaren Nutzen für die eigene Leiblichkeit und Sinnlichkeit verpflichtet. Die Dinge existieren für ihn nicht als Wertgrößen, im Verhältnis ihrer gesellschaftlichen Existenz, sondern nur als Gestalten naturaler Eigenschaften. Selbst sein Gold als die gegenständliche Erscheinung des Äquivalents vertritt für ihn nicht die ,Eigenschaft‘ des Werts, sondern die der Schwere. Doch unser Märchen wird überhaupt erst dadurch konsequentes Antimärchen, indem sich unserem Hans auch der unmittelbare Gebrauchswert versperrt. Er schafft es nie, seine Sachen ihrer eigentlichen Gebrauchsbestimmung zuzuführen und dadurch die verhängnisvolle Logik aufzuhalten, stattdessen scheitert er noch an den einfachsten Tätigkeiten. Wie der Wert ist auch der Gebrauchswert nur in seiner gesellschaftlichen Bestimmung existent. Seine Anwendung, z. B. das Melken der Kuh zum Trinken der Milch, um den Körper zu reproduzieren, würde seine soziale Funktion realisieren und unser Märchen wäre kein folgerichtiges Antimärchen, sondern würde etwas aufeinander Bezogenes und wechselseitig Konstitutives, nämlich Gebrauchswert und Tauschwert, gegeneinander ausspielen. So aber bleibt das Märchen bei der Negation der Tauschlogik in sich schlüssig.

Hans‘ Dilemma, die Abstraktion von der unmittelbaren, eigenen Sinnlichkeit, um diese zu entwickeln, ist freilich ein allzu menschliches. Sozusagen als ,Primärabstraktion‘ vollzieht sich an ihr die Vergesellschaftung der Menschen überhaupt: Das Produktionsmittel schiebt sich zwischen Kopf und Hand und konstituiert sie als getrennt voneinander. Denken und Handeln erwachsen als aufeinander bezogene, aber raumzeitlich auseinanderfallende Vorgänge, und die Menschen untereinander handeln als getrennte, aber aufeinander notwendig bezogene. Vielleicht liegt der Bezug zum Übergang von menschlicher Tätigkeit zum Wert schon im Formproblem von Zeit und Zeitempfinden begründet, die nur negativ in Erscheinung treten können, eben als Form, als das Vermittelnde. Wo sich für den Menschen Denken und Handeln als notwendig voneinander Getrenntes entwickeln, als Kausalität von Ursache und Wirkung, Grund und Folge etc. , kann überhaupt erst die Anschauungsform der Zeit als Seiendes-Nichtseiendes, eben als Abstraktum entstehen. Hier wird nun der Wert mit Zeit identisch, die Zeit der ,uneigennützigen‘ Tätigkeit des Menschen wird zum Wert.

Die Abstraktion von den Dingen als qualitativen Ereignissen ist Zeit; Zeit ist der Abstand zweier Ereignisse (die im dreifachen Sinn kürzeste Definition der Zeit). Gleichzeitig beinhaltet dies Vermittlung, Veränderung, Bewegung. Beides, Vermittlung und Vermitteltes, kann sich naturwüchsig, blind wirkend und universell nur als Totalität in der Form der Zeit (naturwissenschaftliche Dimension) und des Werts (gesellschaftliche Dimension) geltend machen. Der Abstand von Bedürfnis und der durchschnittlich notwendigen Dauer zu seiner Befriedigung, der Prozess der verschiedenen Arbeiten selbst, die Vermittlung ihrer Produkte – alle Vermittlung ist Zeit, Vermittlung des Getrennten, Aufhebung der Differenz. Zeit ist immer das, was fehlt, und nur sie kann unbewusste Vergesellschaftung universell gültig vollziehen.

Dieser Abstraktionsprozess Arbeitszeit bedingt die Abstraktion von der eigenen Sinnlichkeit. Sie entspringt mit der Warenform, die Tauschwert und Gebrauchswert vermittelt als Auseinanderfallendes. Beide entspringen also als Effekte der Abstraktion – von der unmittelbaren Sinnlichkeit muss abstrahiert werden, sowohl für die Herstellung als auch für den Austausch. Durch die Vergesellschaftung, die Abstraktion von der Natur durch ihre Anwendung – wobei Natur die Leiblichkeit mit einschließt – wird der qualitative Prozess der Naturemanzipation zeitlich quantifiziert (verdinglicht im Geld). Das Produkt muss für irgendeinen Gebrauchswert haben, sonst kann es keinen Tauschwert für einen anderen haben. Von der eigenen Endlichkeit kann der Mensch jedoch nicht abstrahieren; sie geht als unterschiedslose menschliche Lebenszeit in die gesellschaftliche Vermittlung und ist schließlich diese Vermittlung selbst, in der Arbeit wie im Tausch. So wie in der Naturwissenschaft alles Getrennte wieder in Beziehung gesetzt wird durch Zeit und Raum und darin als quantitative Größe aufeinander bezogen wird, wird in der kapitalistischen Gesellschaft konkrete Tätigkeit zu allgemeiner und abstrakter Arbeit, lebendige Arbeit wird tote, und die Zeit heilt alle Wunden. Obwohl die Herstellung eines Gegenstandes menschliche Eigenzeit also äußerlich und damit veräußerlich macht, bleibt durch den Bezug auf die im Gegenstand aufgehobene Zeit, also die ,negative‘ Vermittlungsform Wert, doch der Bezug zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben – eben als Arbeitszeit, als Wert. Durch den Wert ist die Trennung von Subjekt und Objekt in der Zeit gleichzeitig vollzogen und aufgehoben; Subjekt der Erkenntnis und Objekt der Erkenntnis sind daher auch in der gleichen Form.

Die ganze Unmittelbarkeit des Gegenstandsbezuges gibt es also nicht einmal im Märchen. Bedürfnisse entstehen und werden befriedigt nicht durch unmittelbaren Gegenstandsbezug, sondern über den gesellschaftlich vermittelten Tausch. Hans handelt also als Antiheld im Antimärchen widersprüchlich gegenüber dem Prozess seiner eigenen Gesellschaftlichkeit. Im Märchen endet er dafür konsequenterweise wieder bei seiner Mutter.

Wie brüchig die identitätsstiftende Form des Tauschs mittlerweile geworden ist, stellt sich in den Theorien der Postmoderne dar. Doch einen Rückzug gibt es nur im Märchen. Solange die Selbstorganisation des Werts die Gleichheit und Gerechtigkeit des Tausches als Gleichgewichtszustand herstellt, bleibt die gesellschaftliche Einheit und Gleichheit der Menschen auch eine der Form nach. In dieser Form, als diese Form selbst, sind sie wirklich gleich. Es gilt keine ,wirkliche‘ Gleichheit mehr zu verwirklichen, sondern nur noch ihre Kritik: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“

[1Zitiert nach Grimms Kinder- und Hausmärchen, hrsg. v. H.-J. Uther, München 1996, Bd. 1, S. 84ff.

[2Es findet sich noch nicht in der ersten Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen von 1812-15, sondern ist erst in der Ausgabe von 1819 eingeführt worden. Die Logik des Märchens wird am besten sichtbar, wenn man es vom heutigen Standpunkt aus betrachtet. Ich wende daher im Folgenden die Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft auf Hans im Glück an.

[3So gesehen befindet sich Hans tatsächlich , im Glück‘. Doch das Märchen zeigt, dass der rein stoffliche Gegenstandsbezug – das Diktat der Sinne – im Nichts endet, und letztlich wird nicht einmal ein einziges Bedürfnis gestillt. Es gibt das Motiv des ungleichen Tauschs noch in einer Reihe weiterer Märchen, wobei sich das Ende in zwei gegensätzliche Varianten scheidet: Einige lassen den letzten Tausch (häufig eine Wette) zum Guten ausschlagen, in anderen aber kommt der Held, oft mitsamt seinen Angehörigen, zu Tode. Obwohl der Tod der unbarmherzigen Logik ungleicher Tauschhandlungen wahrscheinlich am nächsten kommt, bleibt Hans im Glück in seiner konsequent regressiven Version, bei der der Held am Ende befreit, glücklich und völlig mit sich selbst zufrieden seiner Mutter zueilt, die anrührendste Variante.

[4So ist in einem Kommentar des Märchens davon die Rede, dass die Tauschgeschäfte „materiell zu seinen Ungunsten geraten“, obwohl Hans doch gerade materiell ganz zufrieden ist mit seinen Tauschergebnissen und sich der Nachteil bei seinen Tauschgeschäften, beispielsweise von dem Pferd gegen die Kuh, materiell wohl nicht so ohne weiteres fassen lässt. Eine Kuh ist materiell sicher von größerem Nutzen als ein Klumpen Gold. Weiter heißt es: „Aber der materielle Besitz interessiert Hans gar nicht…“ Offensichtlich ist es doch gerade der materielle Besitz, der Hans interessiert, während das Immaterielle, der Wert, für ihn in der Tat nicht von Interesse ist. Das Immaterielle, das die Abstraktion vom Materiellen zur Voraussetzung hat, kann sich aufgrund der Unmittelbarkeit seines Gegenstandsbezugs nicht zum Wertbegriff entwickeln. Die Ambivalenz des Märchens speist sich aus diesem unmittelbaren Zugang auf die Welt. (Grimms Kinder- und Hausmärchen, a. a. O. , S. 157. )

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
2006
, Seite 16
Autor/inn/en:

Frank Engster: Geboren 1972, lebt in Berlin. Er promoviert über das Geldrätsel, schreibt gelegentlich für die Phase 2 und ist im Institut für Methodenkritik beschäftigt.

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