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Marianne Gronemeyer

Haben, als hätte man nicht

In seinem Vorwort zu der Aufsatzsammlung „Schulen helfen nicht“ („Celebration of Awareness“), die Ivan Illich 1969 erstmalig publizierte, schreibt Erich Fromm: „Weder diese Aufsätze noch ihr Verfasser bedürfen einer Einleitung. Wenn trotzdem Ivan Illich mir die Ehre erwiesen hat, mich um eine Einleitung zu bitten, und wenn ich das gern übernommen habe, so scheinen wir dabei beide gedacht zu haben, eine solche Einleitung sei eine Gelegenheit, einer gemeinsamen Haltung und Überzeugung Ausdruck zu geben, obwohl einige unserer Ansichten beträchtlich auseinandergehen. Auch die Auffassung des Verfassers ist heute nicht mehr immer die gleiche wie zu der Zeit, als er im Laufe der Jahre bei verschiedenen Anlässen diese Aufsätze schrieb. Im Kern seiner Einstellung ist er sich jedoch treu geblieben, und in diesem Kern stimmen wir überein.“ (E. Fromm, 1976, S. 7)

Unkultur des Habens

Warum beziehe ich mich auf dieses eher entlegene Textstück Erich Fromms und nicht auf eines seiner zentralen großen Werke, z.B. auf den Bestseller „Haben oder Sein“?

Weil sich hier die beiden bedeutendsten Lehrer, denen ich in den Siebzigerjahren begegnet bin, gemeinsam zu Wort melden. Ihnen beiden verdanke ich die wichtigsten Anstöße, die mich veranlassten, mich über den Konsumismus, die Unkultur des „Habens“, zu entsetzen als ein Unheil, das damals nicht erst heraufzog, sondern bereits in vollem Gange war, ohne dass ihm bis dahin viel Aufmerksamkeit gewidmet worden war. Der Dritte, der sich schon damals in radikaler Konsumkritik übte und sich traute, den Konsumismus als neuen Faschismus zu brandmarken und ihn sogar „Völkermord“ zu nennen, war Pier Paolo Pasolini. Er betrauerte das „Verschwinden der Glühwürmchen“ und geriet in Zorn über das Verschwinden des selbstbewussten Lächelns des armen Bauernjungen aus dem Friaul (P. P. Pasolini, 1979, S. 67 f. und 29 f.). Die verschwundenen Glühwürmchen und das verschwundene Lächeln wurden mir bis heute zu eindringlichen Metaphern für die verwüstende, gleichmacherische Wirkung des Konsumismus. Diese drei Konsumkritiker gingen weit über die damals aufsehenerregenden Warnungen des Club of Rome hinaus. Sie prangerten nicht nur die Maßlosigkeit eines ebenso entfesselten wie völlig beliebigen Konsums an. Ihre Kritik richtete sich vielmehr gegen eine industrielle Gesellschaft, in der sich Produktion und Konsumtion von Waren als einzige Form der Daseinssicherung durchgesetzt hatten und behaupteten.

Darüber hinaus hat mich aber auch das Eingeständnis „beträchtlicher“ Differenzen, das Erich Fromm macht, beeindruckt. In Abwandlung eines gewichtigen Satzes von Adorno, der in den „Minima moralia“ bekannte, dass die Möglichkeit des Besseren nur durch die Verzweiflung hindurch festgehalten werden könne, könnte man sagen: Nur durch die Anerkenntnis der Differenz und des Nicht-Verstehens hindurch kann die Möglichkeit der Übereinstimmung, des Respekts – den Fromm dem Jüngeren ganz uneingeschränkt zollt – ja, der Freundschaft bestehen.

Was nun den Dissens angeht, der für die Freundschaft beider sicher ebenso unverzichtbar war wie die „Übereinstimmung im Kern“, so bleibt er in dem Vorwort unausgesprochen. Fromm beschränkt sich darauf, das Einverständnis zu benennen, das er in einem „radikalen Humanismus“ findet. Dabei geht es letztlich um die brennende Frage, wie in einer vom Konsumismus durchherrschten Welt und trotz der unentrinnbaren Verstrickung in sie eine Haltung gefunden werden kann, die es erlaubt, Nicht-Einverstandenheit aufrechtzuerhalten und zu bekunden, also inmitten des Konsumismus Distanz zu ihm zu wahren.

Nun will ich aber doch den Dissens, den Fromm so nobel beschweigt, nicht auf sich beruhen lassen. Nicht aus Neugier oder Indiskretion, sondern weil ich glaube, dass gerade an der Unterschiedenheit der Ansichten beider das Weiterdenken Nahrung findet. Wenn ich vom Weiterdenken spreche, dann meine ich nicht einen Denkfortschritt, der die Vordenker überbietet, sondern ein Nach-Sinnen, eine Legierung des von ihnen Ererbten mit den eigenen Erfahrungen, die zugleich das Erbe bewahrt und durch Aneignung verwandelt.

Der wundeste Punkt in ihrem Dissens wird vielleicht berührt durch Illichs dezidiertes Misstrauen gegenüber der Psychoanalyse. Er sagt: „Die psychoanalytische Annahme, dass ich Dir helfen kann, Dich selber viel besser zu verstehen, als du es im Moment tust, färbt unweigerlich (…) ab auf die meisten unserer Beziehungen. Eine der Neuerungen, die von IHM kommen, der sagt, ich komme, um alles neu zu machen, ist es gerade, in der Begegnung mit dem anderen willens zu sein, ihn für das zu nehmen, was er mir über sich selbst erzählt, da ich nur auf diese Weise durch ihn überrascht werden kann.“

Es geht also darum, sich dem anderen gegenüber jedes Vorwegwissen oder Bescheidwissen zu versagen, und das, was mir der andere von sich offenbart, als sein Geschenk an mich anzunehmen, ohne mich ihm mit meinem Verstehen zu nähern und ohne ihn zu seinem Besten beeinflussen zu wollen. Wir hätten uns „von der pädagogischen (und psychologischen) Hybris zu befreien – von unserem Glauben, wir könnten tun, was Gott nicht kann, nämlich andere zu ihrem Heil zu manipulieren.“ Und David Cayley, der die letzten veröffentlichten Gespräche mit Ivan Illich führte, kommentiert: „Die Fähigkeit, sich überraschen zu lassen, die spontane und nicht vorauswissende Hinwendung zum anderen ist die Essenz der Freiheit, die Illich im Neuen Testament findet.“ (I. Illich, 2006, S. 33)

Erich Fromm beschreitet einen anderen Weg. Er geht davon aus, dass nur ein fundamentaler Wandel der menschlichen Charakterstruktur, das heißt, ein Zurückdrängen der Haben- zugunsten der Seinsorientierung, (uns) vor einer psychologischen und ökonomischen Katastrophe retten kann. Er fragt, ob tief greifende charakterologische Veränderungen möglich sind, bejaht diese Frage und nennt folgende Bedingungen:

  • Wir leiden und sind uns dessen bewusst.
  • Wir haben die Ursache unseres Unbehagens erkannt.
  • Wir sehen eine Möglichkeit, unser Unbehagen zu überwinden.
  • Wir sehen ein, dass wir uns bestimmte Verhaltensnormen zu eigen machen und unsere gegenwärtige Lebenspraxis ändern müssen, um unser Unbehagen zu überwinden.

(E. Fromm 1976 a, S. 165)

Die Differenz ist, wie Fromm selbst sagt, „beträchtlich“. Folgerichtig schreibt Fromm sein Buch über „die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“, während Ivan Illich seine Aufmerksamkeit nicht den seelischen Befindlichkeiten der Menschen, sondern der Art und Beschaffenheit und Wirksamkeit ihrer Werkzeuge zuwendet. „Tools for Conviviality“ lautet der Originaltitel des Buches, das ungefähr zeitgleich mit „Haben oder Sein“ erscheint, im Deutschen viel weniger prägnant: „Selbstbegrenzung“.

Werkzeuge und Bedürfnisse

Die folgenreichste Aussage, die Illich über die Werkzeuge macht, ist die, dass Menschen keine Gerätschaften brauchen, die ihnen die Arbeit abnehmen, sondern neue, durchaus technisch hoch entwickelte und industriell produzierte Werkzeuge, mit denen sie arbeiten können: „Nicht weitere gut programmierte Energiesklaven brauchen sie, sondern eine Technologie, die ihnen dabei hilft, das Beste zu machen aus der Kraft und Phantasie, die jeder besitzt.“ (I. Illich 1998, zuerst 1975, S. 27) Werkzeuge müssen konvivial, das heißt, so beschaffen sein, dass sie dem Miteinander der Menschen dienlich sind, anstatt sie zu isolieren und durch Konkurrenz zu vereinzeln. Nur dann könnten die Menschen einen vielseitigen gemeinsamen Gebrauch von ihren ganz unterschiedlichen Kräften und Begabungen machen.

Es sind also die Werkzeuge, die konviviale oder nicht-konviviale Gesellschaften „auf dem Gewissen“ haben. Ausdrücklich lehnt Illich es ab, sich in der Frage des gedeihlichen Miteinanders von Menschen bei der Psychologie Rat zu holen.

Seine Streitschrift ist ein großes Plädoyer für Mittel der Daseinsbewältigung, die die Menschen weder von der Expertise der Experten noch von ständig gesteigertem Konsum noch von endlosen Ausbildungsgängen abhängig machen, sondern sie an ihre eigenen Kräfte und ihr gemeinschaftliches Tun verweisen. Darin ist er dann wieder einig mit dem, was Erich Fromm die Orientierung am Sein nennt. Aber der Dissens bleibt bestehen und ist durchaus folgenreich. Er offenbart sich vielleicht am deutlichsten darin, wie die beiden großen Denker über die Bedürfnisse denken.

Erich Fromm sieht die Bedürfnisse, die er existenziell nennt – ich zähle sie noch einmal auf: das Bedürfnis nach Orientierung und Devotion, jenes nach Verwurzelung, das nach Einheit, das Bestreben, etwas zu bewirken, und das Bedürfnis nach Erregung und Stimulation (E. Fromm 1974, S. 207 ff.) –, als die Urantriebe der Daseinsbewältigung an, die es dem Menschen ermöglichen, zu seiner Bestimmung zu kommen oder eben, wenn sie irregeleitet werden, seine Bestimmung zu verfehlen. Bedürfnisse gehören also zur Grundausstattung des Menschen, in ihnen steckt das Potenzial der Freiheit oder der Versklavung. So entspricht die Unterscheidung zwischen Haben und Sein in gewissem Sinn der Unterscheidung von falschen und wahren Bedürfnissen. Pointiert könnte man sagen, Fromm erklärt den Konsumismus aus fehlgeleiteten Bedürfnissen, während Illich die Bedürfnisse, genauer die Bedürftigkeit aus dem Konsumismus erklärt.

Folgt man Illich, so ist die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen mindestens unzureichend. Wahre Bedürfnisse gibt es nicht. Wer bedürftig ist, steht immer unter der Knute dessen, der die Befriedigungsmittel verwaltet und anderen vorzuenthalten vermag. Bedürfnisse schaffen ein Gewährungsverhältnis und machen aus daseinsmächtigen „kriegende“ Menschen, die alles, was sie zum Leben brauchen, kriegen müssen und deshalb einander bekriegen müssen, um von den knapp gehaltenen Ressourcen etwas abzukriegen. Bedürftige können darüber hinaus nur wollen, was sie wollen sollen. Es steckt unüberhörbar das Wort „dürfen“ im Bedürfnis.

So unterschiedlich wie ihr bedürfnistheoretischer Ansatz ist dann auch das Ausschauhalten nach dem Rettenden. Der Grundimpuls bei Fromm ist ein erzieherischer, Illich dagegen glaubte in den 70er-Jahren noch, dass die Mehrheit der Menschen, die in den armen Ländern lebt, den Weg des Industrialismus vermeiden und durch die Entscheidung für konviviale Werkzeuge dem Desaster vollständiger Abhängigkeit und Unterdrückung entgehen könnte.

In späteren Jahren hat er sich jedoch grundlegend korrigiert. Er erkannte, dass das Zeitalter der Werkzeuge längst vom Zeitalter der Systeme abgelöst worden war, dass nicht mehr wir die Werkzeuge, die wir geschaffen haben, hantieren und dirigieren, sondern dass wir als Verfahrens- und Programmkomponenten im System fungieren und funktionieren. Und entsprechend kommt er zu dem Schluss, dass es gar nicht mehr darum geht, die Bedürfnisse zu bekämpfen, denn längst werden die gesellschaftlichen Realitäten nicht mehr an industriell hergestellten Bedürfnissen orientiert, sondern an Systemerfordernissen. Verglichen damit repräsentiert das Zeitalter der Bedürfnisse, in dem ja immerhin die Person als Träger der Bedürfnisse noch eine Rolle spielte, einen geradezu harmlosen Grad der Entfremdung.

Systemzwang und Müll

Wenn wir also heute von Konsumismus sprechen, genügt es nicht mehr, von der Gier und der Habsucht und dem Neid der Menschen zu reden, egal, ob wir sie nun als Täter oder als Opfer ansehen, wir müssen vielmehr über Systemzwänge und das lautlose Vordringen ihres Herrschaftsanspruchs sprechen, dem die Kritiker und die Befürworter des Wachstums gleichermaßen unterworfen sind. Fraglich, ob man vom Ansatz der existenziellen Bedürfnisse und von der Forderung nach einer Veränderung der menschlichen Charakterstruktur zu diesen düsteren Konsequenzen durchstoßen kann.

Der Konsumismus hat im Zeitalter des globalisierten Systems eine Qualität angenommen, die ihn nahezu hermetisch macht.

Globalisierung sei vor allem „Monokultur im Denken“, sagt Vandana Shiva. Und diese Monokultur kreist um Müll. Müll ist nicht die in Kauf genommene, die unvermeidliche schädliche Nebenwirkung industrieller Produktion, sondern deren Hauptzweck.

Man kann von nahezu allen Industrieprodukten, die fabriziert werden unter der Vorgabe, dass Ware und Wachstum sein müssen, sagen, dass ihr eigentlicher Daseinszweck darin besteht, Müll zu sein. Sie werden hergestellt, so fordert es die Wachstumslogik, nicht um ihrer Brauchbarkeit und Tauglichkeit willen, sondern um ihrer möglichst schnellen Unbrauchbarkeit und Untauglichkeit willen. Sie werden als Müll produziert.

Denn der Superlativ des Attributs „neu“ annonciert den Wert eines jeden Produktes. Wenn der Wert eines beliebigen Gegenstandes darin besteht, brandneu zu sein, der letzte Schrei, die Überbietung alles bisher Dagewesenen, dann ist er im Augenblick seines Erscheinens bereits im freien Wertverfall begriffen, denn er ist ja nur die Vorstufe des neueren Neuesten, das ihm folgt, er trägt den Makel des Überholten und Defizienten bereits in sich, bevor er zum Zuge kommen kann. Inmitten des Wohlstands sind wir Müllbewohner und was wir gedankenlos „Fortschritt“ nennen, ist die rasant beschleunigte Umwandlung unserer Welt in Müll.

Was Erich Fromm in den 70er-Jahren die „Orientierung am Haben“ nannte, bildet die Befindlichkeit des modernen, von der Vermüllung gezeichneten Konsumenten nur noch unzureichend ab.

Die warenförmigen Produkte, die die auf permanentes Wachstum angewiesene Gesellschaft ausspuckt, leiden ausnahmslos an einem eklatanten Mangel an Brauchbarkeit und Haltbarkeit. Der modernste Müll ist demnach nicht der, der auf Deponien lagert, sondern in den Regalen der Kaufhäuser und in den Werbebroschüren der Dienstleistungsindustrie feilgeboten wird, als Müll unkenntlich und deshalb durchaus Objekt der Begierde: „Abfall ist das finstere, schändliche Geheimnis jeglicher Produktion. Es soll vorzugsweise ein Geheimnis bleiben.“ (Zygmunt Bauman, 2005, S. 42)

Wie lebt es sich in einer müllerzeugenden Gesellschaft? Was wird aus Menschen, deren Arbeit nicht nur zu nichts nütze ist, sondern schweren Schaden anrichtet?

Wie wirkt sich die Tatsache, dass wir uns in einer Welt aus Müll einrichten müssen, auf unser Weltempfinden und unser Befinden aus? Zunächst einmal so, dass wir uns in ihr überhaupt nicht einrichten können. Das, was Hannah Arendt als den Lohn des „Herstellens“ erkennt, dass nämlich dabei eine Welt aus Dingen entsteht, die dauerhafter sind als wir selbst und in der wir deshalb Halt und Haltung finden können, gilt nicht für die industrielle Produktion. Die erschafft eine Welt, in der das Allerneueste am erstrebenswertesten ist. In ihr kann man sich guten Gewissens für nichts mehr entscheiden, weil jede Entscheidung für etwas mich nötigt, mich mit Defizitärem zu begnügen, und mich um die Möglichkeit bringt, dem demnächst Allerneuesten den Zuschlag zu geben. Selbst die unschuldig geglaubten Ökoprodukte entgehen dem Gesetz der Vermüllung nicht: Ist es nicht voreilig oder unvernünftig, die Sonnenenergieanlage auf mein Dach zu setzen, die heute die am weitesten entwickelte ist, wenn doch morgen die Entwicklung darüber hingegangen sein wird? Ist es nicht unsinnig, meine Entscheidung auf ein Wissen zu gründen, das morgen überholt sein wird? Ist es nicht verrückt, Zeit und Kraft in eine Bildung zu investieren, die morgen karrierehinderlich ist? Ist es nicht unverantwortlich, heute an etwas zu glauben, das morgen als schierer Aberglaube entlarvt sein wird? Jede ergriffene Chance ist eine Niederlage, jede getroffene Entscheidung ist eine Entscheidung für Müll.

Die vier Monopole

Aber noch beharrlicher als der Müll selbst ist die Monokultur der Müllgesinnung. Monokulturen und Monopole bedingen sich gegenseitig. Es sind mächtige Monopole, die dafür Sorge tragen, dass das schändliche Geheimnis der Wachstumsgesellschaft – dass sie nämlich Müll produziert und konsumiert – nicht ruchbar wird und dass das „Weiter so“ seinen ungehinderten Lauf nimmt. Es sind jene treibenden Kräfte, die den Fortschritt garantieren: die Naturwissenschaft, die Ökonomie, die Technik und die Bürokratie. An und für sich haftet ihnen zugegebenermaßen nichts Verderbliches an. Was ist schon dagegen zu sagen, dass die Natur erforscht wird, dass die Vorräte bewirtschaftet werden, dass wir uns die Arbeit zu erleichtern trachten und das Gemeinwesen ordnen wollen?

Seine zerstörerischen Kräfte entfaltet diese unheilige Allianz dadurch, dass sie in ihrem jeweiligen Geltungsbereich Monopole etabliert. Die Naturwissenschaft beansprucht das Monopol der Weltdeutung, die Ökonomie das der Weltverteilung, die Technik das der Weltgestaltung und schließlich die Bürokratie das Monopol, die Welt zu regeln. Zusammengeschlossen und miteinander vernetzt bilden sie eine Supermacht, die ihren Anspruch auf Weltherrschaft weitgehend durchgesetzt hat. Sie tendiert dazu, sich alles anzuverwandeln und alles in sich einzuschließen. Sie duldet keine anderen Götter neben sich.

Monopole sind dazu da, sich in praktizierte Macht umzusetzen. Jedes der vier Monopole ist insbesondere zuständig für eine Handlungsmaxime, die nicht nur das große Weltgeschehen steuert, sondern bis in den Alltag der Menschen Gefolgschaft erzwingt. Der Naturwissenschaft obliegt es, Konsens in Fragen der Welterklärung herzustellen, die Ökonomie sorgt dafür, dass die Konkurrenz alle menschlichen Beziehungen prägt, auch die allerintimsten. Die Technik richtet die Welt auf Konsumierbarkeit zu und erhebt den Konsum zur ausschließlichen Form der Daseinssicherung. Die Bürokratie schließlich stellt Konformität dadurch her, dass sie alle menschlichen Handlungen nach dem Vorbild maschinellen Funktionierens ausrichtet. „Du sollst mit mir eines Sinnes sein und meiner Evidenz trauen“, sagt die Naturwissenschaft. „Du sollst deinen Nächsten besiegen wollen“, sagt die Ökonomie. „Du sollst die Maschinen statt deiner arbeiten lassen, lass dich bedienen und versorgen“, sagt die Technik. „Vor allem sollst du nicht stören“, sagt die Bürokratie.

„Man kann von der Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt reden, einem Gefühl des Eingesperrtseins in einem (…) netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang. Je dichter das Netz, desto mehr will man heraus, während gerade seine Dichte verwehrt, dass man heraus kann“. (Th. W. Adorno, 1998, S. 676) Adorno hat darin recht: Wir sind eingesperrt. Aber er hat Unrecht in der Annahme, dass diese Verbarrikadierung mehrheitlich Fluchtimpulse auslöst. Die Klaustrophoben, die „Nichts wie raus hier“ wollen, sind eine kleine Minorität. Die überwiegende Mehrheit der Ambitionierten will nicht raus, sondern rein und hält sich etwas darauf zugute, bestens „integriert“ zu sein. Der Moloch erfährt viel Zustimmung und Bejahung. Und nicht die Furcht, von ihm verschlungen zu werden, sondern die Furcht, von ihm ausgespien zu werden, beherrscht die Systeminsassen.

Es reicht!

Wie wäre die Monokultur des Denkens aufzubrechen? Wenn das, was die Industriegesellschaft produziert, Müll ist, dann ist es der Mühe nicht wert; dann kann man es nicht brauchen, man braucht es aber dann auch nicht mehr. Der Müll wird entzaubert und diese Entzauberung entlässt uns in eine unerhörte Freiheit, die Freiheit, etwas nicht zu gebrauchen.

Wir müssten uns also

1. der Einsicht stellen, dass die Wachstumsgesellschaft unfähig ist, etwas anderes als Müll zu produzieren. Das, worauf sich alle Rettungsbemühungen richten: die unablässige technische und bürokratische Innovation, müsste als der Kern des Übels erkannt werden. Die moderne Gestalt des Bösen ist nicht dämonisch, aber auch nicht nur banal, wie Hannah Arendt feststellte, sie ist innovativ.

Wir müssten uns

2. der Erkenntnis stellen, dass das Kartell der großen vier jeden Versuch, ihm etwas entgegenzusetzen, das nicht aus seinem Geist ist, mit unerbittlicher Strenge und freundlichem Gesicht durch Integration unschädlich macht. Die heute korrekte politische Forderung in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen lautet „Integration“, im soziologischen Uniquak: Inklusion. Was für eine willfährige Zuarbeit für ein alles verschlingendes, gefräßiges System. Ich plädiere für eine andere Bewegungsrichtung: Raus hier! Desintegration oder genauer noch Desertion, Systemdesertion.

3. scheint mir die Sorge um die Weltrettung nicht hilfreich, wenn wir uns in der Kunst des Aufhörens üben wollen. Niemand kann die Welt retten. Wer sich auf diesen Weg begibt, wird zwangsläufig frustriert. Die Empörung über die Freiheitsberaubung, die uns in den reichen Gesellschaften tagtäglich im Namen von Konsens, Konsum, Konkurrenz und Konformität und mit dem Versprechen von Sicherheit, von Zeitersparnis und von Bequemlichkeit und Anerkennung angetan wird, ist ein weit besserer Ratgeber. Gegen die Freiheitsberaubung kann ich opponieren mit einem unmissverständlichen „Es reicht!“. Diese knappen beiden Worte, die zugleich vom Genug und von einer unerträglichen Zumutung sprechen, sind das Beste, was wir im Gepäck haben, wenn wir aufhören wollen.

4. Man müsste die Stirn haben, die Allmacht des Systems zu ignorieren. „Bange machen gilt nicht!“, war eine Art Zauberformel unserer Kindheit, mit der wir einen übermächtigen Gegner „entwaffneten“ und uns selbst Mut zusprachen. Es käme darauf an, seine enorme Macht zu erkennen, ohne sie anzuerkennen. Aber wie geht das? Wie gelangt man ins Abseits?

Womöglich sind heute Abseitse nicht mehr zu finden, sondern erst zu gründen. Das Abseits ist ein Ort für Deserteure. Der Deserteur ist der „Nicht-mehr-Mitmacher“ par excellence; er ist Befehlsverweigerer, er entzieht dem Machthaber seine Mittäterschaft, indem er sich heimlich, still und leise, vor allem aber unerlaubt von der Truppe entfernt. Er gilt darum als feige, aber das kann ihm egal sein.

Abseitse

Es ist nicht von ungefähr, dass sich über die Abseitse so gar nichts Genaues sagen lässt. Solche Orte entstehen erst dadurch, dass da Menschen sind, die sie mit ihrer Anwesenheit füllen. Sie sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie besiedeln. Sie werden aus einer tiefen Abneigung gegen Gleichmacherei, Vereinheitlichung und Reih und Glied erschaffen. Es sind Stätten, in denen Menschen so zusammenwirken, dass nicht alles, was man zum Leben braucht, Geld kostet. Was umsonst ist, hat dort einen größeren Wert, als das, was man kaufen muss. Fürsorge ist wichtiger als Vorsorge. Kooperation und Teilen sind existenznotwendig, ebenso wie das Zusammenspiel verschiedenster Könnerschaften und Talente.

Das, was das Abseits aus dem Blickwinkel derer, die um Integration kämpfen, bedrohlich macht, erscheint den Systemdeserteuren gerade als das Rettende. Ihre Nicht-Zugehörigkeit verheißt ihnen ein Stück Freiheit, Ohn-Macht – jene Haltung, die nichts begehrt von dem, was die Macht verwaltet, am allerwenigsten die Macht selbst – gilt ihnen als radikale Form des Widerstandes. Sie fordern ein Recht auf Armut inmitten einer vom „Immer mehr“ gepeitschten Gesellschaft. Zeit ist im Abseits nicht Geld, sondern Zeit. Und Arbeit ist nicht Lohnknechtschaft, sondern Eigenarbeit.

Literatur

  • Erich Fromm, in: Ivan Illich: Schulen helfen nicht. Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg, 1976.
  • Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften, Berlin 1979 (33.–40. Tausend).
  • „Die Korruption des Christentums. Ivan Illich über Evangelium, Kirche und Gesellschaft. Teil 1, in: Ivan Illich, in den Flüssen nördlich der Zukunft, München, 2006.
  • Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, München, 1998.
  • Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben, Hamburg, 2005.
  • Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd.10/2, Darmstadt 1998.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Dezember
2018
, Seite 12
Autor/inn/en:

Marianne Gronemeyer:

Geboren 1941. Lehrerin, bis 2006 Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der FH Wiesbaden. Zuletzt u.a.: Genug ist genug. Über die Kunst des Aufhörens (2008).

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