Context XXI » Print » Jahrgang 2000 » Heft 5/2000
Stefan Neuwirth

Guy Debord — Die totale Selbstbestimmung

Wer war Guy-Ernest Debord? Ein Abenteurer, der seine Lebensgeschichte selbst bestimmt hat.

Keine Photographie, oder zwei oder vier aus den fünfziger Jahren, bleibt von ihm zurück, keine Anekdote: Nur sein geschriebenes Wort bleibt, wie er es in seinen Büchern und in seinen Zeitschriften veröffentlicht hat; seine Filme bleiben, die bis in die achtziger Jahre in dem Kino in der rue d’Assas in Paris zu sehen waren, das sein Freund Gérard Lebovici dafür gekauft hatte. Seit Lebovicis unaufgeklärtem Tod werden Debords Filme nicht mehr gespielt.

Guy-Ernest Debord ist der Verfasser der Société du Spectacle (Die Gesellschaft des Spektakels) und hat auch einen gleichnamigen Film gedreht. Dieser Titel ist ein Schlagwort geworden. Es steht für die Lebensform ein, in der jeder getrennt eine unterhaltsame Scheinwelt erfährt. Ich kann die Erleuchtung durch Debords glasklare Prosa im ersten Kapitel nicht ersetzen oder nachahmen. Sein einzigartiger Stil soll mit dem der Memoiren des Kardinals von Retz verwandt sein.

Debords Position ist die eines Moralisten, der als Ziel die Zerstörung des Mediums verfolgt; seine Beschreibung unserer Gesellschaft ist nichtsdestoweniger akkurat und gerade deshalb trifft er bei dem selbsternannten „Mediologen“ Régis Debray auf Verachtung. Während jener für ein bewußtes unvermitteltes Leben kämpft, weiß dieser genau, wer ihn bezahlt und posaunt: „Ohne Vermittlung keine Gesellschaft“. Debord hat in dem Begriff des Spektakels den Punkt gefunden, an dem er die gegenwärtige Gesellschaft ausheben kann.

Guy-Ernest Debord ist der Mitbegründer der Situationistischen Internationale, der sie aufgelöst hat. Er war mit seiner unerbittlichen Bestimmung ihre tragende Persönlichkeit. Dieter Schrage hat in der letzten Nummer von ContextXXI genau beschrieben, daß Debord zuerst an der Lettristischen Internationale teilgenommen hat und wie sein stetes Ziel die Aufhebung der Kunst war. In dem Wettlauf um die Erneuerung und die Radikalisierung der Ausdrucksformen hat Debord mehrmals bewiesen, daß ein weiterer Schritt möglich war. Lange vor Marguerite Duras hat er einen Film gedreht, der nur noch aus abwechselnd weißen und schwarzen Abschnitten besteht: Hurlements en faveur de Sade (Gebrüll zugunsten von Sade).

Währenddessen die Kunst ein Abbild vom Leben und der Welt bietet, schlagen die Situationisten vor, aus dem Leben selbst ein Werk zu machen und die Welt als Schauplatz zu wählen. Die Großstadt wird in ganz besonderer Weise der Ursprung und der Ort der Gefühle und der Erlebnisse. Die Produkte der Industrie des Spektakels werden als solche wahrgenommen und im Spiel entlarvt.

Guy-Ernest Debord hat sich geweigert, aus der Aktion der Situationistischen Internationale eine Ideologie zu weben. Genauso wäre es treffend, nur von Epikurern und nie von Epikurismus zu sprechen. Es sollte sich um eine freundschaftliche Zusammenkunft von gleichgesinnten Einzelschicksalen handeln. Deshalb sollte sie auch keine politische Massenorganisation werden. In dem Moment, als trotzkistische und maoistische Gruppen in Frankreich sich in Debatten verhedderten, in deren Mittelpunkt nicht das Leben, sondern die Ideologie stand, löste sie sich auf.

Die gleichgesinnte Freundschaft, die Debord vorhatte, wird in den Verträgen offenbar, die ihn für die Produktion seiner Filme an Gérard Lebovici banden. Sie sind ein Modell für Rechtsunsicherheit und das Primat der zwischenmenschlichen Freiheit: Jede Klausel galt genau so lange, wie beide Rechtsparteien in ihrem jeweiligen Ziel volle Übereinkunft und Vertrauen hatten.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
September
2000
, Seite 26
Autor/inn/en:

Stefan Neuwirth:

Ist am Laboratoire de Mathématiques der Université Bourgogne Franche-Comté tätig, befasst sich unter anderem mit der griechischen Mathematik und mit der mathematischen Darstellung des Raums.

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