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Franz Schandl

Gesellschaftliches Marodieren

Ungeordnete Mosaiksteine eines Zerfalls

Was macht eine Gesellschaft, wenn sie an die Grenzen ihrer Entwicklung stößt? Unsere These lautet: Sie verfällt nicht in Wohlgefallen, sondern wird noch einmal all ihre destruktiven Kräfte entfalten. Jeder Niedergang setzt zerstörerische Energie frei, die alles andere als automatisch in Emanzipation umschlägt.

Marod meint hier nichts anderes, als, daß etwas noch existenzfähig ist, aber nicht mehr entwicklungsfähig, als Ganzes nicht mehr weiter weiß und kann, ohne daß es schon hinüber ist. Wo vieles marod ist, treten in den verschiedensten Bereichen Marodeure auf den Plan. Sie sind interessiert die noch bestehenden Vermögen (Werte, Stimmen, Leistungen etc.) mit geringfügiger Anstrengung in Besitz zu nehmen. Ein hohes Maß an Rücksichtslosigkeit bei der Verwirklichung ihrer Ziele ist dabei zu beobachten. Zeichen des Marodierens ist, daß es die gesellschaftlichen Destruktivkräfte gar nicht erst destruieren will, sich ihnen nicht nur anzupassen versteht, sondern diese unregelrecht betreibt. Sie nimmt hin, richtet sich ein, und nützt aus. Ihr Ideal ließe sich typisieren als ein absolut konstruktives Verhalten zur Destruktivität.

Eine Verbindung von Marodeuren zum Zweck des Marodierens nennt man Bande (gang, racket). Die Bande ist die praktische Inversion der Emanzipation. Bande kann somit stehen für postpolitische Gruppierungen, für Jugenbanden, für organisierte Kriminalität, aber auch für eine investigierende Journaille. Ihre Äußerungsformen sind vielfältig, was sie charakterisiert, ist das unmittelbare Hervortreten des informellen Cliquenwesen, das sie im Gegensatz zum Staat nicht mehr verstecken, sondern ungeniert ausleben will. Banden gemeinsam ist, daß sich im unmittelbaren Zugriff ihr Zweck erschöpft, auch wenn er sich stets wiederholen muß. In ihren Mitteln sind sie nicht wählerisch. Ihr Ziel unterscheidet sich nicht von der Etappe. Sie kennt Konsequenz, aber nicht Perspektive. Sie will nicht Macht, sie macht Beute.

Die Marodeure sind die letzten Profiteure der Beschleunigung kapitalistischen Treibens, das aber nicht mehr konventionell funktionieren kann. Selbst Getriebene, sind sie das blankeste Modell der Entrechlichung und Entreglementierung. Wenn der schlankeste Staat die Verbrecherbande ist, wie Gerhard Scheit meint, dann ist der diesbezügliche „Kriminelle“ das vollständig atomisierte und flexibilisierte Individuum, das freilich in seiner Ohnmacht eben nach der Bande schreit, um seiner Verlassenheit vom Staat – sei es der Nationalstaat, der Rechtsstaat, der Sozialstaat – zu entgehen.

Die Bande, obwohl Ausdruck des nationalen Zerfalls, ist aber nicht per se nationalistisch, auch wenn die Beweggründe, ihr teilhaftig zu werden, ähnlich gelagert sind. Bei der Bande wie beim Staat geht es darum, einer exklusiven Form der Verbindung anzugehören. Eine volksgemeinschaftliche Aufladung der Bande ist möglich, aber nicht zwingend. Wie stark sie sich nationalistisch oder rassistisch betätigt, ist nicht aus der Form ableitbar, sondern ergibt sich aus ihren spezifischen Bezügen zur Totalität. In bestimmten Situationen kann es so durchaus zu Bündnissen zwischen Bande und Staat kommen, können Banden in das Gemeinwesen als wesentlicher Bestandteil eingegliedert werden. Prototypen dafür wären Figuren wie Arkan und seine Tigertruppen in Serbien oder Kapetan Dragan in Kroatien. Diese Banden gerieren sich dann als Speerspitzen nationaler Selbstbestimmung, konsequent bis zum Greuel. Vor allem der gemeinkriminelle Hintergrund befähigt ihre Führer zu nationalen Heroen.

Klassisches Verbrechen

Die handfesten Zusammenhänge von bürgerlicher Vergesellschaftung und Kriminalität beschrieb Karl Marx einstmals so:

Ein Philosoph produziert Ideen, ein Poet Gedichte, ein Pastor Predigten, ein Professor Kompendien. Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letzten Produktionszweigs mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über Kriminalrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als ’Ware’ auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein.

Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiednen Gewerbszweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedne Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Tortur allein hat zu den sinnreichsten mechanischen Erfindungen Anlaß gegeben und in der Produktion ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerksleute beschäftigt.

Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen Gefühle des Publikums einen ’Dienst’. Er produziert nicht nur Kompendien über das Kriminalrecht, nicht nur Strafgesetzbücher, sondern auch Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien, wie nicht nur Müllners ’Schuld’ und Schillers ’Räuber’, sondern selbst ’Ödipus’ und ’Richard der Dritte’ beweisen.

Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn. Während das Verbrechen einen Teil der überzähligen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt entzieht und damit die Konkurrenz unter den Arbeitern vermindert, zu einem gewissen Punkt den Fall des Arbeitslohns unter das Minimum verhindert, absorbiert der Kampf gegen das Verbrechen einen andern Teil der Bevölkerung. Der Verbrecher tritt so als eine jener natürlichen „Ausgleichungen“ ein, die ein richtiges Niveau herstellen und eine ganze Perspektive „nützlicher“ Beschäftigungszweige auftun.

Bis ins Detail können die Einwirkungen des Verbrechers auf die Produktivkraft nachgewiesen werden. Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehn, wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung gediehn, gäbe es keine Falschmünzer? Hätte das Mikroskop seinen Weg in die gewöhnliche kommerzielle Sphäre gefunden ohne Betrug im Handel? Verdankt die praktische Chemie nicht ebensoviel der Warenfälschung und dem Bestreben, sie aufzudecken, als dem ehrlichen Produktionseifer? Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit ganz so produktiv wie Streiks auf Erfindung von Maschinen.

Und verläßt man die Sphäre des Privatverbrechens: Ohne nationale Verbrechen, wäre je der Weltmarkt entstanden? Ja, auch nur Nationen? [1]

New criminal

Für Marx war das Verbrechen eine zivilisatorische Beigabe, ein Treibmittel der Modernisierung, nicht ihr Hindernis. Heute fragt sich jedoch, ob das Verbrechen nicht eine neue Dimension beschreitet, es nicht mehr bloß Funktion, sondern Überfunktion geworden ist, nicht Zusatz, sondern immer mehr Substitut gesellschaftlicher Handlungsabläufe.

Unsere These ist nun, daß die Kriminalitäten neue Qualitäten annehmen. Bisher glich Kriminalität stets Strukturdefizite aus, ohne selbst strukturell bestimmend zu werden: Sie ist die von der Norm abweichende Abnorm, die ihr doch immer zugehörig ist. Sie verblieb meist am Rande des gesellschaftlichen Daseins, auch wenn sie mehr berührte, als man immer glauben will. Der Aspekt, den Marx noch als einen Stachel der Gesellschaft benennen konnte, der weitet sich nun aber aus, wird bestimmender, ergreift neue Bereiche. Das Verbrechen entwächst also seinem gesellschaftlichen Rahmen. Die Frage ist nur: Wohin entweicht es, wenn es eigentlich nicht entweichen kann?

Fundiertere Analysen dieser Entwicklung liegen bisher noch nicht vor. Eine gesellschaftskritische Theorie des Zerfalls bürgerlicher Gesellschaft gibt es nur in ersten Ansätzen. Die meisten Publikationen, die das rein Empirische überschreiten, beklagen entweder bloß die Gefahren für die Demokratie, die sie wiederum uneingeschränkt beschwören (z.B. Jean Ziegler), [2] oder sie applaudieren umgekehrt die Notwendigkeit der Mafia für den Aufstieg der Wirtschaft. Edward Luttwak, der am Zentrum für strategische und internationale Studien in New York arbeitet, schreibt in einem Artikel, der bezeichnenderweise den Titel „Hat die russische Mafia den Nobelpreis für Ökonomie verdient?“, [3] trägt, in bewundernswerter Naivität: „Die politische Bedrohung ist durchaus real, doch rein wirtschaftlich gesehen ist die Binsenweisheit ein großer Irrtum. Zunächst einmal übersieht sie die natürliche Evolution des kapitalistischen Tieres. Die fetten Kühe, die entwickelte Wirtschaftssysteme bevölkern – stabile, hochkapitalisierte Unternehmen, die gesicherte Arbeitsplätze bieten, in vollem Umfang ihre Steuern zahlen, in neue Anlagen investieren, neue Technologien entwickeln und für Wohlfahrtsverbände und Kultur spenden – waren solche nicht von Geburt an. Sie waren magere, hungrige Wölfe, als sie ursprünglich ihr Kapital akkumulierten, und zwar durch die Eroberung von profitablen Marktchancen, nicht selten durch Ausschaltung der Konkurrenten mit Mitteln, die die heutigen Kommissionen zur Monopolkontrolle nicht mehr tolerieren würden; und durch Kostensenkung auf jede nur erdenkliche Weise, einschließlich sämtlicher Tricks der Steuerhinterziehung, mit denen man irgendwie durchkam.“ [4] „Wären die jeweiligen Polizeikräfte effektiv genug gewesen, um die Hyänen zusammenzutreiben und einzusperren, so wäre die wirtschaftliche Erholung von Westdeutschland, Italien und Japan erheblich langsamer vonstatten gegangen, und viele der erfolgreichen Unternehmer der Fünfziger und Sechziger Jahre wären nie in der Lage gewesen sich überhaupt zu etablieren. All das trifft auch für die russische Wirtschaft zu.“ [5]

Luttwak denkt das Verbrechen also rein modernisierungstheoretisch, eben als nachholende Entwicklung, somit nicht als einen Aspekt des Zerfalls, sondern einen des Aufstiegs. Ähnlich äußert sich auch Viktor Timtschenko, der ein einschlägiges Buch über die russische Mafia und ihre Machenschaften verfaßt hat: „Was objektiv gut ist, kann subjektiv für den einzelnen schrecklich sein. Objektiv ist es für Rußlands Zukunft sicher gut, daß sich das Eigentum schnell und in großen Mengen in wenigen Händen konzentriert hat.“ [6] Was aber auch heißt: „Die Privatisierung, zumal eine hastige, ist geradezu eine Goldgrube für das Organisierte Verbrechen und bedeutet eine weitere Kriminalisierung des ohnehin im erheblichen Maße kriminellen russischen privaten Geschäftsbereichs.“ [7]

NOTO KOSOWAR 2.25

Sozialer Showdown

Der Staat sei keine Wärmestube, argumentieren die, die die soziale Kälte zum Programm erhoben haben. Wer sich nicht warm anziehen kann, soll erfrieren. Wenn in den Köpfen „Jeder ist seines Glückes Schmied“ als intransigente Leitlinie durchgesetzt ist, welche Pläne muß jener schmieden, dem das Glück des Marktes nicht hold ist? Die bürgerliche Psyche kann, von allerlei sozialstaatlichen und sozialistischen Illusionen gesäubert, nur in der Willkür ihr Gesetz erkennen. Was auch meint: Jeder ist seine beste Waffe! Jeder ist sein eigener Richter! Jeder kann Herr sein! Positiv denken! Bürgerliche Freiheit ist in ihrem Endstadium nicht anderes als das Faustrecht des Stärkeren. Sie ist die durchgesetzte Despotie des Marktes.

Die Bereitschaft zu „asozialem“ Handeln nimmt zu mit dem sozialen Verfall, der übrigens nicht als soziale Positionierung von Klassen gesehen werden darf. Es geht nicht um die Klassenzuordnung, sondern um die Deklassierung, was meint, daß die Menschen aus ihren Strukturen herausfallen, z.B. die Arbeit verlieren, aber Arbeitsmonaden bleiben, kein Geld haben, aber Geldsubjekte sein müssen. Schon der Gedanke daran versetzt sie in Angst und Schrecken, die sie nun wiederum weiterreichen wollen. Die Deklassierung betrifft nicht nur das sogenannte Proletariat, sie ist allumfassend, auch wenn bestimmte Gruppen (z.B. staatliche Bürokratien im Westen) sich bisher noch besser abschotten konnten als andere. Was nun in Zeiten galoppierender Globalisierung blüht, das ist der marktwirtschaftliche Kannibalismus:

Jeder gegen jeden!

Vor allem der soziale Showdown erweist sich – vorerst im Osten, bald vielleicht auch im Westen – als Verstärker krimineller Energie. Die allgemeine Gewaltbereitschaft nimmt zu, wo die politischen, sozialen und rechtsstaatlichen Mechanismen versagen. Diese Gewaltbereitschaft ist nicht umstürzlerisch, sie trägt usurpatorischen Charakter. Geld und Wert will sie sich nicht mehr bloß über Geschäft und Vertrag realisieren, sondern auch, ja oft primär durch die Beute. Der Übergriff bedarf keiner besonderen Legitimation. Er ist ein einfaches Zulangen.

Über den Zerfall der Staatsmacht im ehemaligen Ostblock schreibt Ernst Lohoff in seiner eben wieder äußerst aktuell gewordenen Studie über Jugoslawien: „Wenn die Staatsbediensteten mit keinem nennenswerten Einkommen aus Steuermittlen mehr rechnen können, sind sie darauf angewiesen, ihr Auskommen aus anderen Quellen zu sichern. Sie stehen vor der Wahl, ihre bisherige Funktion als Nebenbeschäftigung weiter brav zu erfüllen, aus dem gänzlich unbezahlten Dienst auszuscheiden oder die ihnen zugefallene Position zur irregulären Bereicherung auszunutzen. Aus dem idealiter symbiotischen Verhältnis zur Gesellschaft entlassen, nach wie vor aber mit hoheitlichen Rechten und den damit verbundenen Durchsetzungsmöglichkeiten ausgestattet, liegt es für Teile der staatlichen Apparate nahe, zur Plünderung der Gesellschaft überzugehen. Dieser Raubzug nimmt zum einen die vertraute Form von individueller oder weitmaschig organisierter Korruption und Bestechlichkeit an. In den Ländern der Dritten Welt, wo die Installation von Staatlichkeit zumeist nie mehr als ansatzweise gelang, spielten derartige Phänomene immer eine große Rolle. Mit der strukturellen Krise von Verwertung und Staatlichkeit verallgemeinert sie sich weltweit.“ [8]

NOTO KOSOWAR 1.0

Fair is foul, and foul is fair

Eine Zuspitzung marktwirtschaftlicher Täuschung ist die Fälschung. Zurecht spricht man heute von einer regelrechten Konjunktur derselben. Wir unterscheiden hier zwischen Warenfälschung, Geldfälschung und Optionenfälschung (z.B. das Pyramidenspiel). Erstere und vor allem letztere wollen wir kurz vorstellen.

Ziel der Warenfälschung ist nichts anderes als die doppelte Simulation. Simuliert die Marke ein besseres Produkt, so simuliert die Fälschung den Markennamen. Ziel ist der schnelle Gewinn. Es geht darum, abzucashen. Die Fälschung ist nur die logische Konsequenz von Tausch und Werbung. Sie tut auf einer verbotenen Ebene etwas, was diese legal aufführen. Wobei die Gebrauchswertseite des stofflichen Produkts gar nicht schlechter sein muß als seine Vorlage, wenngleich die Fälschung der Marke zumeist auch mit der Fälschung des Gebrauchswerts einhergehen kann. Das Imitat macht seinen Werbenachteil dadurch wett, daß es kaltschnäuzig einen falschen Titel behauptet (z.B. der russische Wodka, wie er in diversen tschechischen Grenzgeschäften den Touris als Original zur Originalpreisen verkauft wird).

Besonders perfid ist das Pyramidenspiel, das Spekulationsgeschäft für den „kleinen Mann“. Die Geschichte russischer Pyramiden beschreibt Timtschenko so: „Die ersten wenigen Anleger bekamen in Rußland ihre Zinsen von dem Geld ausbezahlt, das die zweite Welle der Anleger einbrachte. Die ersten Anleger erzählten nun ihren Arbeitskollegen von dem Wunder, die wiederum kamen nach Hause und überraschten ihre Familien: ’Im Kapitalismus liegt das Geld auf der Straße. Man muß nur mutig und risikobereit sein. (...) Morgen gehe ich auch hin.’ Morgens standen vor den Wechselstuben Schlangen von Menschen, die gutes russisches Geld gegen Schuldverschreibungen eintauschten. Ein weiterer Monat verging. Auch die zweite Welle der Anleger bekam ihr Geld. Die großzügigen Trusts zahlten und zahlten, Zinsen und Zinseszinsen, 20, 30, 40 Prozent monatlich! Heiliger Himmel, können Sie sich eine Rendite von 500 Prozent jährlich vorstellen? Könnten Sie sich zügeln, wenn Sie aus einem Dollar am Ende des Jahres fünf gewönnen? Der Ansturm auf die Wechselbuden war so groß, daß die Leute die ganze Nacht anstanden, um das Geld abzugeben.“ [9] Die dritte Welle (geschweige denn nachfolgende) hat keinen Heller mehr davon gesehen.

NOTO KOSOWAR 2.7

Das Pyramidenspiel braucht zweifellos ausgewachsene Obskuranten als Kunden und Opfer. Doch wenn der kleine Mann vom großen Geschäft träumt, ist es mit der Rationalität seiner Entscheidung nicht mehr weit her. „Allen ist inzwischen klar, daß es so nicht weitergehen kann. Alle haben längst begriffen, daß es am Ende ein böses Erwachen geben wird. Alle wissen, daß man solche ausgezahlte Renditen nicht erwirtschaften kann, daß das Geschäft also irgendwie anders läuft, nicht ganz legal, nicht ganz nach marktwirtschaftlichen, sondern nach anderen Prinzipien. Aber keiner will glauben, daß es ihn trifft.“ [10]

Aber auch das Pyramidenspiel ist nicht so antimarktwirtschaftlich, wie es Timtschenko erscheint: Was unterscheidet es substantiell von der obligaten Spekulation, außer daß es in schlecht beleumundeten Pseudofirmen denn an hochangesehenen Börsen stattfindet? Und gibt es nicht auch hierzulande genug legale Pyramidenspiele, etwa bei der Verteilung und dem Verkauf bestimmter Produkte, wo hauptsächlich US-amerikanische Firmen nach einem Schneeballsystem Leute (abseits aller sozialrechtlichen Standards) als kleine Distributionsagenten ködern, deren Erfolg davon abhängig ist, wieviel Noch-Dümmere sie hinter sich scharen können?

Die Perversion des kapitalistischen Geschäftes mag zwar an der Pyramide überdeutlich sein, aber seien wir sicher: auch diese Perversion ist eine Version! Die Pyramide jedenfalls paßt ganz ausgezeichnet zur allgemeinen Simulation des Geldes. Daß jene ausgerechnet in Albanien und Rußland ihre wildesten Orgien feierte, ist nicht darauf zurückzuführen, daß die Albaner und Russen blöder sind als andere, sondern daß das kapitalistische System dort als nichtfunktionierende Form ihre verrücktesten Verrücktheiten ausspielen muß. Im konkreten Fall erlaubt sie es den Geldsimulanten, ihre Opfer wahrlich von der Straße weg einzufangen. Diese Bauernfängerei ist ein Raubzug par excellence. Es ist geradezu der Aberglauben an die großen Kräfte des Marktes, der diese Menschen direkt in den Obskurantismus führt. Wer auf solches reinfällt, der ist freilich vor nichts mehr gefeit.

Der praktizierte Obskurantismus blüht an allen Ecken und Enden, er ist nicht einmal nach seiner Niederlage vor ähnlichem gefeit. Sogar einige Moskauer Rettungsgesellschaften zur Rückgewinnung des verlorenen Geldes waren oft von der selben Mafia organisiert. [11] Ja, die Geschädigten demonstrierten sogleich gegen Jelzin, forderten von ihm ihr Geld. Ähnliche Obskurantenbewegungen kennen wir übrigens auch in Österreich, etwa dann wenn dubiose (?) Banken zusammenbrechen, und Großanleger um ihr Geld fürchten. Dann pilgern die marktgeilen „Staatsfeinde“ zum Staat und fordern lauthals die Abdeckung des verlorenen Salärs.

NOTO KOSOWAR 2.1

Werteverfall als Verfall des Werts

Mit dem Verfall des Werts verfallen auch Geschäft und Vertrag. Das ist genau das, was man heute als Mangel an Handschlagqualität (und nicht nur in der Wirtschaft), beschreibt. Die Moral jedoch, sie muß einfach zerbröseln, da sie in vielen Fällen einfach nicht leistbar ist. Ein obligater Betrieb, der eben Brötchen bäckt, Kleider näht, Ziegel herstellt – und diese anschließend verkauft, ist nicht ob seiner Vorhandenheit und Brauchbarkeit marktfähig, er muß da schon bestimmte Extras erfüllen. Nur entsprechendes Marketing führt zur Marktfähigkeit. Die (ohnehin falsche) Idylle friedlicher kleiner Kapitalien, die ist endgültig dahin, und es gibt zu ihr auch keinen Weg zurück. Man muß sich also etwas Besonderes einfallen lassen, um reuissieren zu können. Marke, Nische, Werbung werden immer unverzichtbarer.

Aber manchmal reichen nicht einmal sie mehr aus, sich geschäftsfähig zu erhalten. Was dann meint, daß sie oftmals durch kriminelle Energie (und die beginnt bei der offiziell tolerierten Steuerhinterziehung) ergänzt oder gar ersetzt werden müssen. Was aber als besondere Gier an der Oberfläche erscheint, ist Ausdruck basaler Drangsalierung der Geschäftssubjekte. Die Geschäftstüchtigkeit muß stets stärker zur Abzockermentalität tendieren, für den ehrlichen Makler ist in einer Welt andauernder Fiktionalisierung wenig Platz. Obligate Geschäfte rechnen sich immer weniger. Selbst die großen Gewinne von Produktionsbetrieben werden zunehmend am Geldmarkt und nicht am Warenmarkt erfochten.

Was droht, ist nicht, daß wir hinter den Rechtsstaat zurückfallen, sondern daß wir über ihn hinausfallen, eben weil einerseits eine synthetische Überwindung nicht im Bereich der Möglichkeit ist, und andererseits seine Aufrechterhaltung auf immer größere Schwierigkeiten stößt.

Vom Gewaltmonopol zu den Gewaltpolen

Beruht Schmiergeld noch auf Freiwilligkeit, so ist Schutzgeld stets an einen faktischen Zwang gebunden. Dominiert beim Schmiergeld noch der Käufer (der Leistung, der Ware, der Option), so ist das beim Schutzgeld nicht mehr der Fall, hier steckt der Verkäufer, der auch ein gemeiner Erpresser sein kann, die Bedingungen ab. Ist das Schmiergeld primär als konventionelle Konditionsverbesserung gedacht, die keineswegs erzwungen wird, so ist das Schutzgeld eine Funktionsbedingung der Transaktion. Schmiergeld meint also Zusatz, Schutzgeld hingegen Ersatz.

Schutzgeld bedeutet aber auch die Privatisierung von Steuer und Sozialleistung. Anstatt des Steuermonopols haben wir nun Steuerpole, anstatt des Gewaltmonopols Gewaltpole. Anders als zum Staat, dem man ganz einfach via Staatsbürgerschaft zugehörig ist, kann man in diesem Pluralismus der Pole durchaus „freiere“ Entscheidungen der Hörigkeit treffen. Angebot und Nachfrage werden jedoch nicht nur vom Geld, sondern auch durch die brachiale Gewalt gemaßregelt. "In Rußland ist unter Geschäftsleuten die grammatisch etwas zweifelhafte Frage üblich: ’Unter wem stehst du?’ oder ’Wer ist dein Dach?’. [12] Wo das Staatsdach undicht ist, muß unter anderen Dächern Unterschlupf gefunden werden.

Die Bande als Gewaltpol kann intern nach Regeln funktionieren, die durchaus wieder an seinen großen Bruder, das Gewaltmonopol erinnern. „Der Dieb muß ehrlich gegenüber anderen Dieben sein und darf alles tun, um die Autorität der Diebesgemeinschaft zu festigen. In den Freiheitsentzugsanstalten sollen die zur Gruppe gehörenden Diebe auf Ordnung im Sinne der Diebe achten.“ [13] Die Bande oder der Clan ist nicht nur der Nucleus des Staates, sondern auch sein verschlanktes und abgemagertes Ende. Wie andere Staatstätigkeiten, können auch spezifische Momente der Gewalt ausgelagert werden. Die Gewalt des Staates verschwindet deswegen aber keineswegs, sie konzentriert sich bloß auf bestimmte repressive Ressorts, deren Regelung aktuell kaum im Interesse der Privatisierung sein können (Grenzschutz, Fremdenpolizei, Extremistenverfolgung etc.). Der Reststaat selbst wird ein segmentierter Gewaltpol unter vielen, der eben spezifische Aufgaben wahrzunehmen hat.

Vergessen wir aber auch umgekehrt folgendes nicht: die Bereitschaft beim herkömmlichen Gewaltmonopol mitzuspielen, die ist nicht nur repressiv erzwungen und ideologisch durchgesetzt, sie ist auch banal erkauft. Sozialleistungen sind staatliche Schutzgelder nicht nur zum Schutz der Bürger, sondern auch zum Schutz vor den Bürgern.

Der Faktor der Wirtschaftskriminalität, die von der üblichen Steuerhinterziehung bis zum großflächigen Wirtschaftskomplott reicht, wird dann zunehmen, wenn der Geschäftsverlauf immer weniger die notwendige Kapitalbildung einzelner Kapitale durch eine vom Wertgesetz bestimmte Akkumulation garantieren kann. Nimmt deren Verwertungskompetenz tendenziell ab, dann können sie auf dem Markt nur überleben, wenn sie aus Geldern gespeist werden, die nicht aus der unmittelbaren Akkumulation entspringen.

Die zivilisierte Form ist der Zuruf des Marktes an den Staat gewesen, stets mit der Forderung verbunden, den Kräften des Marktes doch mit Staatsknete zum Durchbruch zu verhelfen. Argumente dafür (Standort, Arbeitsplätze) finden sich inzwischen freilich mehr als die notwendigen Gelder. Die barbarisierte Form ist die Rettung des Geschäfts ohne Geschäftsgrundlage, durch Ausweitung der obligaten Geschäftspraxen, was meint: illegale Deals, Zugriffe auf fremdes Eigentum, ja bis hin zu elementaren Verbrechen. Als Faustregel der sekundären Barbarisierung mag gelten (und dasselbe gilt auch für Recht, Politik, Demokratie, Freiheit etc.): Verliert der Wert an Gewalt, gewinnt die Gewalt an Wert.

Literaturtip

Viktor Timtschenko, Rußland nach Jelzin. Die Entwicklung einer kriminellen Supermacht, Rasch und Röhring; Hamburg 1998.
Brauchbar als erster Einstieg, wenn auch analytisch äußerst dürftig, und in seiner Stoßrichtung selbstverständlich bedenklich.

[1Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW, Bd. 26.1, S. 365-366.

[2Jean Ziegler, Die Barbaren kommen. Kapitalismus und organisiertes Verbrechen, Müchen 1998.

[3Edward Luttwak, Hat die russische Mafia den Nobelpreis für Ökonomie verdient?, Freibeuter 67, März 1996, S. 47-54.

[4Ebenda, S. 48.

[5Ebenda, S. 49.

[6Viktor Timtschenko, Rußland nach Jelzin. Die Entwicklung einer kriminellen Supermacht, Hamburg 1998, S. 80.

[7Ebenda, S. 88.

[8Ernst Lohoff, Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg. Jugoslawien und das Ende der nachholenden Modernisierung, Unkel/Rhein-Bad Honnef 1996, S. 163.

[9Viktor Timtschenko, Rußland nach Jelzin, S. 90.

[10Ebenda, S. 91.

[11Ebenda, S. 103.

[12Ebenda, S. 118.

[13Ebenda, S. 72.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
März
1999
, Seite 26
Autor/inn/en:

Franz Schandl:

Geboren 1960 in Eberweis/Niederösterreich. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Wien. Lebt dortselbst als Historiker und Publizist und verdient seine Brötchen als Journalist wider Willen. Redakteur der Zeitschrift Streifzüge. Diverse Veröffentlichungen, gem. mit Gerhard Schattauer Verfasser der Studie „Die Grünen in Österreich. Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft“, Wien 1996. Aktuell: Nikolaus Dimmel/Karl A. Immervoll/Franz Schandl (Hg.), „Sinnvoll tätig sein, Wirkungen eines Grundeinkommens“, Wien 2019.

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