MOZ » Jahrgang 1990 » Nummer 52
André Gunder Frank • Horst Friessner (Übersetzung)
West-Ost-Süd: Die Erde ist rund

Galoppierender Kapitalismus

Gescheitert ist der Osten letztlich an seiner Unfähigkeit, mit dem Weltmarkt konkurrieren zu können. Statt einem wirtschaftlichen Aufbruch steht allerdings ein Desaster ins Haus.

Das entscheidende Manko des real existierenden (Non-)Sozialismus in Osteuropa war sein Unvermögen, mit dem Westen wirtschaftlich erfolgreich zu konkurrieren. Man weiß, daß die Zentralverwaltungswirtschaften in den 60er und 70er Jahren durch ihr forciertes absolutes Wirtschaftswachstum relativ erfolgreich waren. Sie erreichten mittels einer Mobilisierung des Inputs einen größeren Output — von Wurstfüllmaschinen, wenn schon nicht von Wurst. Die Schwerindustrie und in manchen Ländern eine in großem Maßstab industrialisierte Landwirtschaft erlebte eine Hochkonjunktur. Gesellschaftliche, jedoch nicht individuelle Dienstleistungen wurden angeboten und garantiert. Es wurde gleichermaßen offensichtlich, daß diese inflexiblen Wirtschaften nicht in der Lage waren, ein intensives Wirtschaftswachstum zu ermöglichen, d.h. die Produktivität der Wurstfüllmaschinen zu steigern und mit reduziertem Input einen größeren und variantenreicheren Output zu produzieren. Exakt während der jüngsten technologischen Revolution und insbesondere dem Siegeszug des Computers im Westen — und auch in den ostasiatischen Schwellenländern — konnten die Zentralverwaltungswirtschaften der Sowjetunion und Osteuropas nicht mehr Schritt halten. Im Gegenteil — sie verloren absolut und relativ an Terrain.

Hier lag der entscheidende Ausgangspunkt der sozialen Bewegungen und Revolutionen. Überdies hat es sich erwiesen, daß der ‚Sozialismus‘ als ökonomischer ‚Versager‘ dem Nationalismus nicht gewachsen ist. Der Nationalismus in Jugoslawien, Ungarn und vor allem Polen sowie jetzt auch gepaart mit ethnischen Strömungen im Baltikum, im Transkaukasus, in Zentralasien, der Ukraine und anderswo in Osteuropa stellt die politisch-ökonomische Ordnung in Frage und fordert demokratische Selbstbestimmung. Ohne den ökonomischen Mißerfolg wäre es weder zu diesen sozialen und nationalistischen Bewegungen, noch zu diesen Forderungen nach Demokratie und am wenigsten zu diesem Schritt in Richtung marktwirtschaftlicher Ökonomie gekommen.

Polen, Bolivien, Birma ...

Unsere Observation der Ereignisse in Osteuropa macht jedoch auch einen vergleichbaren Blick auf die Situation in anderen Teilen der Welt erforderlich. Es ist in diesem Zusammenhang beachtenswert, daß Volkswirtschaften in ganz Afrika, in den meisten Ländern Lateinamerikas und in Teilen Asiens in jüngster Zeit vom selben Wettbewerbsdesaster heimgesucht wurden, was sich in einem verheerenden, absoluten Sinken des Lebensstandards und in einer relativen Marginalisierung im Rahmen der Weltwirtschaft niederschlägt. Für viele dieser Länder war die Entwicklung gravierender als für die meisten Volkswirtschaften in Osteuropa. Wahrscheinlich führen Polen, Rumänien, Bolivien, Argentinien, vielleicht Birma und viele Staaten Afrikas die traurige Liste der Länder mit dem größten Konjunkturverfall an. Soziale Bewegungen haben sich auch in vielen Ländern außerhalb Europas entwickelt, jedoch in keinem mit ähnlich spektakulärem Erfolg oder auch nur ähnlich weitreichenden Zielen.

Der dramatische Prozeß einer Demokratisierung in Argentinien z.B., war weit weniger das Ergebnis der Aktivitäten der Menschenrechtsbewegung der Madres de la Plaza de Mayo als vielmehr die Niederlage der argentinischen Militärstreitkräfte gegen England (das auf die militärische Unterstützung der USA und auf die politische Unterstützung des gesamten Westens bauen konnte). In Birma wurde die soziale Bewegung mit Gewalt unterdrückt. Mehr oder weniger war das auch in vielen anderen Ländern so, von Chile über Mexiko, Jamaika, Gabun bis zu Sri Lanka. Wenn eine soziale Bewegung in einem dieser Länder über die Sprengkraft der Bewegungen in Osteuropa verfügt hätte, wäre sie in Blut erstickt worden.

Von ähnlicher Wichtigkeit ist die Tatsache, daß es in keinem dieser Länder der südlichen Hemisphäre einen ernstzunehmenden Versuch gegeben hat, das offensichtlich in wirtschaftlicher Hinsicht versagende System durch ein anderes, radikal unterschiedliches einzutauschen, geschweige denn, daß es irgendwo dazu gekommen wäre, den versagenden Kapitalismus durch eine Form von Sozialismus zu ersetzen. Im Gegenteil, in Begriffen der Wirtschaftsorganisation ausgedrückt, hat es überall eine eindeutige Hinwendung zur Marktwirtschaft (‚Privatisierung‘) gegeben.

Das Versagen des Sozialismus in Osteuropa wird diesen Prozeß noch beschleunigen, ohne Rücksicht auf die sozialen Kosten, die ein „galoppierender Kapitalismus“ in einem bestimmten Land schon verursacht haben mag. Keine der neuen demokratischen Regierungen in Lateinamerika trägt sich mit der Absicht, an einer neuen Formel des „exportinduzierten Wachstums“ zu arbeiten oder gar zu dieser Strategie zurückzukehren (sei es, daß es sich um ein absolutes Wachstum wie in Chile oder um einen absoluten Niedergang wie in Argentinien handelt).
Im Gegenteil, die demokratische Öffnung selbst ist durch repressive ökonomische Maßnahmen bedroht, die die demokratischen Regierungen — nicht zuletzt durch die Intervention des Weltwährungsfonds — ihren Bevölkerungen auferlegen müssen.

Die einzige bemerkenswerte Ausnahme zu all diesen Erfahrungen gab es im Iran: Dort zerfiel das bis an die Zähne bewaffnete Regime des Schah, als dessen Winterpalais von einer unbewaffneten Menge gestürmt wurde. Angeführt wurde diese Bewegung vom exilierten fundamentalistisch-religiösen Führer Khomeini, der im Triumph zurückkehrte und die religiös bestimmte soziale Bewegung in Richtung eines theokratischen schiitisch-islamischen Staates lenkte. Dieser sagte sich gleichermaßen von beiden politischen Lagern los und denunzierte deren Führungsmächte als sowjetkommunistische bzw. US-imperialistische Satane.

Es kann also gesagt werden, daß das Versagen von sozialistischen, aber auch von vielen kapitalistischen und gemischten Volkswirtschaften vor allem auf ihre Unfähigkeit zurückzuführen ist, sich in wirtschaftlicher Konkurrenz auf dem Weltmarkt zu behaupten. Das war natürlich immer so; denn es liegt in der ‚Natur‘ eines Wettrennens, daß es nur einen oder einige wenige Sieger geben kann und die große Masse der Teilnehmer zu den Geschlagenen gehört. Dieser Prozeß der Selektion funktioniert weitgehend unabhängig vom ‚System‘, mit dem die Teilnehmer im Wettkampf stehen: letzteres verkörpert im besten Fall einen zusätzlichen Faktor bei der unvermeidlichen Selektion von Gewinnern und Verlierern. Daher ist das wirtschaftliche Versagen des ‚Sozialismus‘ per se relativ, sowohl in Bezug auf den Erfolg als auch auf den Mißerfolg des ‚Kapitalismus‘. Der Austausch eines ‚Systems‘ durch ein anderes ist keine Garantie für ein besseres Abschneiden einer Volkswirtschaft im Konkurrenzkampf; die Mehrheit wird sich zwangsläufig unter den Verlierern wiederfinden.

Backlash im Osten

Das Abwenden der osteuropäischen Volkswirtschaften vom Sozialismus und ihre Entscheidung für eine stärkere Integration in den Wettbewerb des Weltmarktes erfolgt unmittelbar nach ihrem wirtschaftlichen Versagen und in einem Zustand zunehmender wirtschaftlicher Schwäche. Diese Länder stellen daher in ökonomischer und politischer Hinsicht eine potentielle Gefahrenzone dar.

Die Wirtschaftskrise in Osteuropa und der Sowjetunion wird sich mit größter Wahrscheinlichkeit kurzfristig weiter verschärfen. Sowohl die sich vertiefende Krise als auch die Folgen der Entscheidung für die Marktwirtschaft werden zu einer noch größeren Knappheit, neuer Arbeitslosigkeit, einer schleichenden Inflation und der Demontage des Wohlfahrtsstaates führen. All das und besonders letzteres geht zu Lasten der Frauen und ihrer Kinder.

In der Sowjetunion war Gorbatschow (von Abel Abegajan) schlecht beraten, gleichzeitig eine Umstrukturierung der Wirtschaft (Perestroika) und ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum zu forcieren. Das Resultat war ein wirtschaftliches (und politisches) Desaster; da eine Umstrukturierung das Wirtschaftswachstum kurzfristig hemmt, anstatt es zu beschleunigen, brachte der gleichzeitige Versuch, die Wirtschaft anzukurbeln, zusätzlich Sand ins Getriebe.

In Osteuropa wird sich durch die wirtschaftliche Umstrukturierung eine vorübergehende ökonomische Konfusion nicht vermeiden lassen. Absolut am schlimmsten wird dieser Zustand in Polen, im Süden und Osten von Jugoslawien und in der Sowjetunion sein, da die Volkswirtschaften dort am geschwächtesten sind. Auch Rumänien ist geschwächt, vor allem durch Ceausescus Strategie, alles zu exportieren, um Schulden bezahlen zu können. Der DDR steht ein unmittelbarer Ausverkauf an die Bundesrepublik ins Haus. Allerdings hat die DDR, die durch ihren privilegierten Zugang zum westdeutschen Markt über lange Zeit de facto ein stilles Mitglied der EG gewesen ist, die besten und frühesten Aussichten auf eine volle Integration in den gemeinsamen Markt. Die Schwäche des DDR-Staates, seine schwache Position in einer möglichen Konföderation mit dem oder sogar Integration in den westdeutschen Staat, wird jedoch der DDR auch in der EG und Europa nicht viel politischwirtschaftlichen Verhandlungsspielraum lassen. Die Verhandlungspositionen der Tschechoslowakei und Ungarns sind da wahrscheinlich besser, und das wird (Teilen) ihrer Bevölkerung mehr Vorteile bringen.

Wahrscheinlich ist jedoch, daß der erste Integrationsschritt all dieser Länder im Ausverkauf osteuropäischer ertragbringender Aktiva an westeuropäische und andere Firmen bestehen wird, denn wo gibt es in Osteuropa jemanden, der in der Lage wäre, mit Aussicht auf Erfolg bei den Privatisierungen mitzubieten?

Korruption und Privilegienwirtschaft, die sich unter der kommunistischen Parteiherrschaft breitgemacht hatten, können allenfalls zu einem großen Teil, jedoch nicht gänzlich abgeschafft werden. Der Einstieg in die Marktwirtschaft und die Privatisierungen wird eine neue, mehr oder weniger automatische ökonomische und soziale Polarisierung nach sich ziehen, was Einkommen und gesellschaftliche Position betrifft. Davon werden die Geschlechter, die Klassen, Regionen und ethnische Gruppen betroffen sein. Eine Minderheit wird — bei vorerst zu erwartender Ebbe und darauffolgender Flut — an die Oberfläche schwimmen, die Mehrheit wird dagegen noch weiter absinken. Es ist wahrscheinlich, daß die Polarisierung fortschreiten wird, sei es ethnisch, national oder international.

Es ist damit zu rechnen, daß bezüglich ihrer Wettbewerbsfähigkeit jetzt schon privilegierte Regionen und Völker ihre Positionen weiter verbessern werden, vielleicht durch engere wirtschaftliche und politische Beziehungen oder sogar durch Integration mit ihren Nachbarn im Westen und Norden. Und genau so wahrscheinlich werden unterprivilegierte Minoritäten in diesen Ländern und unterprivilegierte Majoritäten anderswo zunehmend marginalisiert werden. Der Traum, sich Westeuropa anzuschliessen, mag damit für einige wenige Realität werden. Im günstigsten Fall wird es dazu kommen, daß sich Teile Osteuropas zu einem neuen Südeuropa entwickeln, wiewohl dann beiden eine Situation ins Haus steht, in der sie sich gegenseitig konkurrieren müssen, was in Südeuropa bereits entsprechende Ängste wach werden ließ. Die Mehrheit der osteuropäischen Länder jedoch, und vielleicht auch die südöstlichsten Teile der Sowjetunion, sind dagegen von einer Lateinamerikanisierung bedroht, der jetzt schon Polen anheimgefallen ist.

Den osteuropäischen Ländern steht eine Binneninflation, eine Währungsinflation und eine Währungsreform als Schockbehandlung bevor. Die sozialen Kosten sind ihnen gewiß, nicht jedoch der wirtschaftliche Erfolg, wie wiederholte Fehlschläge in Argentinien und jüngst in Brasilien gezeigt haben. Einige Gebiet, besonders in der Sowjetunion, sind ernsthaft von einer ökonomischen Afrikanisierung oder zumindest ‚Nahostisierung‘ und einer politischen Libanisierung bedroht. Auf kurze Sicht wird dieser Zerfall der „Zweiten Welt“ es einigen ihrer Mitglieder erlauben, sich der „Ersten“, kapitalistischen Welt anzuschließen, die meisten aber erwartet eine Relegierung in die (ebenfalls kapitalistische) „Dritte“ Welt.

Zukunft ohne Sozialismus

Kann man für die Zukunft also noch eine neue Spielart des Sozialismus erwarten?
Und wie würde eine solche aussehen? Zumindest von Menschen, die sich als Sozialisten bezeichnen, wird oft die Frage gestellt, ob die Sowjetunion und Osteuropa (oder irgend ein anderes Land) überhaupt je ‚sozialistisch‘ gewesen sind. Da die Antwort darauf ein deutliches Nein ist, argumentieren sie auch, daß das Versagen des „real existierenden Sozialismus“, das schließlich zu den Revolutionen von 1989 führte, nicht das eines tatsächlichen ‚Sozialismus‘ war, sondern eines ‚Stalinismus‘ oder einer anderen Form der Verirrung eines ‚wahren Sozialismus‘. Die ideologische Implikation dieses Arguments besteht natürlich darin, daß dieses Versagen die Sache des wahren Sozialismus nicht kompromittiert hat und es wahre Sozialisten daher nicht nötig hätten, eine qualvolle Neubewertung vorzunehmen. Es genügt, wenn sie — jetzt erst recht — auf ihre eigene Kritik des real existierenden (Non-) Sozialismus hinweisen und sich (= die Guten) dabei von ihnen (= den Bösen) abgrenzen. Praktisch impliziert eine derartige ‚Theorie‘, daß man entgegen jeglicher Erfahrung nur um die Ecke zu gehen bräuchte, um den wahren Sozialismus vorzufinden oder daß dieser zumindest noch auf dem Weg vor uns liege.

Allerdings widersprechen sowohl die Durchführbarkeit als auch die theoretische Kohärenz dieses gutgemeinten Arguments jeder sozio-politisch-ökonomischen Realität der Welt. Zunächst: wenn es jemals ein Argument gegeben hat, das ausschließlich die bereits (Selbst-) Konvertierten anspricht, dann ist es dieses. Es ist ziemlich unvorstellbar, daß es jene, die bereits Erfahrung im „real existierenden“ Sozialismus gemacht haben, überzeugen könnte. Diejenigen unter ihnen, die jetzt dabei sind, den real existierenden (Non-) Sozialismus zu verwerfen, werden wahrscheinlich auch in Zukunft jeden potentiellen ‚wahren‘ Sozialismus ablehnen. Höchstwahrscheinlich wird die Zauberformel der Marktwirtschaft viele von ihnen in ihren Bann ziehen und einige werden sich bedauerlicherweise wohl am äußersten rechten Rand im politischen Spektrum ansiedeln. Andererseits werden jene, denen es in der Vergangenheit nicht schlecht ging, sich nach der ‚guten alten Zeit‘ sehnen, in der die Ordnung und Stabilität der alten (non-) sozialistischen Regierung geherrscht haben.

Diejenigen unter ihnen, die nicht viel ihr eigen nannten und jetzt auch das noch verlieren, werden beim Gedanken an die bessere Vergangenheit nach einer neuen Ordnung rufen, und wenn das keine der alten ‚kommunistischen‘ Spielart sein soll, dann vielleicht eine neue unter ‚faschistischen‘ Auspizien.

Zweitens liegt die objektive Konsequenz eines solchen Arguments — mag die subjektive Intention noch so antistalinistisch sein — in einem Beharren auf der stalinistischen Theorie des „Sozialismus in einem Land“ (oder sogar einer noch kleineren Gemeinschaft). Abgesehen davon, daß dieses Problem und das des Übergangs zu diesem Sozialismus in Theorie und Praxis einfach übergangen wird, schlägt sich das Argument mit der Realität des unumgänglichen, weltweiten Wettbewerbs. Aber gerade in jenem Unvermögen lag das fundamentale Versagen des stalinistischen (oder wie immer) Sozialismus begründet. Welche politisch-ökonomische Organisationsform ein Volk ‚wählen‘ mag, dem Zwang zum weltweiten Konkurrenzkampf — der eine Lebenstatsache ist — wird es nicht entkommen. Kooperation als ‚Alternative‘ ist gut — wenn man damit stärker konkurrenzfähig bleiben kann.

Drittens ist die (einzige?) alternative Interpretation von ‚realem‘ Sozialismus ‚Welt‘-Sozialismus. Abgesehen davon, daß ein solcher in einer absehbaren Zukunft nicht realisierbar sein wird, fällt es schwer, sich vorzustellen, was genau ein solcher ‚Sozialismus‘ bedeuten soll. Was würde einen solchen ‚Weltsozialismus‘ von einem ‚Weltkapitalismus‘ unterscheiden, solange Wettbewerb als Lebenstatsache wie schon in den vergangenen Jahrtausenden — auch in der Zukunft die Welt regieren wird?

„Das wäre eine gute Idee“

Und wie wäre es mit einer Sozialdemokratie, wenn schon nicht einem demokratischen Sozialismus? ‚Sozialisten‘ in West und Ost, einschließlich Michael Gorbatschow, zeigen eine neue Wertschätzung und ein neues Interesse für die Sozialdemokratie, die am besten ‚Sozialismus‘ und ‚Demokratie‘ verbinden würde. Sie haben ihre Blicke nach Schweden und manchmal auch nach Österreich gerichtet und sehen in diesen Ländern ein mögliches Modell für Osteuropa und sogar die Sowjetunion. Als Ghandi gefragt wurde, was er von der europäischen Zivilisation halte, antwortete er: „Das wäre eine gute Idee“. Leider ist es so, daß solche guten Ideen oft der harten Realität wenig Rechnung tragen. Die Aussichten für eine baldige ‚Schwedisierung‘ Osteuropas stehen nicht besonders gut. Im Gegenteil, es wird einer großen Anstrengung aller bedürfen, einschließlich Westeuropas und sogar der Vereinigten Staaten und Japans, um einige ökonomische (sozialdemokratische) Voraussetzungen für eine politische Sozialdemokratie in Osteuropa zu schaffen oder nur bereits bestehende Grundlagen sichern zu können. Im besten Fall ist es unsicher, ob und in welchem Maße ein westdeutscheuropäischer ‚Marschallplan‘ dabei behilflich sein könnte, eine Sozialdemokratie in Osteuropa aufzubauen.

Die harten Fakten des Lebens machen es für ‚Sozialisten‘ also notwendig, die Idee des ‚Sozialismus‘ neu zu reflektieren, wenn sie weiterhin ihrer ‚sozialistischen‘ Ideologie treu bleiben wollen. Wir sind nicht so anmaßend, vorzugeben, daß wir diese Neubestimmung hier und jetzt leisten können und schon gar nicht auf uns allein gestellt. Realistischerweise müßte aber jeglicher neue Sozialismus nicht nur den (wirtschaftlichen und politischen) Wettbewerb als conditio sine qua non ins Auge fassen, sondern auch die Spielregeln dieses Konkurrenzkampfes neu überdenken. Für Geschlechter, Klassen, Nationen, ethnische Gruppierungen, für religöse, ideologische und alle anderen Interessengruppen sowie die Beziehungen in der Familie und zwischen den Individuen müßten neue Ausdrucksformen innerhalb eines Systems partizipatorischer sozialer Bewegungen gefunden werden; weiters ein institutioneller Schutz sowie die Gewähr für einen gegenseitigen Respekt ihres demokratischen Ausdrucks und für die Möglichkeit einer friedlichen Lösung ihrer Interessenkonflikte. Diese neuen Entwürfe müßten über alles bisher bekannte hinausgehen.

Realistisch gesehen sind die Aussichten für einen so gearteten ‚demokratischen Sozialismus‘ eher düster. Es deutet alles darauf hin, daß die Umstände — bevor eine Bessserung erhofft werden kann — sich noch verschlimmern werden (und werden müssen). Es könnte jedoch — und zwar sehr schnell — dazu kommen, daß sich die Situation dermaßen zuspitzt, daß die Menschheit auf eine allgemeine, ökonomisch-ökologische und/oder militärisch-politische und daher sozio-kulturelle Krise von äußerst alarmierenden Proportionen und der Bedrohung einer Auslöschung allen Lebens zusteuert, sodaß wir schließlich doch dazu bewegt werden könnten, zusammenzurücken.

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Erstveröffentlichung im FORVM:
Mai
1990
, Seite 40
Autor/inn/en:

André Gunder Frank:

Professor für Entwicklungstheorie an der Universität Amsterdam.

Horst Friessner: Übersetzer für wissenschaftliche und literarische Texte aus dem Englischen und Französischen.

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